«Grenzen – räumliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf»

«Grenzen – räumliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf»

Rezension einer historischen Analyse eines zeitlosen Phänomens

von Dr. Manfred Strankmann

Der Verlag Promedia liefert zur derzeitigen europäischen Situation ein ausgezeichnetes Sachbuch von Andrea Komlosy* über Grenzen in globaler Perspektive. Die Wiener Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte schreibt dagegen an, Grenzen einseitig als Wunsch- oder Feindbild zu stilisieren. Sie zeigt die Entwicklung von Grenzen und deren wechselhaften Gebrauch im Laufe der Geschichte auf und lotet damit sowohl das Herrschafts- als auch das Schutz- und Befreiungspotential von Grenzen aus. Die Auseinandersetzung mit Grenzen ist für Andrea Komlosy nicht nur Thema, sondern auch Methode: «Methode beim Erkennen von Ungleichheit, ihrer Durchsetzung und Verschleierung, und Methode beim Entwickeln und Umsetzen sozialer Gerechtigkeit» (S. 10). In diesem Sinne formuliert sie als Resümee: «Eine zentrale Aufgabe besteht darin, Fremdbestimmung durch Grenze durch Selbstbestimmung der Grenze zu ersetzen» (S. 10). Mit dem Buch «Grenzen» hat Andrea Komlosy eine sehr lesenswerte historische Analyse eines zeitlosen Phänomens vorgelegt, die Grundlegendes zur sachlichen und fundierten Reflektion und Diskussion über ein hochaktuelles Thema beiträgt.

«Grenzen zu» gegen «no border»

Das Buch «Grenzen» hat folgenden Aufbau: Es beginnt mit einer Einleitung und kurzen begriffsgeschichtlichen Einführung. Dann folgen die drei Hauptkapitel «Chronologie der Territorialität», «Typologie der Grenzen» und «Grenzregime und Politik der Grenze» sowie ein Ausblick.

In der Einleitung beschreibt Andrea Komlosy die Antipoden der gegenwärtigen Diskussion über Grenzen und stellt fest, dass sich die «proklamierte Grenzenlosigkeit» (S.7) nicht durchgesetzt habe. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs hätte in Europa zunächst die Ideologie der Grenzenlosigkeit triumphiert. Systembarrieren zwischen Kapitalismus und Kommunismus waren gefallen. Innerhalb des EU-Schengen-Raumes wurden die Binnengrenzen aufgehoben. Es schien, als würde es demnächst überhaupt keine Grenzen mehr auf der Welt geben.

Doch bald sei die Euphorie um die proklamierte Grenzenlosigkeit gekippt. Es folgte der Ruf nach der Wiedererrichtung von Grenzen: gegenüber den Migranten, gegenüber ausländischen Firmenübernahmen, gegenüber der Islamisierung der europäischen Gesellschaft und vielen anderen «fremden» Einflüssen.

Nach Andrea Komlosy beruhte das Zeitalter der offenen Grenzen auf einer gleichzeitigen rigiden Abschottung gegenüber Menschen aus Drittstaaten. Die Grenzen waren nicht wirklich aufgehoben, sondern sie wurden lediglich an die EU-Aussengrenze verlagert. Umgekehrt bedeute das aktuelle Revival von Grenzen keineswegs ein Ende der grenzenlosen westlichen Einmischung überall auf der Welt, sowohl in ökonomischer als auch in militärischer Hinsicht. Die westlich dominierten internationalen Finanz- und Handelsorganisationen (IWF, Weltbank, WTO) verordnen Kapitalverkehrsfreiheit und Freihandel. Damit nähmen sie den Ländern des globalen Südens die Instrumente aus der Hand, ihre eigenen Märkte schützen und ihren Bürgern Arbeit und Einkommen verschaffen zu können. Aufkeimende Bemühungen um nachholende Entwicklung und überregionale Integration in diesen Ländern würden mit allen Mitteln bekämpft. Als Folge dieses Kampfes würden immer mehr Opfer ihr Heil als Flüchtlinge im reichen Norden suchen. Dort errichte man Schleusen für die Migranten, um sich die am besten Ausgebildeten und Gefügigsten aussuchen zu können, während die anderen auf dem illegalen Arbeitsmarkt landen oder zwangsweise zurückgeführt würden.

