Nachdenken anlässlich 70 Jahre Genfer Konventionen

von Erika Vögeli

Im zu Ende gehenden Jahr jährte sich zum 70. Mal die Unterzeichnung der wichtigsten Dokumente des Humanitären Völkerrechts oder Kriegsvölkerrechtes, wie es auch genannt wird, der vier Genfer Konventionen von 1949.
Angesichts der zahlreichen bewaffneten Konflikte auf unserer Welt mochte das niemand zum Anlass nehmen, gross zu feiern, wohl aber dazu, sich auf die Bedeutung dieser Abkommen und die darin enthaltene Aufgabe für uns alle als Menschen und Mitmenschen zu besinnen. Obwohl sie bis heute immer wieder verletzt werden, stellen diese Abkommen zusammen mit den übrigen Vereinbarungen des Humanitären Völkerrechtes und der eng damit verbundenen Tätigkeit des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) und der nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften Meilensteine in der Menschheitsgeschichte dar. In einer Welt, die von Gewalt und kriegerischen Auseinandersetzungen förmlich strotzt, haben Menschen immer wieder Mittel und Wege gesucht, um den Raum der Menschlichkeit auch im Krieg nicht gänzlich aufzugeben, der Gewalt und dem rechtslosen Zustand und menschlichem Leiden Grenzen zu setzen.

Universelle Werte ethischen Verhaltens

Derzeit haben 196 Staaten diese Abkommen unterzeichnet; sie gehören damit, wie der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Peter Maurer, bemerkte, «zu den sehr wenigen internationalen Verträgen, die universell ratifiziert worden sind, nicht zuletzt weil sie – mehr als blosses Recht – universelle Werte ethischen Verhaltens reflektieren».1 Humanitäres Völkerrecht fordert, den Wehrlosen nicht einfach seinem Schicksal zu überlassen, es verlangt die Beschränkung des Mächtigen, den Einhalt der Gewalt, wo das Recht der Selbstverteidigung angesichts des Schutzlosen keine Berechtigung mehr hat, die menschliche  Behandlung all jener, die nicht oder nicht mehr an Kampfhandlungen teilnehmen. Es ist das Recht des Schwachen angesichts organisiert entfesselter Gewalt. Obwohl immer wieder und oft aufs Gröbste verletzt: Viel öfter, aber weniger spektakulär, wird es auch eingehalten und hat Millionen von Menschen das Leben gerettet, viel unnötiges Leid verhindert und die immer dramatischen Folgen kriegerischer Auseinandersetzungen zumindest etwas gemildert.

Das Humanitäre Völkerrecht

ev. Das Humanitäre Völkerrecht (HVR) begrenzt die Auswirkungen von bewaffneten Konflikten auf Menschen und Objekte. Zunächst auf kriegerische Auseinandersetzungen zwischen zwei oder mehreren Staaten angelegt, gelten sie mit dem Zusatzprotokoll II von 1977 auch für nicht-internationale Konflikte.
Alle Personen, die nicht an Feindseligkeiten teilnehmen (Zivilpersonen), und alle, die nicht mehr daran teilnehmen – dazu gehören Verwundete, Kriegsgefangene, Internierte, Schiffbrüchige sowie Sanitäts- und Seelsorgepersonal –, haben Anrecht auf Schutz. Sie dürfen nicht angegriffen werden und müssen jederzeit ohne Diskriminierung und mit Menschlichkeit behandelt werden. Verwundete und Kranke müssen geborgen und gepflegt werden, Kriegsgefangene und Menschen, denen die Freiheit entzogen wurde, müssen menschlich behandelt werden. Verboten sind Mord, Folter, Geiselnahme, Beeinträchtigung der persönlichen Würde und Verurteilungen ohne Urteil eines ordnungsgemässen Gerichtes.

Die Schweiz als Depositarstaat

Als Depositarstaat obliegt der Schweiz die Aufgabe, die Orginaldokumente des Vertrages aufzubewahren, ebenso die Ratifikations- und Beitrittserklärungen und andere Erklärungen der Vertragsparteien aufzubewahren, solche Erklärungen den übrigen Parteien bekanntzugeben und sicherzustellen, dass alle Rechtsakte, die mit dem Vertrag zusammenhängen, ordnungsgemäss durchgeführt werden. Der Depositar ist bei der Erfüllung all dieser Aufgaben zur Neutralität verpflichtet.

