«Für eine Medizin und Pflege der Zuwendung»

Effizienzdenken gefährdet Grundlage der Pflege

von Prof. Dr. med. Giovanni Maio

sv.Eine kleine Gruppe aktiver Pensionierter aus der Pflege hat es sich zum Anliegen gemacht, aktuelle Probleme im Gesundheitswesen aufzugreifen. Mit ihrer ersten grossen Tagung in St. Gallen im Juni 2019 wollte sie Mitarbeiter aus dem Gesundheits- und Sozialbereich sowie alle weiteren Interessierten für die Problematik der Ökonomisierung sensibilisieren und gemeinsam mit ihnen Lösungswege andiskutieren. Immer stärker geforderte Effizienz und Wirtschaftlichkeit führen in Spitälern, Kliniken und Heimen zu Arbeitsdruck, Personal- und dem damit verbundenen Zeitmangel sowie einer zunehmenden Bürokratisierung. Dadurch bekommen Gespräche, Beziehungspflege und Zuwendung einen immer geringeren Stellenwert.
Die Veranstaltung zeigte deutlich, dass viele Menschen die Berufe der Medizin und Pflege mit Hingabe ausüben, dass die zunehmende, alles durchdringende Ökonomisierung aber an den Grundfesten dieser Berufe rüttelt. Darauf wies neben vielen anderen Referentinnen und Referenten auch Professor Giovanni Maio hin, Internist und Inhaber des Lehrstuhls für Medizinethik in Freiburg im Breisgau. Wir drucken im folgenden einen Artikel aus der Verbandszeitschrift der Schweizer Pflegefachpersonen «Krankenpflege» ab, der seine an der Tagung vorgetragenen Reflektionen und seine grosse Wertschätzung der Pflegeberufe darlegt.

Elemente der Ethik der Sorge

Das Ziel der Pflege ist nicht in erster Linie Heilung, sondern die Integrität. Das macht sie einzigartig. Unter dem Druck von Effizienzdenken und Rationalität läuft die Pflege jedoch Gefahr, die Grundlage ihrer Identität zu verlieren: die Sorge um versehrte Menschen, die sich nur aus der Beziehung verwirklichen lässt.
Die Pflege gehört zu den Urmanifestationen der Hilfe und Unterstützung. Sie ist aus einer Gesellschaft nicht wegzudenken, weil sie die Antwort auf ein Urbedürfnis des Menschen darstellt. Schon daraus wird deutlich, dass die Pflege nicht einfach eine Hilfsdisziplin der Medizin darstellt, sondern eine eigenständige Disziplin mit einer ureigenen Aufgabe, eigener Zielsetzung, eigener Methodik, eigenem Wert ist. Daher muss die Pflege ihre Identität mit Rückgrat und Selbstbewusstsein verteidigen, und zwar gegen alle – auch und vor allem bürokratischen – Versuche ihrer Überformung. Die ­Pflege hat ein Ziel, das kein anderer Beruf in dieser Form hat; ihr Ziel ist nicht die Heilung, sondern die Integrität. Pflege ist ein integritätsstiftender Beruf; ihr geht es darum, das Versehrte auf eine neue Ganzheit hin auszurichten, eine Ganzheit eigener Art, die nicht mit Heilung zu verwechseln ist. Denn nicht nur, aber gerade dort, wo keine Heilung möglich ist, setzt sich Pflege ein, um innerhalb des Krank- oder Gebrechlich-Seins das Gefühl von Heil-Sein zu ermöglichen, das Gefühl von Ganzheit, das Gefühl, nicht nur versehrt zu sein. Pflege arbeitet daran, dem anderen ein Gefühl von Integrität zurückzugeben, und das geht nur, indem sie das Ziel vor Augen hat, Integrität in einem umfassenden Sinn herzustellen, nämlich als Ausdruck der Balance von körperlichem und seelischem Wohlbefinden. Letzten Endes zielt Pflege auf nichts anderes ab als auf die Ermöglichung einer körperlichen Geborgenheit des gesamten Menschen (Maio 2017).
Pflege möchte den im Krank-Sein oft als fremd empfundenen Körper wieder zum vertrauten Körper machen; sie ist ein Beruf des Vertraut-Machens mit einem Körper, der sich den bisher gemachten Erfahrungen mit ihm entzieht. Pflege hat damit zu tun, dem Menschen dabei zu helfen, sich mit seinem Versehrt-Sein anzufreunden, um den eigenen Körper auch in seiner versehrten und oft entstellten und manchmal dysfunktionalen Form als Teil seiner selbst wahrzunehmen und als Teil einer Aufgabe, für die es sich zu engagieren lohnt. 

