Am 22. Dezember 2019 ist fast drei Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Amtsinhaber Aschraf Ghani zum Sieger erklärt worden. Ghani habe bei der Wahl am 28. September 50,64 % der Stimmen errungen, teilte die Unabhängige Wahlkommission als vorläufiges Ergebnis mit. Demnach hätte Ghani die nötige absolute Mehrheit für einen Sieg in der ersten Wahlrunde. Sein chancenreichster Konkurrent, Regierungschef Abdullah Abdullah, kam den Angaben zufolge auf 39,52 %. Er hatte bereits im Vorfeld angekündigt, die Resultate nicht anzuerkennen.
Die sogenannte Unabhängige Wahlkommission in Afghanistan hatte am 30. Dezember 2018 die für April 2019 geplante Präsidentschaftswahl um drei Monate verschoben. Sie setzte den Sonntag, 20. Juli 2019, als neuen Termin für die Abstimmung an, wie der Chef der Wahlkommission, Abdul Badi Sajjad, vor Journalisten in Kabul verkündete. Danach sollte erst am 28. September 2019 ein neuer Präsident gewählt werden. Da die Amtszeit des amtierenden Präsidenten Ashraf Ghani längst abgelaufen war, arbeitete er ohne gültiges Mandat. Weil sich die Bevölkerung zu Recht von den Wahlen nichts erhoffte, war es ihr einerlei, ob sie stattfinden oder nicht und ob ein Warlord oder eine US-Marionette künftig im Präsidentenpalast sitzt. Zum einen werden die USA bestimmen, wer zum nächsten afghanischen Präsidenten ernannt wird, zum anderen hätte er ohnehin nichts zu sagen. So könnte man die allgemeine Stimmung beschreiben. Diese fatalistische Einstellung der Bürger ist unter anderem der Nährboden für die landesweit erfolgreichen Operationen der Taliban. Sie werden von der Bevölkerung geduldet beziehungsweise geschützt oder sind gar erwünscht. Die Menschen haben die Nase voll von den korrupten Apparatschicks in Staat, Verwaltung, Justiz, Militär und Polizei, die allesamt von Warlords und ihrer Entourage sowie von den Ameriko- und Euro-Afghanen buchstäblich annektiert worden sind.
Am 28. September 2019 liess man dann endlich wählen. Insgesamt standen Namen von 18 Kandidaten auf dem Stimmzettel.l Darunter waren Warlords und Kriegsverbrecher wie Gulbuddin Hektmayar, Ahmad Zia Masud und der Ameriko-Afghane Ashraf Ghani aufgelistet. Vier Kandidaten hatten ihre Bewerbung zurückgezogen zu Gunsten der erfolgreicheren. Im Prinzip haben sie sich verkauft, weil ihnen von den aussichtsreichen Kandidaten Ghani und Abdullah Abdullah Posten versprochen wurden. So war es bei allen vorangegangenen Wahlen seit 2004.
2019 waren 13,5 Millionen Menschen wahlberechtigt. Davon haben sich 9,6 Millionen registrieren lassen, jedoch nur 2 Millionen haben ihre Stimme abgegeben. Das sind gerade 16,6 % der Wahlberechtigten. Durch die neuen Überprüfungen hat die Wahlkommission die Zahl der abgegebenen Stimmen auf 1,9 Millionen nach unten korrigiert.1 Nur 19 % der registrierten Wähler, also «weniger als fünf Prozent der Bevölkerung», sind an die Urne gegangen.2
Der künftige Präsident am Hindukusch ist damit nicht legitimiert. Ein vorläufiges Wahlergebnis sollte am 19. Oktober bekanntgegeben werden. Beobachter vor Ort sind der Meinung, dass man noch mehr Zeit gewinnen wollte, um – wie in der Vergangenheit – weiter zu fälschen. In der Nacht vom 20. zum 21. Oktober «hatten Mitglieder einer Spezialeinheit der Polizei Zutritt zum Gebäude des Datenzentrums der Wahlkommission erhalten».3 Hier soll es sich um eine versuchte Wahlmanipulation für Ashraf Ghani gehandelt haben. Zu dessen Gunsten sind Wahlfälschungen aus 16 Bezirken gemeldet worden. So zum Beispiel in Kabul 130 000, in Paltya und Paktika 150 000, in Kandahar 50 000, in Logar 60 000, in Khost 70 000, in Kapisa 5 000, in Nangrahar 100 000, in Laghman 3 000, in Kunar 20 000, in Helmand 8 000, in Nuristan 120 000, in Sabul 10 000, in Distrikten von Herat 50 000, in Ghurband 10 000, in Kunduz 2 000 Stimmen.4 In Afghanistan sei der Trend in den letzten Jahren negativ gewesen, wie der ehemalige afghanische Aussenminister Rangin Dadfar Spanta im Deutschlandfunk diplomatisch formulierte. Auch bei den jetzigen Präsidentschaftswahlen erwarte er «massenhaft organisierte Fälschungen»5 zu Gunsten von Ashraf Ghani. So überrascht es nicht, dass die Favoriten Ghani und Abdulla selbst schon vor den Wahlen von Wahlfälschung sprachen.