Diese Entwicklung habe aber auch Auswirkungen innerhalb unserer Gesellschaften. Andrea Komlosy schreibt: «Vor diesem Hintergrund vertieft sich der Riss auch in den Wohlfahrtsgesellschaften des globalen Nordens. Quer durch alle weltanschaulichen Lager bricht ein Konflikt zwischen zwei Fraktionen auf: ‹Grenzen zu› verlangen die einen, ‹no border› skandieren die anderen. [...] Hinter den unterschiedlichen Ideologien verbergen sich handfeste Interessen: Von Unternehmerseite wird die Deregulierung des Arbeitsmarktes begrüsst; die neue Mittelschicht freut sich über die Multikulturalisierung der Gastronomie und die kostengünstige Verfügbarkeit häuslicher Dienste; die alte Arbeiterschaft, die von der Konkurrenz am Arbeitsmarkt bedroht ist, hofft, dass höhere Grenzzäune die Unerwünschten fernhalten» (S.7). Ob fremdenfeindlich oder fremdenfreundlich, beide Lager würden eine Gemeinsamkeit aufweisen: Sie instrumentalisieren die Grenze im Hinblick darauf, wie sie – durch Befestigung oder Abbau – dem Wohlergehen der eigenen Gruppe in der Gesellschaft nutzt.

Menschen brauchen Grenzen

Andrea Komlosy wendet sich dagegen, Grenzen einseitig als Wunsch- oder Feindbild zu stilisieren.

Bei beiden handele es sich um eine Überbewertung dessen, was Zäune, Mauern, Visa und Einwanderungs-, Arbeitsmarkt- oder Asylquoten bzw. ihre Abschaffung bewirken können. In Grenzen würden ebenso wie in die Grenzenlosigkeit Hoffnungen projiziert, die diese niemals erfüllen könnten. Umgekehrt stellten Grenzen tatsächlich Mechanismen bereit, mit denen Staaten wirtschaftliche und politische Weichen stellen und Vor- oder Nachteile für Bürger und Arbeitskräfte erwirken können.

Die Praxis der Grenze sei viel komplexer, als es die Wunschbilder von «Grenzen zu» und «no border» wahrhaben wollen. Andrea Komlosy zeigt dem Leser auf, dass Menschen Grenzen brauchen. Für sie ist Grenze ein Instrument in der Ausgestaltung menschlicher Beziehungen und lässt sich ebensowenig abschaffen wie das Bedürfnis nach räumlicher Bindung und Identifikation. Grenzen seien eine Grundkonstante im Zusammenleben von Menschen und Gemeinwesen. Es gibt politisch-administrative, militärische, ökonomische, soziale, kulturelle, geschlechtliche und weltanschauliche Grenzen, um nur die wichtigsten zu nennen. All diese Grenzen seien Gegenstand von Interessenkonflikten und politischer Gestaltung. Überall gehe es um Fragen der Grenzziehung und Grenzüberschreitung. Ohne Grenzen könne nichts bewahrt und nichts überschritten werden.

Territorialität in historischer Perspektive

Die räumliche Erscheinungsform von Grenze wird als Territorialität bezeichnet. Territorialität dient Andrea Komlosy als Oberbegriff, «in dem Menschen im allgemeinen, vor allem aber soziale Gruppen und politische Gemeinwesen ihre Vorstellungen von Gemeinsamkeit mit einem bestimmten Territorium verbinden» (S. 13). Im 1. Hauptkapitel «Chronologie der Territorialität» arbeitet die Verfasserin fünf Raumordnungen heraus: 1. die Territorialität von überregional agierenden Stammesgesellschaften, Stadtstaaten und Imperien bis ins 13. Jahrhundert, 2. das mittelalterliche Kaleidoskop überlappender Territorialität vom 13. bis 15. Jahrhundert, 3. den frühneuzeitlichen Flächenstaat mit imperialer bzw. kolonialer Erweiterung vom 16. bis 19. Jahrhundert, 4. die Souveränitätsordnung der Nationalstaaten vom 18. bis 20. Jahrhundert und 5. das System der durch die Global governance entnationalisierten Staatlichkeit an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Die fünf Ordnungen lösten einander im Zeitenlauf nicht einfach ab; vielmehr haben sich jeweils die ältere und die neuere Ordnung überlappt.

