Memorandum zur Geldpolitik der EZB

Als ehemalige Zentralbanker und als europäische Bürger erleben wir den anhaltenden Krisenmodus der EZB mit wachsender Sorge. Die EZB hat eine äusserst akkommodierende [entgegenkommende] Politik für jahrelanges Wirtschaftswachstum und Preisstabilität verfolgt. Obwohl die jüngst erfolgte Verlangsamung der Wirtschaftstätigkeit von der EZB selbst als vorübergehend angesehen wird, hat diese Verlangsamung der Wirtschaftsfähigkeit zusammen mit Risiken durch Brexit und Handelskrieg die EZB veranlasst, die Nettoanlagekäufe wieder aufzunehmen und den bereits negativen Einlagensatz weiter zu senken. Darüber hinaus hat sich die EZB schon seit geraumer Zeit verpflichtet, diesen extrem expansiven Weg fortzusetzen.
Unsere Bedenken beziehen sich insbesondere auf die folgenden Aspekte der Geldpolitik.

  • Im Oktober 1998 kündigte der EZB-Rat seine Definition von Preisstabilität an als einen durchschnittlichen jährlichen Anstieg des Preisniveaus im Euro-Raum um weniger als 2 %. Der Rat hat diese Definition bei der Bewertung seiner geldpolitischen Strategie im Jahr 2003 überhaupt nicht geändert. In den letzten Jahren hat die EZB die ursprüngliche Definition von Preisstabilität de facto geändert, indem sie eine Inflationsrate von beispielsweise 1,5 % als inakzeptabel ansah. Seit Jahren verfehlt die EZB ihr selbst gestecktes Ziel, die Inflationsrate im Euro-Raum auf ein Niveau unter, aber nahe 2 % anzuheben, was nach Ansicht der EZB ein «Punktziel» zu sein scheint. 2014 begründete die EZB ihre extrem lockere Politik im wesentlichen mit der Gefahr einer Deflation. Allerdings bestand nie die Gefahr einer Deflationsspirale, und während einer gewissen Zeit hat die EZB selbst diese Bedrohung immer geringer eingeschätzt. Dies schwächt ihre Logik, eine höhere Inflationsrate anzustreben. Die Geldpolitik der EZB basiert daher auf einer falschen Diagnose. Das häufig verwendete Argument, dass die EZB mit niedrigen Inflationsraten ihr Mandat verletzen würde, ist einfach unzutreffend. Im Vertrag von Maastricht ist dieses Mandat verankert, und diesem gemäss ist das vorrangige Ziel der EZB die Wahrung der Preisstabilität.
  • Die aktuellen Überlegungen zur Definition des Schwellenwerts von 2 % als eines symmetrischen Inflationszieles stellen eine klare Abkehr von einer auf Preisstabilität ausgerichteten Politik dar. Dies gilt insbesondere dann, wenn «Symmetrie» in dem Sinne verstanden wird, dass nach jahrelanger Unterschreitung der 2-Prozent-Marke ein ähnlicher Zeitraum aufgewendet werden sollte, in dem ein Überschreiten der 2-Prozent-Inflationsrate erlaubt sein soll. Und nebenbei bemerkt: Wie will die EZB nach Jahren erfolgloser «Inflationspolitik» die Öffentlichkeit und die Märkte davon überzeugen, dass es ihr gelingen wird, die Inflation rechtzeitig auf einem bestimmten Niveau zu stoppen?
  • Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass nach Jahren der quantitativen Lockerung weitere Wertpapierkäufe der EZB kaum positive Auswirkungen auf das Wachstum haben werden. Dies macht es schwierig, die geld­politische Logik einer Wiederaufnahme des Kaufs von Nettoaktiven zu verstehen. Der Verdacht, dass hinter dieser Massnahme die Absicht steht, hochverschuldete Regierungen vor einem Anstieg der Zinsen zu schützen, wird hingegen immer besser begründet. Aus wirtschaftlicher Sicht hat die EZB bereits das Gebiet der monetären Finanzierung von Staatsausgaben betreten, was der Vertrag aber strengstens verbietet.
  • Negative Nebenwirkungen von sehr niedrigen oder negativen Notenbankzinsen waren schon länger ein Thema. Inzwischen dominieren diese Effekte, wie in der Theorie des Umkehrzinssatzes betont wird: Der beabsichtigte Effekt sehr niedriger Zinssätze kehrt sich um und wird kontraktionär.1 Die negativen Auswirkungen des extrem niedrigen Zinsumfelds reichen vom Bankensystem über Versicherungen und Pensionsfonds bis hin zum gesamten Finanzsektor. Die Umverteilungseffekte zugunsten der Eigentümer von Sachwerten führen zu erheblichen sozialen Spannungen. Die jungen Generationen sehen sich der Möglichkeit beraubt, durch sichere zinstragende Anlagen für ihr Alter zu sorgen. Die Suche nach Renditen treibt den Preis von Vermögenswerten künstlich auf ein Niveau hoch, das letztlich zu einer abrupten Marktkorrektur oder sogar in eine tiefe Krise zu führen droht.
  • Umfangreiche Kredite zu extrem niedrigen Zinssätzen halten schwache Banken und – indirekt über Kreditvergabe – schwache Unternehmen liquide, d. h. über Wasser. Dies geschieht insbesondere durch gezielte längerfristige Refinanzierungsgeschäfte (TLTROs)2, die 2018 deutlich zugenommen haben. Zu den signifikanten negativen Folgen sehr niedriger oder negativer Zinssätze gehört auch eine «Zombifizierung» der Wirtschaft, die nach OECD- und BIS-Studien in einigen Ländern bereits ein erhebliches Niveau erreicht hat und zu einem schwächeren Produktivitätswachstum beiträgt.
  • Mit der Ausweitung und weiteren Stärkung ihrer Forward Guidance, d. h. ihrer Zukunftsprognose3, baut die EZB dezidiert eine Verpflichtung zu einer extrem lockeren Geldpolitik für die Zukunft auf und behindert damit den Ausstieg aus dieser Politik wesentlich.