«Daher geht es in der Pflege nicht allein um die Verrichtung, um die Applikation, um das Machen, sondern es kommt vor allem darauf an, in eine vertrauensvolle Beziehung zu investieren. Eine gute Pflege ist in einem wesentlichen Sinne als Resultat einer ­gelingenden Interaktion zu verstehen, die unabdingbar auf personale Zuwendung angewiesen ist. So kann es bei der Pflege hilfsbedürftiger Menschen nicht um das Anbieten einer unpersönlichen Dienstleistung gehen. Pflege ist auf einen Dialog angewiesen, der sowohl mit Worten als auch mit Gesten und taktvollen Berührungen geführt werden kann».

Unersetzliche Pflege

Das Ziel der Pflege hat kein anderer Beruf, und das macht sie zu einer Disziplin mit eigenem Wert und vor allem mit eigener Unersetzlichkeit, wie es für kaum einen anderen Beruf gilt. Unersetzlich, weil ohne diese Hilfe jeder versehrte Mensch verzagen und sich selbst möglicherweise aufgeben würde. Pflege ist daher von Grund auf ein bejahender Beruf. Er nimmt die Versehrtheit an, um die immer noch erhalten gebliebenen gesunden Anteile zu fördern und dem Menschen vor Augen zu führen, dass er auch mit seinem kranken Körper etwas anfangen kann – und somit trotz der Hilfsbedürftigkeit der Pflege nicht ausgeliefert ist, sondern in den kleinsten Facetten mitwirken kann in einem auch noch so versehrten Leben.
Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Pflege unweigerlich darauf angewiesen, bei all ihren Verrichtungen mit dem Patienten oder Bewohner in Beziehung zu treten. Daher geht es in der Pflege nicht allein um die Verrichtung, um die Applikation, um das Machen, sondern es kommt vor allem darauf an, in eine vertrauensvolle Beziehung zu investieren. Eine gute Pflege ist in einem wesentlichen Sinne als Resultat einer ­gelingenden Interaktion zu verstehen, die unabdingbar auf personale Zuwendung angewiesen ist. So kann es bei der Pflege hilfsbedürftiger Menschen nicht um das Anbieten einer unpersönlichen Dienstleistung gehen. Pflege ist auf einen Dialog angewiesen, der sowohl mit Worten als auch mit Gesten und taktvollen Berührungen geführt werden kann. Die Bedeutsamkeit dieses Dialoges im Sinne einer personalen Zuwendung können wir nur begreifen, wenn wir die Pflege verstehen als eine Praxis der Sorge um den anderen.

«Innerhalb einer bürokratischen Logik wird die Wirklichkeit soweit wie möglich simplifiziert. Dabei werden die Heilberufe dazu angehalten, nicht nur ihre Arbeit, sondern auch die Situation des Patienten auf ein für die Dokumentationsmaske geeignetes Schlagwort zu reduzieren. Die Lebenswelt wird in lineare Erklärungsmodelle überführt, und alles, was sich dieser Linearisierung widersetzt, wird homogenisiert. Die Situation des kranken Menschen lässt sich aber nicht in linearen Modellen erfassen. Sie lässt sich nicht in Schlagworten festzurren, sondern sie verlangt ein tiefergehendes Verstehen, ein Ganzheitsverstehen.»