Die Territorialität von überregionalen Stammesgesellschaften, Stadtstaaten (griechische Polis, Maya, Azteken u. a.) und Imperien (Assyrisches, Persisches, Römisches u. a.) beruht auf der Ausdehnung von Herrschaft mit militärischen Mitteln. Dabei ging es nicht um territoriale Geschlossenheit in Form von Fläche oder Aussengrenzen, sondern um Punkte, Wege und Netze, die den Raum aufspannten. Beim Mittelalter spricht Andrea Komlosy von einem Kaleidoskop. Dieses «war durch Dynastien, Kirche und Adel, bürgerliche Stadtkultur, Kaufleute und Fernhändler sowie fahrende Unterschichten geprägt, die durch Netzwerke (z. B. Hanse) und patchworkartig untereinander verbunden waren» (S.227). Im 16. Jahrhundert habe dann eine Tendenz zur flächenhaften Ausgestaltung der politischen und sozialen Ordnung in den europäischen Mutterländern und ihren aussereuropäischen Erweiterungsgebieten und Kolonien begonnen. Zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert seien dann sukzessive weite Teile der ost- und aussereuropäischen Welt in ein westeuropäisch dominiertes Weltsystem eingegliedert worden. Das Recht der kolonisierten und abhängigen Weltregionen, ihre eigene Politik der Grenze umzusetzen, sei dabei eingeschränkt bzw. ausser Kraft gesetzt worden. Im Laufe der Umwandlung der alten Reiche in nationale Verfassungsstaaten im 19. Jahrhundert und durch die schrittweise Entkolonialisierung (19. und 20. Jahrhundert) verwandelte sich die kolonialstaatliche Ordnung in eine internationale Staatenordnung. Mit der beginnenden Globalisierung (Transformation der zentralisierten Produktionsweise in globale Güterketten mit über den Globus verteilten Fertigungsstandorten) sei dann diese Ordnung in Widerspruch zur nationalstaatlichen Souveränität und ihrer völkerrechtlichen Absicherung geraten. Andrea Komlosy formuliert es so: «Obwohl die Staaten und die internationalen Institutionen nach wie vor bestehen, befinden sich diese seit den 1980er Jahren im Umbruch zu einer Global governance, in der die Interessen der Staaten und der Interessenausgleich in ihren demokratischen Institutionen zugunsten einer globalen Ordnung im Interesse des Kapitals zurücktreten. Die westlichen Staaten entwickeln sich dabei vom Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat, engagieren sich für den Umbau der auf das Gemeinwohl ausgerichteten Institutionen im Interesse der Kapitalverwertung und nehmen zunehmend autoritäre Form an» (S.228).

Die Autorin stellt folgende Gleichzeitigkeit fest: Die westlichen Staaten rücken just in dem Moment vom Grundsatz der staatlichen Souveränität und ihrer völkerrechtlichen Absicherung ab, als die Schwellenländer des globalen Südens auf Grund von Erfolgen ihrer nachholenden wirtschaftlichen Entwicklung Ansprüche auf eine gleichberechtigte Mitwirkung in der internationalen Ordnung erhoben. Nach Andrea Komlosy scheiterte «die geforderte Demokratisierung der internationalen Beziehungen im Sinne einer multipolaren Weltordnung bisher an der Vehemenz, mit der die westlichen Grosskonzerne die von ihnen Freihandel genannte Freiheit des ungehinderten Kapital- und Warenverkehrs mit dem Schutz der eigenen Märkte gegenüber der Konkurrenz der Schwellenländer verbinden und diesen sie schützenden Freihandel zur Bedingung für die Teilnahme an der Weltwirtschaft machen» (S.229).

Welche Grenzen sind im Spiel?

