Für Arnaud Benedetti ist die Gelbwesten-Bewegung in eine quasi revolutionäre Phase getreten. Die Wut, die ihr zugrunde liegt, hat sich in dem Masse verstärkt, wie der Wunsch nach mehr Volkssouveränität zugunsten der Technokratie immer mehr beschnitten wurde.
Die gelbe Sicherheitsweste ist in erster Linie ein Signal. Sie illustriert die Krise des Macronismus, die ihre Ursprünge in einer früheren Welt hat, von der Macron und sein Gefolge der «En marche»-Bewegung nur die Erben sind. Die Geschichte gleicht den russischen Puppen, die ineinander verschachtelt sind. Die Verpackung kündigte das Neue an, während das Vergangene sich zu erneuern versuchte. Eigentlich verteidigte die «En marche»-Bewegung, ohne sich dessen bewusst zu sein, eine alte Vorstellung von Europa: diejenige von Maastricht, einer opportunistischen Verteidigung der Institutionen einer müden Fünften Republik und einer vor allem technokratischen Auffassung von Politik. Auf allen Ebenen wurden die verschiedenen Bereiche der Volkssouveränität zunehmend eingeschränkt. Die damit verbundene Unzufriedenheit manifestiert sich Samstag für Samstag unkontrolliert und tumultuös. Die Gelbwesten-Bewegung [«giletisme»] ist zuerst einmal Ausdruck dieser Situation. Einer Situation, in der ein Bruch beziehungsweise ein Wendepunkt stattfindet – etwas, das eine radikal neue Situation schafft. Wenn Kommentatoren und Beteiligte sich die Zähne ausbeissen beim Versuch, diesen Moment zu erfassen, zu verstehen, was passiert, dann liegt es daran, dass die Situation allen Normen und Regeln zuwiderläuft – und das ist das Merkmal einer Revolution.
Vieles bricht zusammen, verwirrt und verblüfft. Der Ablauf, den wir seit einigen Wochen miterleben, ist solcher Art: Er ist quasi revolutionär, und zwar aus mindestens zwei Gründen: Einerseits, weil er eine spektakuläre und besorgniserregende Infragestellung des «rationalen Rechtsrahmens» zum Ausdruck bringt – um einen Begriff von Max Weber zu verwenden –, in dem wir interagieren. Andererseits, weil er im Gegenzug zu einer Art «neuen» Reaktion führt, die in einer unbändigen Selbstverteidigungsbewegung die direkt betroffenen politischen, intellektuellen, administrativen und wirtschaftlichen Kräfte zusammenschweisst, die alle ihre Positionen retten und schützen wollen. Auf beiden Seiten führt der Weg ins Extreme. Gemäss den bürgerlichen Anstandsregeln sind die Abweichungen, die sich die an der Konfrontation Beteiligten erlauben, das Zeichen für einen offensichtlichen Schaden an der institutionellen Grundlage des Regimes. Einige Demonstranten – jedoch bei weitem nicht alle – zögern nicht, gewalttätige Zusammenstösse mit der Polizei zu provozieren; die Exekutive ihrerseits benutzt eine Sprache und ein Verhalten, die explizit spaltend und autoritär wirken und keineswegs dazu angetan sind, die beunruhigende Stimmung zu besänftigen.
Was wir hier erleben, ist nichts anderes als ein Machtkampf. Aber ein Kampf, der sich ausserhalb des vorgegebenen, einvernehmlich akzeptierten Spielplatzes entwickelt. Die Strasse ist wieder zum Schauplatz eruptiver politischer Gegensätze geworden. Ironie der Geschichte ist: Die «neue Welt» hat sich unerwartet in eine «in die Vergangenheit führende Zeitmaschine» verwandelt, um vormoderne Formen der Politik neu zu erforschen.
