«Ich werde Mitglied der Genossenschaft, weil ich es wichtig finde, dass wir Bürgerinnen und Bürger von Tengen unabhängig und gemeinschaftlich unsere Zukunft in unserem Städtchen mitbestimmen und gestalten können.» – Diese Aussage einer Tengener Bürgerin in einem Flyer der Stadt gibt einen Kerngedanken wieder, der unmittelbar mit der Genossenschaftsidee verbunden ist: Genossenschaften können nicht nur vielfältigste Aufgaben im überschaubaren wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Bereich lösen, sie tun dies auch auf eine hervorragend menschenwürdige Art und Weise, nämlich gemeinschaftlich und selbstbestimmt. So auch die neugegründete Genossenschaft für ein Ärztehaus der Stadt Tengen.
Es gibt in Baden-Württemberg 1001 Gemeinden. Davon haben 180 jetzt schon keine ärztliche Versorgung mehr. 30 % der niedergelassenen Ärzte in diesem südwestdeutschen Bundesland sind älter als 60 Jahre. Die «Berentungswelle» läuft. Ein heute praktizierender Hausarzt, der jedoch auch älter wird, müsste drei Stellen besetzen. Es muss dringend Nachwuchs von jungen Ärzten kommen.
Tengen ist eine der 1001 Gemeinden Baden-Württembergs. Sie liegt direkt an der Schweizer Grenze am südlichen Rand des Schwarzwaldes, rund 10 Kilometer vom südlich gelegenen Schaffhausen und ein wenig weiter von der nächsten grösseren deutschen Stadt Singen entfernt. Tengen ist eine Kleinstadt mit 4550 Einwohnern. Und selbstverständlich hat sie die Probleme, die auch viele andere deutsche Gemeinden haben. Jetzt aber war für Tengen die Sicherung der ärztlichen Versorgung vorrangig! Besonders für die Zukunft.
Die Tengener hatten eine Idee, wie das Problem drohender unzureichender ärztlicher Versorgung im Ort gelöst werden könnte: durch die gemeinsame Anstrengung interessierter Bürgerinnen und Bürger, der Gemeindeverwaltung und anderer wichtiger Einrichtungen des Ortes, eine Genossenschaft für den Bau eines Ärztehauses zu gründen. So soll gesichert werden, dass alle Tengener Ärzte im Ort bleiben.
Zur Genossenschaftsgründung trafen sich am 19. Dezember 2018 300 Tengener und interessierte Gäste aus anderen Orten im vollbesetzten Saal der Tengener Randenhalle. Bürgermeister Marian Schreier und der Tengener Arzt Dr. Andreas Luckner stellten das neue Projekt vor: Das Finanzierungsvolumen für einen Neubau für ein Ärztehaus beträgt 1,9 Millionen Euro. Zunächst hatte sich die Gemeinde verschiedene Fragen gestellt: Suchen wir einen privaten Investor? Soll die Gemeinde die Investitionskosten übernehmen? Oder gründen die Stadt und ihre Bürger eine Genossenschaft? – Damit könnten alle Bürger der Stadt beteiligt werden. Bei ihren Überlegungen half ihnen das Konzept des Genossenschaftsbegründers Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Nun sollen von den 1,9 Millionen Euro 40 % aus Eigenkapital gedeckt werden, das sind 760 000 Euro. 200 000 davon gibt es als öffentliche Fördergelder, also bleibt für die Genossenschaft die Aufgabe, 560 000 Euro zusammen zu bekommen. Und wenn 1 Anteilsschein einen Wert von 500 Euro hat, sind 1120 solcher Anteilsscheine zu vergeben.
Der Gemeinderat war sich sehr schnell einig, eine solche Genossenschaft zu gründen. Jedes Mitglied erhält 1 Stimme, gleichgültig, wieviel Anteile es hat. Die Stadt Tengen wird voraussichtlich 320 Anteile zeichnen (mehr Anteile sind für einen einzelnen Genossenschaftler nicht möglich). Die Mehrheit der Genossenschaftler entscheidet dann über weitere Prozesse. Es gibt keine Nachschusspflicht über die Anteile der Genossenschaftler hinaus! Selbstverständlich sollen alle Formalien, zum Beispiel das Gründungsgutachten, vom Genossenschaftsverband geprüft werden.
Schon vor dem Treffen hatten sich viele Personen entschieden und 200 Anteile gekauft. Die Referenten betonten zum Schluss ihres Referates, warum die Bürger mitmachen sollten: Die zukünftige Sicherung der ärztlichen Versorgung im Ort kann gesichert werden – ohne ortsfremden Investor. Alles bleibt vor Ort. Die Genossenschaft engagiert sich langfristig. Und der grösste Reiz bei der Sache ist: Alle können mitmachen. Schön, wie es in der «Absichtserklärung zur Beteiligung an der Genossenschaft Ärztehaus Stadt Tengen» heisst: Jeder Unterzeichner erklärt: «Ziel und Zweck der Genossenschaft ist die Sicherstellung sowie die Förderung der ärztlichen Versorgung mittels Bau und Vermietung eines Ärztehauses sowie die Förderung des sozialen Zusammenhalts in der Stadt Tengen.» (Hervorhebung durch Verfasser)
Nach den einführenden Reden gab es nicht nur viel Beifall, sondern es wurden auch viele Fragen gestellt, zum Beispiel: Kann der Anteil vererbt werden? Kann ein Genossenschafter auch wieder austreten? Ist der Kauf eines Anteils vom Alter abhängig?
Die Stimmung im Saal war grossartig. Ich habe gehört, dass die Bürger froh sind, endlich einmal direkt mitmachen zu können, ohne von jemandem abhängig zu sein.
Der Ansturm auf die «Absichtserklärungen zur Beteiligung an der Genossenschaft Ärztehaus Stadt Tengen» sowie auf den vorbereiteten Flyer mit allen Angaben und Hinweisen war gross. Auch der Autor dieses Berichtes war begeistert von der guten Stimmung im Saal und der grossen Bereitschaft der Bürger, sich zu beteiligen. Und hat sich gedacht: Tengen – das könnte doch überall in Deutschland sein. •
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