Im 2. Hauptkapitel «Typologie der Grenzen» bringt Andrea Komlosy Ordnung in die Vielzahl von Grenzen. Es werden elementare Grenzen des Mensch-Seins ebenso behandelt wie politische, militärische, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Grenzen. Dabei beschränkt sie sich nicht allein auf die räumliche Erscheinungsform von Grenze. Grenzen können sichtbar sein (erkennbar an Grenzzeichen, -bauten, -befestigungen) oder sie sind unsichtbar (Sprach-, Rechts-, Währungs-, Armutsgrenzen u. a.). Die von der Autorin als elementare Grenzen bezeichneten treten auf bei der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen, bei der Beziehung zwischen Mensch und Natur und bei der gesellschaftlichen Differenzierung. Nach Andrea Komlosy zeigt die Entwicklungspsychologie die Etappen auf, in denen sich das Kind als selbständige Persönlichkeit zu sehen beginnt und damit eine erste Grenze zwischen sich, seine Nächsten und seine Umwelt setzt. Diese Grenzziehung des Individuums ins Lot mit der Bindung in der Gemeinschaft zu bringen, begleite den Menschen bis an sein Lebensende. Denken und Sprechen seien weitere Akte der Grenzsetzung in der Entwicklung des Menschen. Mit der Vernunft, die den Menschen zum Denken befähigt, könne der Mensch Dinge voneinander unterscheiden. «Um zu differenzieren, zu vergleichen, zu definieren, zu limitieren, zu konfrontieren, zu terminieren, Sachverhalte zuzuordnen und in Kontexte einzuordnen, bedarf es der Fähigkeit des analytischen Trennens, also der Setzung von Grenzen» (S. 93). Um in der Gesellschaft leben zu können, müsse der Mensch auch moralische Grenzen wie Werte, Sitten und Regeln des Verhaltens lernen.

Zu den elementaren Grenzen zählt Andrea Komlosy auch die Beziehung zwischen Mensch undNatur, die sich im Laufe der Evolutionsgeschichte immer wieder verändert habe. Die frühen Menschen lebten viele Jahrtausende lang als Jäger und Sammler und verstanden sich als integraler Bestandteil der Natur, sie hätten keine Trennlinien zwischen sich und ihre natürliche Umgebung gezogen. Erst mit der agrokulturellen Technik habe sich der Mensch aus dieser Einheit gelöst und der Natur, die nun als Wildnis definiert wurde, die Kultur entgegengesetzt. Die Menschen errichteten dauerhafte Siedlungen, die von Schutzwällen umgeben waren. Das Dorf wurde nach Andrea Komlosy als Endosphäre, als die Welt seiner Bewohner definiert, die sich vom Draussen, der Exosphäre, unterschied. Wie lebenswichtig diese Unterscheidung war, verdeutlicht das folgende Zitat: «In die Exosphäre verbannt zu werden, war bis ins Mittelalter eine schlimmere Strafe als die Todesstrafe» (S.94).

Die Trennung von Mensch und Natur fand auch in der christlichen Botschaft zum Umgang mit der Natur ihren Ausdruck: «Macht Euch die Erde untertan» (Genesis I, S.28). Für Andrea Komlosy konnte die klare Hierarchie, die dieser Grenzziehung zugrunde liegt, erst durch die mit der Aufklärung verbundenen Säkularisierung vollständig umgesetzt werden. Durch die Entwicklung der Wissenschaften wurde die Beziehung des Menschen zur Natur mit Hilfe der Technik neu geordnet. Die Grenze zwischen Endosphäre und Exosphäre wurde eingerissen und die «Erschliessung, Kolonisierung und Zähmung der Natur zum Inbegriff des Menschheitsfortschritts erhoben, der aber selbst keine Grenzen mehr kennen würde» (S.96). Zum Zwecke der Zurichtung der Natur im Dienste ihrer Nutzung, Ausbeutung und Verwertung wurden Herrschaftsgrenzen ausgeweitet. Das passierte sowohl in den eigenen Siedlungsgebieten als auch in kolonialen Eroberungsgebieten, «deren indigene Bewohner auf Grund ihrer symbiotischen Naturbeziehung kurzerhand zu Wilden erklärt wurden» (S.96).