Humanitäres Völkerrecht und Rotes Kreuz

Die Entwicklung des Humanitären Völkerrechtes ist eng mit dem Roten Kreuz verbunden: Schon die erste Genfer Konvention von 1864 entstand auf Betreiben von Henry Dunant und den weiteren Mitgliedern des Internationalen Komitees der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege, wie es damals noch hiess, um die Freiwilligen, die sich in den Hilfsgesellschaften um die Opfer von Krieg und Gewalt kümmerten, durch rechtliche Anbindung der Staaten zu schützen. Mit der ersten Konvention wurde auch das rote Kreuz auf weissem Grund zum unantastbaren Schutzzeichen erklärt, dessen Respektierung durch die bedingungslose Einhaltung der sieben Rotkreuz-Grundsätze (siehe Kasten), insbesondere seiner Neutralität und Unparteilichkeit, garantiert wird. Als die Schrecken des Zweiten Weltkrieges die Notwendigkeit einer Erweiterung der humanitären Konventionen und deren endliche Ausweitung auch auf den Schutz der Zivilbevölkerung dringend machten, veranlasste wiederum das Internationale Komitee die Ausarbeitung entsprechender Anpassungen und den Entwurf der vier Konventionen, die dann 1949 von den Vertretern der Staaten angenommen wurden. Dass die dazu vom Schweizer Bundesrat auf den 21. April 1949 nach Genf einberufene diplomatische Konferenz zur Beratung der Vertragsentwürfe schon am 12. August, also knappe vier Monate später, erfolgreich abgeschlossen werden konnte, zeugt von der Bereitschaft und dem Willen, durch verbindliche Verpflichtungen in einer umfassenden Gesetzgebung zum Rechtsschutz insbesondere der Zivilbevölkerung, aber auch der Kriegsgefangenen und Internierten, der Verwundeten und Verletzten sowie Schiffbrüchigen beizutragen.

Die Absage des menschlichen Gewissens an den Krieg

Die Abkommen verpflichten die Staaten aber auch ausdrücklich, nicht nur bei ihren Streitkräften, sondern in der ganzen Bevölkerung das Wissen um das Bewusstsein von der Bedeutung des Humanitären Völkerrechts und seiner Konventionen zu fördern und zu verbreiten. 70 Jahre Genfer Konventionen sollten daher vor allem Anlass sein, vertieft über die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens nachzudenken. Das Humanitäre Völkerrecht und die Tatsache seiner universellen Anerkennung über alle Kulturen, Religionen und Gesellschaften hinweg sind die Absage des menschlichen Gewissens an den Krieg, dieser schwersten Verirrung in der menschlichen Geschichte. Kriege sind keine Naturnotwendigkeit, sie sind nicht in der menschlichen Natur begründet. Kriege werden gemacht, und es bedarf jedesmal gewaltiger Propaganda, unzähliger Lügen und grober Irreführung, um Menschen von der angeblichen Unausweichlichkeit einer Angriffshandlung, zumeist allerdings als «notwendige Abwehr» deklariert, halbwegs zu überzeugen oder sie wenigstens zum Schweigen zu bringen. Die jüngste Geschichte liefert genügend Beispiele.

Wozu leben wir?

Nachdenken über unser Zusammenleben heisst immer auch Nachdenken darüber, was der Mensch eigentlich ist, was seinem Wesen, seiner Natur eigentlich entspräche. Der einzelne Mensch ist ein schwaches Wesen – was uns auszeichnet, ist all das, was uns als soziale Wesen erst eigentlich zum Menschen macht. Von der Entwicklung des Einzelnen bis zur Schaffung unserer kulturellen Leistungen wäre nichts möglich ohne das soziale Band von Mensch zu Mensch, ohne Austausch, gegenseitige Hilfe und Kooperation. Krieg dagegen ist Zerstörung, Zerstörung von Leben, Familien, menschlichen Hoffnungen, Zukunftsperspektiven, menschlichen Gemeinschaften und Kulturgut, er hinterlässt körperliche und seelische Verletzungen, zerbrochene Gemeinschaften, den Keim für Ressentiments und weitere Spiralen der Gewalt.