Einige Personen glauben in der heutigen Zeit zu unrecht, Anzeichen der 1930er Jahren zu erkennen. Das ist Ausdruck einer Kurzsichtigkeit, die alle Ereignisse unserer Zeit auf das 20. Jahrhundert zurückführt, auf die Zwischenkriegszeit und den Zweiten Weltkrieg! Zweifellos müssen wir jedoch unser Augenmerk auf ein anderes Jahrhundert lenken – nicht auf das vom Totalitarismus geprägte 20. Jahrhundert, sondern auf dasjenige, das sich mit der demokratischen Frage und der Freiheit der Völker befasste, nämlich das 19. Jahrhundert. Wir sind dem Jahr 1848 viel näher als 1934 oder sogar 1968.
Der Ausbruch, der zunächst auf Grund der steuerlichen und sozialen Situation erfolgte, ist de facto ein politischer. Politisch, weil die Initiatoren im Verlauf der Mobilisierung entdeckt haben, dass der einzige Weg, die Debatte über soziale und wirtschaftliche Fragen zu führen, darin besteht, die Auseinandersetzung mit der Demokratiefrage ins Zentrum zu rücken. Diese scheint jedoch blockiert zu sein, auf Grund des Maastrichter-Vertrags, der unter anderem den Bereich der Wirtschaft von jeglicher Infragestellung oder Umkehrbarkeit ausgeschlossen hat. Macron selber ist nur der ultimative Vollstrecker dieser Maastrichter Fixierung auf die Wirtschaft, der sich alles Politische unterordnen muss.
Er ist der verlorene Sohn, der versprochen hat, alles zu meistern – eine Rückkehr zu einer Form der Macht des Politischen. Nach achtzehn Monaten Amtszeit erweckt er aber den Eindruck, wie seine Vorgänger einem Fahrplan zu folgen, der sich in ganz anderen Händen befindet als denjenigen des souveränen Volkes. Beeinflusst von der noch nicht verheilten Wunde der Volksabstimmung von 2005,1 sind die Gelbwesten die erste Volksbewegung, der es gelingt, die von Maastricht bestimmte technokratische Lehre in Frage zu stellen.
Eine zusätzliche Steuer, das Unverständnis der Regierung über den aufsteigenden Missmut, eine Prise Missachtung haben genügt, dass unter unseren Augen eine Situation entstanden ist, deren Beginn zwar erkennbar ist, deren Ende jedoch nicht. Die «nationale Debatte», welche die EU- und die Migrationsfrage völlig ausser acht lässt, zeigt auf, dass die Exekutive keinesfalls die Absicht hat, irgendwelche Konzessionen am Wesen ihrer Weltanschauung zu machen. •
* Arnaud Benedetti ist ausserordentlicher Professor an der Universität Paris-Sorbonne. Er war zuerst Kommunikationsdirektor des «Centre national de la recherche scientifique», dann des «Centre national d’études spatiales» (CNES) und schliesslich des «Institut national de la santé et de la recherche médicale» (Inserm). Sein neuestes Buch heisst «Le coup de com permanent» [Die ständige PR-Aktion] (Editions du Cerf, 2018), in dem er die Kommunikationsstrategien von Emmanuel Macron analysiert.
Quelle: © Arnaud Benedetti/Le Figaro vom 7.1.2019
(Übersetzung Zeit-Fragen)
1 Am 29. Mai 2005 verwarfen die französischen Stimmbürger in einer landesweiten Volksabstimmung den von der EU präsentierten «Verfassungsvertrag für Europa» mit 55 % der Stimmen. Zwei Tage später geschah das gleiche in den Niederlanden. 2007 wurde von der EU den Mitgliedsländern eine leicht veränderte neue Fassung unter dem Namen «Lissaboner Vertrag» vorgelegt. Darauf änderte der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy 2008 mit Unterstützung des Parlaments die Verfassung, um diesen EU-Vertrag drei Tage später – ohne Volksabstimmung – durchzwingen zu können. (Anm. des Übersetzers)
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