Elementare Grenzen werden nach Andrea Komlosy auch im Bereich der Gesellschaft gesetzt. Horizontale Grenzen werden durch Türen, Schwellen, Zäune, Mauern, Schranken, Schilder markiert. Vertikale Grenzen bestehen zwischen Geschlechtern, Altersgruppen, Arm und Reich, Berufsgruppen, Statusgruppen, Klassen, Angehörigen einer Religion oder ethnischen Gruppe. Hier steht nicht die räumliche Begrenzung im Vordergrund, sondern die soziale Zugehörigkeit. Jeder Mensch nehme in seinem Alltag ununterbrochen Klasseneinteilungen vor, in denen er sich selbst und andere in bezug auf eine eigene oder auf andere Gruppen zuordnet. Dieses Klassifizieren sei in der Praxis und Erfahrung verankert und werde oftmals als so selbstverständlich angesehen, dass es nicht als Akt bewussten Grenzen-Setzens, sondern als natürliches Verhalten empfunden wird. Horizontale und vertikale Grenzen könnten sich auch überlagern. So kann «das Wohlstandsgefälle zwischen armen und reichen Bewohnern einer Stadt eine sozialräumliche Polarisierung bewirken, so dass die soziale zur räumlichen Grenze wird» (S.97). Im Extremfall könne eine zu grosse soziale Differenzierung zu Machtkonzentration, Konflikten oder gar Kriegen führen.

Politische Grenzen

Politische Grenzen werden von Andrea Komlosy als zentral für das Verständnis von Grenze behandelt. Sie führt aus, dass durch politische Grenzen Gemeinwesen in bezug auf den Geltungsbereich von Recht und Gesetz in räumlicher und personaler Hinsicht definiert werden. Die Art der Gemeinwesen kann von kleinen bis zu grossen Selbstbestimmungs- und Selbstverwaltungseinheiten mit unterschiedlich breiter politischer Beteiligung reichen. «Dorf, Stadt, Bezirk, Provinz, Staat, Staatenbund, Union sind solche räumlichen Einheiten, sofern sie über politische Selbstbestimmung und Selbstverwaltung verfügen und nicht einfach nur Vollzugsorgane übergeordneter politischer Instanzen sind» (S. 98).

Grenzen zwischen Körperschaften (z. B. Bund, Kantone, Länder, Gemeinden) sind
politische Grenzen. Ob es sich dabei um Aussen- oder Binnengrenzen handelte, hänge davon ab, welche Einheit als Bezugsgrösse dient. «Die Aussengrenze einer Gemeinde ist eine politische Grenze, die aus der Perspektive des Bezirks, des Kantons oder des Staates, dem diese Gemeinde angehört, eine Binnengrenze darstellt» (S.99).

Politische Grenzen werden auch bei der Gründung, dem Zerfall, der Abspaltung, der Neugründung von Staaten und der Neuzusammensetzung zu Staatenbünden oder Blöcken gezogen. Diese politischen Grenzen interagierten oft mit sozialen, ökonomischen und kulturellen Grenzen: «Status, Wohlstand und kulturelle Identität liefern auch Begründungen für räumliche Grenzziehungen: Wunsch nach Einheit, nach Verbleib, nach Abspaltung, Separation, Abstossung von Teilregionen oder Vereinigung mit anderen Staaten oder Regionen» (S.229).

Für Andrea Komlosy greift die Abtretung von politischen Kompetenzen an suprastaatliche Organe der EU in das Verhältnis von Binnen- und Aussengrenzen ein. Im Vertrag von Amsterdam (1997, in Kraft seit 1999), der die Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP) in den EU-Vertrag aufnahm, traten die Mitgliedsstaaten immer mehr Entscheidungskompetenzen an eine dem eigenen Parlament übergeordnete Ebene ab. Für Andrea Komlosy ist diese Kompetenzabtretung demokratiepolitisch bedenklich, weil die legislative Ebene, der Rat der EU, nicht demokratisch legitimiert ist, sondern sich aus den Regierungen (den Exekutiven) der Mitgliedsstaaten zusammensetzt. Mit dem Schengener Abkommen als Bestandteil des Vertrags von Amsterdam wurde die Abschaffung der Binnengrenzen in den Rechtsrahmen der EU übernommen. «Der Abbau der Grenzstationen und die Abschaffung der Personenkontrolle an der Grenze wurden als Meilensteine auf dem Weg in die Grenzenlosigkeit propagiert und gefeiert» (S.105). Nicht gesagt wurde dabei, dass die Staatsgrenze auf diese Weise nicht verschwand, sondern lediglich an die Aussengrenze der EU verlegt wurde. Zudem wurden nach Andrea Komlosy die Staatsgrenzen der EU-Mitgliedsstaaten in «Aussenmauern einer Festung Europa verwandelt, die um so anziehender wirkte, als die Überquerung der Aussengrenze den Einreisenden Zugang zum vermeintlich grenzenlosen Europa verschaffte» (S.105).