Acht Elemente einer Ethik der Sorge in der Pflege

Kein anderer Begriff ist in ethischer Hinsicht so eng mit der Pflege verknüpft wie der Begriff der Sorge. Dabei meint «Sorge» – ähnlich wie das englische «care» – das aktive Engagement für das Wohlergehen von hilfsbedürftigen Menschen (Conradi 2001). Die Identität der Pflege ist allen modernen Sprachgebrauchs (Dienstleistung, Produktivität, Effizienz) zum Trotz unweigerlich mit dem Begriff der Sorge verknüpft. Die Orientierung am Prinzip der Sorge äussert sich in bestimmten Haltungen und Verhaltensweisen, denn versteht man Pflege als eine Praxis der Sorge, so ergibt sich unweigerlich die Frage nach den Bestimmungen, die diese Sorge­rationalität leiten.

1. Anerkennung der Angewiesenheit

Ausgangspunkt der Ethik der Sorge ist die Anerkennung der grundsätzlichen Angewiesenheit eines jeden Menschen. Es geht der Sorgeethik darum, die Souveränität eines jeden einzelnen stets im Blick zu behalten, aber die Augen nicht davor zu verschliessen, dass sich diese Souveränität nicht von alleine einstellt, sondern ermöglicht werden muss. Dies aus dem einfachen Grund, dass der Mensch immer auf Unterstützung angewiesen bleibt, ganz gleich, ob er diese Angewiesenheit bewusst verarbeitet oder ob sie unbewusst bleibt. Das Besondere der Ethik der Sorge setzt dort ein, wo sie die Angewiesenheit des Menschen von ihrer negativen Konnotation befreit: Hilfsbedürftigkeit wird nicht als Unvollkommenheit betrachtet, sondern als Normalität.

2. Bedeutung der Beziehung

Bestimmend für eine Ethik der Sorge ist die Betrachtung des Menschen als ein grundlegend auf Beziehungen zu anderen Menschen ausgerichtetes Wesen. Auf diese Weise wird die Beziehung für die Ethik der Sorge zu einem Wahrnehmungsfenster ethischer Probleme. So wird verständlich, weshalb die Ethik der Sorge auf die Unverzichtbarkeit menschlicher Verbundenheit zur Lösung ethischer Probleme verweist. ­Damit verbunden ist die Hochschätzung anderer beziehungsstabilisierender Tugenden wie Nachsicht, Verzeihen, Hingabe und Vertrauen. Die Ethik der Sorge impliziert somit eine Aufwertung der affektiven Verbindung und den Primat interaktiver Handlungen zur Lösung ethischer Konflikte.
Gerade für die Pflegenden stellt die Fokussierung auf die ­Beziehung immer eine Gratwanderung dar, da sie sich davor bewahren müssen, sich durch ein allzu starkes emotionales Engagement selbst auszubeuten. Auch wenn sich hier die Grenzen einer Überanstrengung des Lösungspotentials der Beziehung abzeichnen, so gehört die Betonung der moralischen Dimension von Beziehungen und die Hochschätzung beziehungsstabilisierender Tugenden mit gutem Grund zu den unverzichtbaren Kernmerkmalen einer Ethik der Sorge.

