Als ehemalige Zentralbanker und als europäische Bürger erleben wir den anhaltenden Krisenmodus der EZB mit wachsender Sorge. Die EZB hat eine äusserst akkommodierende [entgegenkommende] Politik für jahrelanges Wirtschaftswachstum und Preisstabilität verfolgt. Obwohl die jüngst erfolgte Verlangsamung der Wirtschaftstätigkeit von der EZB selbst als vorübergehend angesehen wird, hat diese Verlangsamung der Wirtschaftsfähigkeit zusammen mit Risiken durch Brexit und Handelskrieg die EZB veranlasst, die Nettoanlagekäufe wieder aufzunehmen und den bereits negativen Einlagensatz weiter zu senken. Darüber hinaus hat sich die EZB schon seit geraumer Zeit verpflichtet, diesen extrem expansiven Weg fortzusetzen.
Unsere Bedenken beziehen sich insbesondere auf die folgenden Aspekte der Geldpolitik.
Vor einem Jahrzehnt leistete die Geldpolitik der EZB einen wesentlichen Beitrag zur Überwindung der schweren Rezession und anschliessend zur Konsolidierung des Wachstums. Je länger die EZB allerdings ihren äusserst expansiven Kurs beibehält, desto mehr überwiegen die negativen Auswirkungen. Die Zinssätze haben ihre Steuerungsfunktion verloren, und die Risiken für die Finanzstabilität sind gestiegen. Je länger die Politik extrem niedriger oder negativer Zinsen und das Überschwemmen der Märkte mit Liquidität andauern, desto grösser ist das Potential für einen Rückschlag. Sollte eine schwere Krise ausbrechen, wird sie ganz andere Dimensionen haben als die, die wir bisher gesehen haben. So wie anderen Zentralbanken droht auch der EZB das Ende ihrer Kontrolle über die Geldschöpfung. Diese Entwicklungen bergen ein hohes Risiko für die Unabhängigkeit von Zentralbanken – de jure oder de facto.
Unterzeichnet von:
- Herve Hannoun, ehemaliger erster stellvertretender Gouverneur der Bank von Frankreich
- Otmar Issing, ehemaliges Mitglied des Direktoriums der EZB
- Klaus Liebscher, ehemaliger Gouverneur der Österreichischen Nationalbank
- Helmut Schlesinger, ehemaliger Präsident der Deutschen Bundesbank
- Jürgen Stark, ehemaliges Mitglied des Direktoriums der EZB
- Nout Wellink, ehemaliger Gouverneur der niederländischen Zentralbank.
Jacques de Larosiere, ein ehemaliger Gouverneur der Bank von Frankreich, teilte das Urteil.
Quelle: Bloomberg News vom 4. Oktober
(Übersetzung Zeit-Fragen)
Anmerkungen der Übersetzer:
1 Kontraktive Geldpolitik umfasst alle Massnahmen, welche – im Gegensatz zur quantitativen Lockerung – die Menge des umlaufenden Geldes verringern. Damit können Banken weniger Kredite vergeben, die Zinsen steigen, die Nachfrage nach Krediten geht zurück, was auch zu einem Rückgang bei Investitionen und Produktion führt. So soll die Inflation eingedämmt werden. Als Gefahr gilt das Entstehen von Liquiditätsengpässen, die den Bankensektor destabilisieren können.
2 Die EZB definiert TLTROs folgendermassen: Die Targeted Longer-Term Refinancing Operations (TLTROs) sind Operationen des Euro-Systems, welche Kreditinstitutionen mit Finanzierung versorgen. Indem Banken langfristige Finanzierungen zu attraktiven Konditionen geboten werden, werden vorteilhafte Darlehenskonditionen für Banken erhalten und die Kreditvergabe der Banken an die Realwirtschaft gefördert. (www.ecb.europa.eu/mopo/implement/omo/tltro/html/index.en.html)
3 Forward Guidance der EZB: Klare Kommunikation der EZB über ihre künftige geldpolitischen Absichten (vgl. www.ecb.europa.eu/explainers/tell-me/html/what-is-forward_guidance.de.html)
mw. Der EZB-Rat ist das oberste Beschlussorgan der Europäischen Zentralbank. Er umfasst die sechs Mitglieder des Direktoriums und die Präsidenten der nationalen Zentralbanken der 19 Mitgliedsstaaten des Euro-Raums. In diesem Gremium wurde Mitte September einmal mehr die Fortführung der Geldpolitik der quantitativen Lockerung, der Negativzinsen und der Offenlegung der Absichten der EZB bis weit in die Zukunft beschlossen. Mehrere Mitglieder des Rates waren mit der Weiterführung dieser Geldpolitik, deren Wirksamkeit nicht erwiesen sei, deren negative Nebenwirkungen (Benachteiligung der Sparer, insbesondere der Pensionskassen) aber beträchtlich seien, nicht einverstanden. Dies ist an sich nichts Neues. Ungewöhnlich ist aber, dass die Vertreter Deutschlands, Österreichs, der Niederlande sowie Frankreichs mit ihrer abweichenden Meinung an die Öffentlichkeit traten. Da die aktuellen Mitglieder des EZB-Rates Schweigepflicht haben, verfassten sechs ehemalige Mitglieder des Rates aus den betreffenden Staaten das hier abgedruckte Memorandum.
Quelle: Finanz und Wirtschaft, 19.10.2019
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