Grenzen gestalten durch Politik der Grenze

Das 3. Hauptkapitel ist Grenzregimen und den Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung einer Politik der Grenze gewidmet. Andrea Komlosy führt darin aus, dass eine Politik der Grenze in allen Bereichen ständig stattfindet, in denen Grenzen aufrechterhalten, überschritten, abgeschafft oder in ihrer Wirkungsweise verändert werden. Dies betreffe nicht nur den räumlichen Aspekt von Grenze, sondern auch soziale, ökonomische und kulturelle Grenzen. Politik der Grenze manifestiere sich in bestimmten Grenzregimen, verstanden als Normen, Regeln und Gepflogenheiten bei der Pflege von und dem Umgang mit Grenzen. Für Andrea Komlosy beeinflussen sich Politik und Grenze gegenseitig. Sie schreibt: «Politik der Grenze, Grenze als Politik bedeutet mehr als die Veränderbarkeit von Territorium, staatlicher Souveränität und den damit einhergehenden Typen von Grenze. Grenze als Politik verweist auf Grenze als Prozess, als Aufgabe, als Aktivität. Handelnde Akteure sind nicht nur Regierungen der verschiedenen Ebenen von Staatlichkeit, sondern auch all jene Personen und Institutionen, die die vielfältigen und einander vielfältig überlagernden und ergänzenden Grenzen gebrauchen» (S. 230).

Regierungen und Bürger haben nach Andrea Komlosy unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten von Grenzen. Regierungen stellen die rechtlichen Voraussetzungen bereit, «um den Umgang mit den Staatsaussengrenzen und allen Arten von Grenzen innerhalb des Staates zu regeln und nach Möglichkeit zu kontrollieren. Die betroffenen Bürger gestalten die vorgefundenen Grenzen durch ihren Umgang damit aus: durch Akzeptanz, Unterlaufen, Übertretung, Überwindung oder auch das Bemühen, die Grenzen bzw. die Regeln für den Umgang damit neu zu gestalten» (S.230). Dabei ist der Spielraum der Bürger jedoch eingeschränkter als jener der Regierung.

Beispiel Flüchtlingspolitik: von der Willkommensphase zum Migrationsmanagement

Am 31. August 2015 verkündete Angela Merkel mit der Formel «Wir schaffen das» die Öffnung der deutschen Grenzen für Flüchtlinge und läutete damit die «Willkommensphase» ein. Deutschland und Österreich veranlassten das Aussetzen der Schengen- und Dublin-Regelung durch die Aufhebung der Grenzkontrollen an den eigentlichen EU-Aussengrenzen und gestatteten den Flüchtlingen die freie Durchreise zum Antragsland ihrer Wahl. Mit dieser Praxis, die sich wie ein Lauffeuer in den Sozialen Medien verbreitete, hatten die Verantwortlichen einen bisher ungekannten Flüchtlingszustrom ausgelöst, der den Fortbestand der öffentlichen und der sozialen Sicherheit in Frage stellte. Und je mehr die Situation aus den Fugen geriet, desto grösser sei die Bereitschaft der poli-tisch Verantwortlichen sowie der Bürger gewesen, ein neues Flüchtlings- und Migrationsmanagement umzusetzen bzw. zu akzeptieren. Im nachhinein erwies sich nach Andrea Komlosy die Willkommensphase im Herbst und Winter 2015/16 als Test. So hätten nicht nur die Behörden und die Exekutive aus der Bewältigung im Transport, in Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingsmassen gelernt, sondern auch die Flüchtlingsindustrie, in deren Hände die Administration zunehmend ausgelagert wurde.