3. Situationsorientiertheit

Die Ethik der Sorge leitet ihr Handeln nicht von einer abstrakten Regel ab und geht von hier zur Praxis über, sondern sie nimmt die Praxis zum Ausgangspunkt. Sie nimmt die Unmittelbarkeit und Unverwechselbarkeit der jeweiligen Situation als Auftrag wahr, sich für genau das Handeln zu entscheiden, das in dieser Situation am angemessensten erscheint. Es geht bei der Sorge-Ethik um eine aus der Situation heraus zu generierende passende Antwort, da der Konkretheit einer Situation durch reine Regelanwendung nicht adäquat begegnet werden kann. An die Stelle verallgemeinerbarer strikter Regeln treten Singularität und Partikularität. Die Kernaufgabe der Sorge liegt im Grunde darin, die Besonderheit des anderen zu erkennen und zu bewahren (Ricoeur 2005).
Die hierfür notwendige Leistung ist die situative Kreativität. Zentrales Moment ist somit das Bewusstsein für die Situativität des eigenen Handelns und die Sensibilität für die Notwendigkeit einer offenen Begegnungshaltung und einer damit verbundenen Bereitschaft, sich in doppelter Hinsicht ansprechen zu lassen. Zusammenfassend kann man diesen Aspekt der Situationsbestimmtheit in drei Elemente aufteilen: (1) Betonung der Unmittelbarkeit und Würdigung der unmittelbaren Wahrnehmung, (2) Anerkennung der Unverwechselbarkeit der Situation und (3) Notwendigkeit einer kreativen und nicht bloss regelgeleiteten Orientierung.

Prof. Dr. med. Giovanni Maio hat Philosophie und Medizin studiert und sich nach langjähriger internistisch-klinischer Tätigkeit und anschliessender Assistentenzeit an medizintheoretischen Instituten im Fachgebiet Ethik in der Medizin (Juli 2000) habilitiert. 2002 wurde er durch die deutsche Bundesregierung in die Zentrale Ethik-Kommission für Stammzellenforschung berufen, 2004 folgte ein Ruf an die Uni Bochum auf die C4-Professur für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin, 2004 ein Ruf auf die C4-Professur für Geschichte und Ethik der Medizin der RWTH Aachen, 2005 ein Ruf auf das Ordinariat für Biomedizinische Ethik der Universität Zürich, 2005 ein Ruf auf die Universitätsprofessur für Bioethik/Medizinethik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (angenommen). Er ist Direktoriumsmitglied des Interdisziplinären Ethik-Zentrums Freiburg, Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, Mitglied des Ausschusses für ethische und juristische Grundsatzfragen der Bundesärztekammer.
In seinen Publikationen seit 1998 setzt sich Giovanni Maio für eine menschliche Medizin ein. 2018 ist sein Buch «Werte für die Medizin. Warum die Heilberufe ihre eigene Identität verteidigen müssen» erschienen (München: Kösel). Die zweite Auflage seines Medizinethik-Lehrbuches «Mittelpunkt Mensch. Lehrbuch der Ethik in der Medizin» (2017) enthält eine Einführung in die Ethik der Pflege und zwölf ganz neue Kapitel zu Themen wie Gesundheitsbegriff, Krankheitsbegriff, Diskursethik, Care-Ethik, Hermeneutische Ethik, Menschenwürde, Ethik der Pflege, Neuroethik u. a. (Stuttgart: Schattauer).