Der Chef des berüchtigten und gefürchteten Geheimdienstes unter Hamed Karzai, ein Folterknecht und derzeitiger Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten von Ashraf Ghani, Amrullah Saleh, hatte Mitte Oktober mit seinen engsten Mitarbeitern, Asadullah Khaled und Hamdullah Muheb, die amtierende Vorsitzende der Unabhängigen Wahlkommission, Hawa Nuristani, in ihrem privaten Haus besucht. Sie wurde unter Druck gesetzt, damit sie die Wahlergebnisse zu Gunsten von Ashraf Ghani manipuliert. Dieser Vorgang hat in den afghanischen sozialen Medien einen Sturm der Entrüstung ausgelöst.
Darüber hinaus wurden 5 3006, also mehr als ein Drittel der Wahllokale nicht einmal geöffnet, weil der Staat angeblich nicht für die Sicherheit garantieren konnte, obwohl mehr als 100 000 Soldaten, Polizisten und Geheimdienstmitarbeiter im Einsatz waren und weitere 20 000 bis 30 000 in Reserve standen.7 Beobachter vor Ort sind der Meinung, dass in jenen Bezirken Wahllokale geschlossen blieben, wo Abdullah, also der Konkurrent des amtierenden Präsidenten Ghani, mehr Stimmen hätte bekommen können.
«Die Präsidentschaftswahlen in Afghanistan am Samstag [28. September] sind krachend gescheitert.»8 Dennoch erklärten sich die aussichtreichsten Kandidaten Ghani und Abdullah unmittelbar nach den Wahlen zu Siegern. Obwohl die endgültigen Wahlergebnisse noch nicht bekanntgegeben worden waren, trat Amrullah Saleh auf, als ob er bereits zum Vizepräsidenten gewählt worden sei.
Allein Ghanis Wahlkampf hat 180 Millionen US-Dollar gekostet. Wer hat das bezahlt, woher hat er so viel Geld, während Millionen Afghanen in Elend vegetieren, fragen sich viele in den sozialen Medien.
Ursprünglich war vorgesehen, am 27. Oktober die vorläufigen Wahlergebnisse bekanntzugeben. Dies wurde jedoch auf den 14. November verschoben. Der Sprecher der Unabhängigen Wahlkommission verkündete dann, dass die endgültigen Ergebnisse erst am 6. Dezember veröffentlicht würden.
Der US-Diplomat Zalmai Khalilzad ist Ende Oktober in Kabul eingetroffen und hat mit Abdullah Abdullah, Ex-Präsident Hamed Karsai und weiteren Warlords wie Mohammad Atta Noor, Mohammad Junos Qanuni, Schiiten-Führer Mohammad Mohaqeq und dem ehemaligen Sicherheitsberater von Ashraf Ghani, Mohammad Hanif Atmar, Gespräche geführt. Beobachter vermuten, dass dabei über den künftigen Wahlsieger und die Postenverteilung verhandelt wurde.