Und obwohl all das Menschen tun – um der Macht, des Profits und anderer niederer Motive willen –, verabscheuen es die allermeisten Menschen. Sie wünschen sich, ihr Leben in Frieden mit ihren Familien, ihren Freunden und Verwandten leben zu können und ein Auskommen zu haben, das ihren Kindern eine Zukunft ermöglicht. Aufbauen, das Leben und seine Bedingungen verbessern, den nächsten Generationen erleichtern, zum Gemeinwohl beitragen, das Zusammenleben bereichern und dabei selbst zum Menschen werden – das ist vielleicht der tiefste Sinn menschlichen Lebens.

Die 7 Rotkreuz-Grundsätze

Menschlichkeit: «Die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung, entstanden aus dem Willen, den Verwundeten der Schlachtfelder unterschiedslos Hilfe zu leisten, bemüht sich in ihrer internationalen und nationalen Tätigkeit, menschliches Leiden überall und jederzeit zu verhüten und zu lindern. Sie ist bestrebt, Leben und Gesundheit zu schützen und der Würde des Menschen Achtung zu verschaffen. Sie fördert gegenseitiges Verständnis, Freundschaft, Zusammenarbeit und einen dauerhaften Frieden unter allen Völkern.»
Unparteilichkeit: «Die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung unterscheidet nicht nach Nationalität, Rasse, Religion, sozialer Stellung oder politischer Überzeugung. Sie ist einzig bemüht, den Menschen nach dem Mass ihrer Not zu helfen und dabei den dringendsten Fällen den Vorrang zu geben.»
Neutralität: «Um sich das Vertrauen aller zu bewahren, enthält sich die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung der Teilnahme an Feindseligkeiten wie auch, zu jeder Zeit, an politischen, rassischen, religiösen oder ideologischen Auseinandersetzungen.»
Unabhängigkeit: «Die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung ist unabhängig. Wenn auch die nationalen Gesellschaften den Behörden bei ihrer humanitären Tätigkeit als Hilfsgesellschaften zur Seite stehen und den jeweiligen Landesgesetzen unterworfen sind, müssen sie dennoch eine Eigenständigkeit bewahren, die ihnen gestattet, jederzeit nach den Grundsätzen der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung zu handeln.»
Freiwilligkeit: «Die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung verkörpert freiwillige und uneigennützige Hilfe ohne jedes Gewinnstreben.»
Einheit: «In jedem Land kann es nur eine einzige nationale Rotkreuz- oder Rothalbmondgesellschaft geben. Sie muss allen offen stehen und ihre humanitäre Tätigkeit im ganzen Gebiet ausüben.»
Universalität: «Die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung ist weltumfassend. In ihr haben alle nationalen Gesellschaften gleiche Rechte und die Pflicht, einander zu helfen.»
Quelle: www.redcross.ch/de

Weiterentwicklung des Humanitären Völkerrechts

Um diesen Raum menschlicher Gemeinschaft, der Menschwerdung und menschlichen Entwicklung zu schützen, das menschliche Miteinander im Sinne der Friedenserhaltung und der Kooperation zu ordnen, haben wir das Recht entwickelt. Und dazu hat uns die Natur «mit Vernunft und Gewissen begabt», wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heisst. Vernunft ermöglicht uns Einsicht in die inneren und äusseren Zusammenhänge unseres Daseins, unseres Zusammenlebens, sie sagt uns vor allem, dass Krieg heute keine Option mehr ist. Unser Gewissen ruft uns aber auch die Verpflichtung unserem Mitmenschen gegenüber in Erinnerung, der wie ich ein Mensch ist, gleich an Würde und Rechten geboren. Und solange es noch kriegerische Auseinandersetzungen gibt, solange braucht es die Weiterentwicklung und Arbeit im Dienst des Humanitären Völkerrechtes, das mitten im Krieg die Stimme des Friedens und der Menschlichkeit nicht verstummen lassen will. Angesichts einer sich ständig verändernden Welt mit neuen Akteuren, neuen Waffentechnologien, neuen Formen der Kriegsführung wie des Cyberwar, angesichts der Instrumentalisierung und Kommerzialisierung humanitärer Hilfe, der Privatisierung der Kriegsführung und vielen weiteren Veränderungen ist die Entwicklung des Humanitären Völkerrechts eine grosse Herausforderung.