4. Gekonnter Umgang mit Unbestimmtheit

Sofern die Ethik der Sorge die konkrete Situation zum Ausgangspunkt nimmt, wird auch ein ganz anderer Anspruch an das Resultat des ethischen Urteils gestellt. Geht man von einer deduktiven Ethik aus, wird Anspruch auf Exaktheit und Eindeutigkeit erhoben: Ist es erlaubt oder nicht? Gefordert oder nicht? Richtig oder falsch? Im Rahmen einer Ethik der Sorge stehen solche Fragen nicht im Vordergrund. Statt dessen ist mit der Sorge­ethik unweigerlich eine Art Ambiguitäts­toleranz verknüpft, eine Bereitschaft, auch die Uneindeutigkeit stehenzulassen. Ambivalenz ist für die Sorgerationalität kein Zustand, der mit allen Mitteln aufgehoben werden muss.
Die der Sorge korrespondierende Kompetenz liesse sich daher als eine Könnerschaft im Umgang mit Uneindeutigkeit beschreiben. Es gibt nicht die eine Lösung, sondern ein Spektrum an Lösungen; es gibt nicht das Richtige, sondern das jeweils Passende, und es gibt auch keine objektive Lösung, mit der sich ein universalistischer Anspruch verbindet. Die Situation des Patienten und die damit verbundenen Herausforderungen sind mehrdeutig und facettenreich. Sie erfordern gerade nicht binäre Entscheidungen, wie oft suggeriert wird, sondern sie verlangen das Ernst-Nehmen von Nuancen und Schattierungen. Es geht letzten Endes um das Aushalten der Mehrdeutigkeit, weil nur so ein vertieftes Verständnis für den Patienten und seine Situation möglich wird. So spielt für die Ethik der Sorge gerade die Fähigkeit zur Bewältigung von Vielschichtigkeit eine konstitutive Rolle.

«Die Aufgabe der Pflege muss ­darin bestehen, Menschen zu stärken, sie zu begleiten, sie anzuerkennen, sie zu fördern in ihren eigenen Kompetenzen und Ressourcen. Es geht nicht um die strategische Lösung eines Problems, sondern um die zwischenmenschliche Stütze auf dem Weg zur Mobilisierung der eigenen Potentiale, und seien sie noch so klein, so rudimentär, so eingegrenzt. Diese den Patienten zurückzugeben, ist die eigentliche Aufgabe der Pflege.»

5. Responsivität

Das Besondere der Ethik der Sorge liegt darin, dass sie sich nicht primär über die Initiative definiert, sondern vielmehr darüber, dass sie reagiert und eine Antwort gibt auf die Aufforderung des auf Hilfe angewiesenen Menschen. Die Sorge um den anderen ist primär responsiv orientiert. Es ist der andere, der sozusagen die Sorge ruft. Somit fordert eine Ethik der ­Sorge auf zum Hinhören. Sie ist unweigerlich mit der Haltung und dem Gestus der Hinwendung verknüpft. Die dazugehörige Grundhaltung ist die der ­Aufnahmebereitschaft, des rezeptiven Eingehens, der tiefen Aufmerksamkeit.
Gleichzeitig ist die Ethik der Sorge mit dem Impuls zur Veränderung, mit dem Impuls zur Verwirklichung von Sorge verknüpft, die sich mit der Vergegenwärtigung der bedrängten Lage des anderen aufdrängt. Gerade dieses responsiven Charakters wegen ist die Ethik der Sorge nicht kompatibel mit dem schematischen Abarbeiten eines vorgegebenen Plans. Nicht über das Abhaken einer Checkliste verwirklicht sich die Sorge, sondern über das Anliegen, eine unmittelbare und passende Antwort auf die Befindlichkeit des Patienten zu finden, auf seine Gemütslage, auf seine Bedürfnisse im Hier und Jetzt. Emmanuel Lévinas hat die Fürsorge in dieser Hinsicht als ein «In-Anspruch-genommen-Werden» durch den anderen bezeichnet.