Vor einem Jahrzehnt leistete die Geld­politik der EZB einen wesentlichen Beitrag zur Überwindung der schweren Rezession und anschliessend zur Konsolidierung des Wachstums. Je länger die EZB allerdings ihren äusserst expansiven Kurs beibehält, desto mehr überwiegen die negativen Auswirkungen. Die Zinssätze haben ihre Steuerungsfunktion verloren, und die Risiken für die Finanzstabilität sind gestiegen. Je länger die Politik extrem niedriger oder negativer Zinsen und das Überschwemmen der Märkte mit Liquidität andauern, desto grösser ist das Potential für einen Rückschlag. Sollte eine schwere Krise ausbrechen, wird sie ganz andere Dimensionen haben als die, die wir bisher gesehen haben. So wie anderen Zentralbanken droht auch der EZB das Ende ihrer Kontrolle über die Geldschöpfung. Diese Entwicklungen bergen ein hohes Risiko für die Unabhängigkeit von Zentralbanken – de jure oder de facto.

Unterzeichnet von:

-    Herve Hannoun, ehemaliger erster stellvertretender Gouverneur der Bank von Frankreich
-    Otmar Issing, ehemaliges Mitglied des Direktoriums der EZB
-    Klaus Liebscher, ehemaliger Gouverneur der Österreichischen Nationalbank
-    Helmut Schlesinger, ehemaliger Präsident der Deutschen Bundesbank
-    Jürgen Stark, ehemaliges Mitglied des Direktoriums der EZB
-    Nout Wellink, ehemaliger Gouverneur der niederländischen Zentralbank.
Jacques de Larosiere, ein ehemaliger Gouverneur der Bank von Frankreich, teilte das Urteil.

Quelle: Bloomberg News vom 4. Oktober

(Übersetzung Zeit-Fragen)

Anmerkungen der Übersetzer:
1    Kontraktive Geldpolitik umfasst alle Mass­nahmen, welche – im Gegensatz zur quantitativen Lockerung – die Menge des umlaufenden Geldes verringern. Damit können Banken weniger Kredite vergeben, die Zinsen steigen, die Nachfrage nach Krediten geht zurück, was auch zu einem Rückgang bei Investitionen und Produktion führt. So soll die Inflation eingedämmt werden. Als Gefahr gilt das Entstehen von Liquiditätsengpässen, die den Bankensektor destabilisieren können.
2    Die EZB definiert TLTROs folgendermassen: Die Targeted Longer-Term Refinancing Operations (TLTROs) sind Operationen des Euro-Systems, welche Kreditinstitutionen mit Finanzierung versorgen. Indem Banken langfristige Finanzierungen zu attraktiven Konditionen geboten werden, werden vorteilhafte Darlehenskonditionen für Banken erhalten und die Kreditvergabe der Banken an die Realwirtschaft gefördert. (www.ecb.europa.eu/mopo/implement/omo/tltro/html/index.en.html)
3    Forward Guidance der EZB: Klare Kommunikation der EZB über ihre künftige geld­politischen Absichten (vgl. www.ecb.europa.eu/explainers/tell-me/html/what-is-forward_guidance.de.html)

Uneinigkeit im EZB-Rat

mw. Der EZB-Rat ist das oberste Beschlussorgan der Europäischen Zentralbank. Er umfasst die sechs Mitglieder des Direktoriums und die Präsidenten der nationalen Zentralbanken der 19 Mitgliedsstaaten des Euro-Raums. In diesem Gremium wurde Mitte September einmal mehr die Fortführung der Geldpolitik der quantitativen Lockerung, der Negativzinsen und der Offenlegung der Absichten der EZB bis weit in die Zukunft beschlossen. Mehrere Mitglieder des Rates waren mit der Weiterführung dieser Geldpolitik, deren Wirksamkeit nicht erwiesen sei, deren negative Nebenwirkungen (Benachteiligung der Sparer, insbesondere der Pensionskassen) aber beträchtlich seien, nicht einverstanden. Dies ist an sich nichts Neues. Ungewöhnlich ist aber, dass die Vertreter Deutschlands, Österreichs, der Niederlande sowie Frankreichs mit ihrer abweichenden Meinung an die Öffentlichkeit traten. Da die aktuellen Mitglieder des EZB-Rates Schweigepflicht haben, verfassten sechs ehemalige Mitglieder des Rates aus den betreffenden Staaten das hier abgedruckte Memorandum.

Quelle: Finanz und Wirtschaft, 19.10.2019

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