Den Geist von Solferino wachhalten

Recht muss natürlich in allen Lebensbereichen immer wieder an weitere Entwicklungen angepasst werden. Eine wirksame Umsetzung, seine Aufrechterhaltung und erst recht die breitere Verankerung erfordern aber auch eine Grundlage, eine Entsprechung im menschlichen Fühlen und Denken. Auch das humanitäre Völkerrecht. Es war der «Geist von Solferino»2, mit dem Henry Dunant zahlreiche Menschen seiner Zeit zutiefst in ihrem mitmenschlichen Empfinden ansprach, aus dem das Rote Kreuz, die erste Genfer Konvention und schliesslich auch die weltweite Bewegung der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften entstanden. Was dieser Geist anspricht, ist die eigentliche Grundlage unseres Zusammenlebens: das mitmenschliche Band, ohne das kein Mensch zum Menschen werden kann. In diesem Band gründet auch die Vernunft, die uns sagt, dass ein friedliches Zusammenleben auf Dauer nicht auf Gewalt, sondern nur auf Achtung der Würde und des Rechtes auch des anderen beruhen kann. Und kein Recht lässt sich auf Dauer durchsetzen, das nicht von einer Mehrheit der davon betroffenen Menschen grundsätzlich bejaht, als richtig und gerecht und damit als vernünftig empfunden wird. Das mitmenschliche Gefühl, das die «Erinnerung an Solferino» anspricht und aus dem eine tiefe innere Ablehnung des Krieges erwächst, ist Ursprung und Geist, der die Entwicklung des Humanitären Völkerrechtes hervorbrachte. Diesen Geist wachzuhalten, in jeder neuen Generation neu zu legen, ist eine Aufgabe, die jedem von uns erwächst. Auch wenn die Bildung eines sittlichen Gewissens zum Kern menschlichen Zusammenlebens gehört, entsteht es nicht von selbst, sondern wird in jeder Generation durch Erziehung und Bildung neu gelegt und entwickelt. Das Umsichgreifen des Werterelativismus, dem alle moralischen und ethischen Grundsätze als veraltet gelten, hat den Blick dafür verstellt, dass Moral, ethisches Verhalten, menschliches Gewissen zum  Kern menschlicher Existenz gehören. Menschliches Zusammenleben ohne Moral, das «anything goes» ist kein menschlicher Zustand, sondern die Diktatur des Faustrechts – ob in Form von Krieg, realer Gewalt oder von Manipulation und «smart power».

Nicht nur rechtmässig, sondern auch gerecht und richtig

Jeder von uns, der 70 Jahre Genfer Konventionen zum Anlass nimmt, über diese Zusammenhänge nachzudenken und den Geist des Humanitären Völkerrechtes überall in unserem Umfeld, vor allem in Erziehung und Bildung der nächsten Generationen zu wecken und zu vertiefen, leistet an seinem Platz einen Beitrag zur Verbreitung des Geistes der Genfer Konventionen, wie Peter Maurer in seiner Ansprache vom März forderte:
«Erinnern wir uns, dass der Geist der Konventionen – die Menschenwürde auch inmitten des Krieges zu wahren – jetzt und damals genauso wichtig ist. Denken wir immer daran, dass die Konventionen Gesetz sind – aber irgendwie über das Gesetz hinausgehen –, denn was sie verlangen, ist nicht nur rechtmässig, sondern auch gerecht und richtig. Lasst uns alle unser Bestes tun, um sicherzustellen, dass sich dieser Geist durchsetzt.»3    •

1    Changing World, Unchanged Protection? 70 Years of Geneva Conventions. Rede des IKRK-Präsidenten Peter Maurer  vom 13. März anlässlich der Eröffnung der Feierlichkeiten zu 70 Jahren Genfer Konventionen am Graduate Institute in Genf.
2    Dunant, Henry. Eine Erinnerung an Solferino. Basel 1863 (Das französische Original erschien 1862 in Genf.)
3    Changing World, Unchanged Protection? 70 Years of Geneva Conventions. Rede des IKRK-Präsidenten Peter Maurer  vom 13. März anlässlich der Eröffnung der Feierlichkeiten zu 70 Jahren Genfer Konventionen am Graduate Institute in Genf.

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