6. Bedeutung des emotionalen Wissens

Die tragende Rolle der Beziehung, die Forderung nach einer adäquaten Wahrnehmung der Situation sowie der Vorrang kreativer Lösungsstrategien machen implizite Wissensformen wie Erfahrungswissen, Situationswissen und Beziehungswissen notwendig. Diese Formen des Wissens kann man nicht auswendig lernen, sondern man muss sie einüben.
Sorge kann nur verwirklicht werden, indem alle Sinne eingesetzt werden; was zu tun ist, kann man nur wissen, wenn man nicht nur die Daten anschaut, die Diagnose kennt und die Patientenakte studiert, sondern wenn man ans Bett tritt und den Patienten in seiner jetzigen Verfasstheit mit allen Sinnen wahrnimmt. Es geht bei der Verwirklichung der Sorge darum, die gesamte atmosphärische Stimmung aufzunehmen; nur so lässt sich dem Patienten das Gefühl vermitteln, als Subjekt geschätzt zu werden. Daher ist ein zentraler ­Modus der Sorge das assoziative Gespür, das Gespür dafür, was gerade wichtig und angesagt ist. Zu diesem Gespür kann man nur fähig werden, wenn man sich traut, den rein verobjektivierenden Zugang zum Patienten zu überwinden und ihn anzureichern um zusätzliche Wahrnehmungsformen. Eine Ethik der Sorge misst dem Gespür und diesen impliziten ­Wissensformen einen eigenen Wert zu. Insofern ist die Ethik der Sorge besonders fortschrittlich, weil sie den Wissensgehalt der Gefühle ernst nimmt und insofern ein implizites Plädoyer für die Aufwertung des emotionalen Wissens darstellt.
Damit steht die Pflege vor der Herausforderung, dieses ­emotionale Wissen nicht in einen Kontrast zum kognitiven Wissen zu stellen, sondern anzuerkennen, dass beide ­Wissensformen in eine gesunde Balance zu bringen sind: Das emotionale Wissen wird als schöpferischer Faktor aufgewertet, aber das kognitive Wissen bleibt im Sinne eines ständigen Überprüfungsmodus auf gleiche Weise präsent. Eine Ethik der Sorge kann erst wirklich fruchten, wenn sie durch emotionales Wissen kreative Vorgehensweisen ermöglicht, ohne dabei von der Verpflichtung befreit zu sein, diese Lösungsstrategien mit transparenten und nachvollziehbaren Argumenten nach aussen zu begründen.

7. Grundhaltung des Sich-Herantastens

Vor dem Hintergrund, dass eine Ethik der Sorge den Fokus auf die Wahrnehmung von Komplexität legt, wird auch die Reaktion auf das sorgeethisch zu behandelnde Problem nach anderen Kriterien bewertet, als es in einem auf Funktionalität und Effizienz ausgerichteten Denken geschieht. Es zählt nicht das schnelle, selbstsichere Agieren, sondern das tentative Herantasten und Rücksichtnehmen.
Vor diesem Hintergrund muss die Pflege als eine Disziplin des behutsamen Herantastens und der feinen Balance betrachtet werden. Das Finden der Balance ergibt sich aus der direkten Wahrnehmung des Patienten. Die Könnerschaft in der Pflege liegt in der Kunst des richtigen Abstimmens, und deswegen gehören zu den unverzichtbaren Grunddispositionen der Feinsinn, die Umsicht und das Taktgefühl. Man denkt, in einer hochmodernen Welt könne alles formalisiert werden, aber im pflegerischen Umgang mit dem Patienten geht es nicht nur um die Einhaltung einer formalen Vorgabe, sondern es geht immer zugleich um das Wie. Pflegerisch zu arbeiten ist immer ein Arbeiten in der Unmittelbarkeit und kein abstraktes Abarbeiten eines vorgegebenen Schemas.

8. Ganzheitsverstehen

Innerhalb einer bürokratischen Logik wird die Wirklichkeit soweit wie möglich simplifiziert. Dabei werden die Heilberufe dazu angehalten, nicht nur ihre Arbeit, sondern auch die Situation des Patienten auf ein für die Dokumentationsmaske geeignetes Schlagwort zu reduzieren. Die Lebenswelt wird in lineare Erklärungsmodelle überführt, und alles, was sich dieser Linearisierung widersetzt, wird homogenisiert. Die Situation des kranken Menschen lässt sich aber nicht in linearen Modellen erfassen. Sie lässt sich nicht in Schlagworten festzurren, sondern sie verlangt ein tiefergehendes Verstehen, ein Ganzheitsverstehen. Es geht immer um das Erfassen des gesamten Problemzusammenhangs. Dafür ist integratives Denken notwendig, ein Denken, das die Vielfalt der Aspekte zusammenführen kann. Anzustreben ist daher ein multiperspektivisches Sehen von Ganzheiten, weil man nur so das Gesamtempfinden des Patienten erfassen kann. Eine Ethik der Sorge macht ein solches Sehen und Verstehen notwendig, und so besteht die Rationalität der Sorge am Ende in einem Denken in Komplexität, weil sie von ihrem Anliegen her unweigerlich auf ein Ganzheitsverstehen ausgerichtet ist.