Wie sieht eigentlich die Bilanz der Amtszeiten des ehemaligen Weltbankmanagers Ghani aus? Bekanntlich hat er ausserhalb Kabuls fast nichts zu sagen, geschweige denn eine etwaige Kontrolle über das Land. Die Warlords schalten und walten nach eigenem Gutdünken. Bei der Analphabetenrate steht Afghanistan weltweit an zweithöchster Stelle. Das Land wird als am ungeeignetsten für ausländische Investitionen angesehen. Bei der Korruption fungiert Afghanistan an stolzer 172. Stelle von 180 Ländern. Bei der Drogenproduktion, mangelnder Sicherheit für Frauen und Journalisten ist das Land weltweit die Nummer 1. Über 72 % der Frauen haben psychische Probleme. Etwa drei Millionen Menschen sind drogenabhängig, darunter auch Kinder. Nach Syrien verlassen die meisten jungen Afghanen überwiegend aus der Mittelschicht ihre Heimat. Damit verliert Afghanistan die Kräfte, die für den Wiederaufbau unverzichtbar sind. Etwa 75 % der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Trotz Milliarden Hilfsgeldern ist Afghanistan mit über einer Milliarde Dollar verschuldet.
Die Taliban bewegen sich am Hindukusch wie Fische im Wasser. Hier liegt ihre Stärke. Ob sie uns gefallen oder nicht, sie sind die einzige bewaffnete organisierte Kraft, die gegen die Besatzer gnadenlos kämpft und mit ihrem Leben bezahlt. Ohne sie angemessen am politischen Geschehen zu beteiligen, wird es keinen Frieden geben. Sie kontrollieren etwa 60 % des Landes und sind in der Lage, jeder Zeit beliebige militärische Operationen durchzuführen, sogar in der Sicherheitszone in Kabul, wo wichtige staatliche Organe, Diplomaten, internationale Organisationen, westliche Geheimdienste und die Nato ihren Sitz haben. In den Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden, schufen sie längst staatsähnliche Strukturen, die besser funktionieren als die Kabuler Administration.
Nach Angaben der UN-Mission in Afghanistan (UNAMA) stieg in den ersten neun Monaten 2017 die Zahl der durch US-Luftangriffe getöteten Zivilisten im Vergleich zu 2016 um 52 %.9 Die Zahl der verletzten und getöteten Zivilisten erhöhte sich im dritten Quartal 2018 um 42 %. Mit fast 1200 Getöteten und mehr als 3100 Verletzten wurde die höchste Zahl ziviler Opfer innerhalb eines Vierteljahres seit Beginn der Aufzeichnung durch die Uno im Jahre 2009 registriert.10
Die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung ist völlig desillusioniert und hat keine Hoffnung mehr, dass der künftige Präsident an ihrer Lage etwas zum Positiven verändern könnte. Daher warten sie nicht so gespannt auf die endgültigen Wahlergebnisse wie die internationale Öffentlichkeit. Sie sagen offen, uns ist es völlig egal, wer sich nächster afghanischer Präsident nennen darf. •
* Dr. phil. Matin Baraki, 1947 in Afghanistan geboren, hat dort als Lehrer gearbeitet, bevor er nach Deutschland kam. Heute ist er Sachverständiger für Afghanistan und entwicklungspolitischer Gutachter und Mitglied des Zentrums für Konfliktforschung sowie Lehrbeauftragter für Internationale Politik an der Philipps-Universität Marburg
1 Meier, Christian. Beschädigte Wahlen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.11.2019, S. 8
2 Reuter, Christoph u.a. Ein Friedhof für alle, in: Der Spiegel, Nr. 49 vom 30.11.2019, S. 87
3 ebd.
4 Dies meldete Facebook auf Unabhängige Kongresse der Jugend Afghanistans am 16.10.2019
5 Holl, Norbert. Das Experiment ist gescheitert: Interview in: Deutschlandfunk vom 28.09.2019
6 vgl. Krüger, Paul-Anton: Abstimmung mit vollem Risiko, in: Süddeutsche Zeitung vom 28./29.9.2019, S. 10
7 vgl. Krüger, Paul-Anton: Geringe Wahlbeteiligung, in: Süddeutsche Zeitung vom 30.9.2019, S. 7; Tote und Verletzte bei Präsidentschaftswahl, in: Spiegel Online vom 28.09.2019
8 Corriere della Sera, Mailand vom 30.9.2019
9 vgl. Immer mehr US-Bomben auf Afghanistan, dpa vom 21.1.2017
10 vgl. Afghanistan: Immer mehr zivile Opfer, in: dpa vom 17.10.2019
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