«Deswegen wird die Verwirklichung einer Ethik der Sorge nur gelingen, wenn im gesamten System anerkannt wird, dass Sorge Zeit und Zuwendung braucht […]. Wenn der Pflege dies ermöglicht wird, dann wird nicht nur dem pflegebedürftigen Menschen gedient, sondern der Pflege selbst, weil sie sich nur auf dem Boden einer gelebten Ethik der Sorge identifizieren kann mit ihrem Tun und weil sie auf dieser Grundlage reich beschenkt wird durch die Ermöglichung von Zwischenmenschlichkeit.»

Schlussfolgerung: Pflege als Praxis der Sorge und Zuwendung

Nimmt man die erarbeiteten Punkte zusammen, so lässt sich schlussfolgernd festhalten: Die Aufgabe der Pflege muss ­darin bestehen, Menschen zu stärken, sie zu begleiten, sie anzuerkennen, sie zu fördern in ihren eigenen Kompetenzen und Ressourcen. Es geht nicht um die strategische Lösung eines Problems, sondern um die zwischenmenschliche Stütze auf dem Weg zur Mobilisierung der eigenen Potentiale, und seien sie noch so klein, so rudimentär, so eingegrenzt. Diese den Patienten zurückzugeben, ist die eigentliche Aufgabe der Pflege. Und das gelingt nur durch eine stille Rationalität, eine Rationalität, die man nicht dokumentieren kann, die man nicht festschreiben kann auf Algorithmen. Es gibt keinen Ablaufplan zur Stärkung der Ressourcen, sondern das gelingt nur durch Beziehungsarbeit, durch Sorge. Es ist eine Sorgerationalität, die hier zur Geltung kommt, und diese Art der Rationalität ist eben nicht restlos formalisierbar, weil sie nicht primär zweckrational ist, sondern eine hermeneutische ­Rationalität. Sie hat primär mit Verstehen zu tun und nicht primär mit strategischem Funktionsdenken.
Deswegen wird die Verwirklichung einer Ethik der Sorge nur gelingen, wenn im gesamten System anerkannt wird, dass Sorge Zeit und Zuwendung braucht und dass der Kerngehalt der Sorge nicht gemessen, sondern am Ende nur erlebbar gemacht werden kann – an der heilsamen Atmosphäre, die entsteht, wenn die Pflege nicht auf die Körperpflege reduziert wird, sondern wenn ihr ermöglicht wird, Körperpflege auf dem Boden einer täglich zu erneuernden Beziehungspflege zu verwirklichen. Wenn der Pflege dies ermöglicht wird, dann wird nicht nur dem pflegebedürftigen Menschen gedient, sondern der Pflege selbst, weil sie sich nur auf dem Boden einer gelebten Ethik der Sorge identifizieren kann mit ihrem Tun und weil sie auf dieser Grundlage reich beschenkt wird durch die Ermöglichung von Zwischenmenschlichkeit.     •

Literatur
Conradi, Elisabeth. Take Care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit. Frankfurt 2001
Maio, Giovanni. Mittelpunkt Mensch. Lehrbuch der Ethik in der Medizin. Mit einer Einführung in die Ethik der Pflege. Stuttgart 2017
Ricoeur, Paul. Das Selbst als ein Anderer. Paderborn 2005

Quelle: Erstveröffentlichung in Krankenpflege 04/2019. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. 

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