Nach Andrea Komlosy waren Flüchtlinge in den Krisenregionen der Welt schon längst Testpersonen für digitalisierte, biometrische Formen der Registrierung, Kontrolle und Verwaltung. So praktiziere das UNHCR (Uno Hochkommissariat für Flüchtlinge) seit 2002 die biometrische Registrierung für die Insassen der von ihm geführten Lager. Konkret werde dabei z. B. im jordanischen Flüchtlingslager Zaatari seit 2016 mit Einkaufsguthaben experimentiert, die dem Flüchtling per Iris-Scan automatisch bei einem Einkauf bei jenem Monopolisten abgebucht werden, der den Zuschlag für den Lagersupermarkt bekommen hat. Und von jedem Einkauf, den ein Flüchtling tätigt, gehe ein Prozent an die Firma, die den Augen-Scanner liefert und deren Sitz steuersparend auf den Caiman-Inseln liegt. Wenn der Test erfolgreich verlaufe, könne die Technologie dann auch in den regulären Zahlungsverkehr übernommen werden.

Uno-Gipfel zu Migrations- und Flüchtlingsthemen beinhalten Messen, auf denen Produkte wie Drohnen, Überwachungstechnologie, Lagerinfrastruktur sowie Finanzlösungen angeboten werden. Die entsprechenden Privatfirmen würden das UNHCR sponsern und dafür den entsprechenden Auftrag erhalten. Der grösste Spender im Jahr 2016 war IKEA; im Gegenzug konnte IKEA 30 Millionen Zelte liefern.

Nach Andrea Komlosy erlebten die europäischen Staaten durch die Herausforderung der Willkommensphase auch eine Testphase in Hinblick auf die Reaktionen der Bevölkerung. Diese spaltete sich in Begeisterte und Skeptiker. Ab März 2016 wurden daraus Konsequenzen gezogen. Inzwischen zeichnet sich nach Andrea Komlosy quer durch die politischen Lager eine Zustimmung zur Optimierung der EU-Aussengrenze als unüberwindlicher Schutzwall ab. Auch diese Perspektive stehe in der Tradition der westlichen Überlegenheit, ihren aus der historischen Dominanz der Weltwirtschaft durch Kolonialismus und postkoloniale Freihandelsregime angehäuften Wohlstand abzusichern.

Grenzkonflikte lösen durch Interessenausgleich

Andrea Komlosy behandelt am Ende ihres Buches in einem Ausblick Grenzkonflikte und gibt Empfehlungen zur Konfliktlösung. Da jede Grenze mindestens zwei Seiten hat, kann sie von jeder Seite anders konzipiert und gebraucht werden. Wenn dabei unterschiedliche Gruppen und Interessen aufeinandertreffen, können Grenzkonflikte entstehen. Diese können konfrontativ oder kompromissbereit angegangen werden. Andrea Komlosys unabdingbare Voraussetzung für eine Lösung im Konfliktfall ist, der anderen Seite ihren Standpunkt zuzugestehen und anzuerkennen, dass auch sie die Grenze in ihrem Sinn gebrauchen will. Beide Seiten sollten dann einen Interessenausgleich anstreben, mit dem beide Seiten leben können. Das Völkerrecht bietet für die Lösung von Grenzkonflikten zwischen souveränen Staaten gewisse Handhaben, auch wenn diese durch Angriffskriege und militärische Interventionen regelmässig unterlaufen würden. Jedoch biete das Völkerrecht für das Unterlaufen und Ausnützen der ökonomischen Souveränität anderer Staaten durch die Intervention des transnational agierenden Kapitals keine Handhabe. Im Gegenteil, meint Andrea Komlosy, dass die WTO und internationale Finanzorganisationen den nicht dominierenden Staaten (Entwicklungsländer, Schwellenländer u. a.) eine eigene -Politik der Grenze verbieten: «Sie verbieten sie unter dem Deckmantel der Wettbewerbsfreiheit und des freien Welthandels und setzen das Verbot mit der Androhung durch, dass Förderung und Schutz für einheimische Unternehmen und Wirtschaftsentwicklung den Ausschluss aus internationalen Handels- und Kapitalflüssen nach sich ziehen würden» (S. 232).

Grenze als Methode und abschliessendes Plädoyer

Die Auseinandersetzung mit Grenzen ist für Andrea Komlosy nicht nur Thema, sondern auch Methode zum Erkennen von Ungleichheit, ihrer Durchsetzung und Verschleierung, und Methode beim Entwickeln und Umsetzen sozialer Gerechtigkeit. Sie stellt fest, dass die heute in den westlichen Zentren vorherrschenden Diskurse über globale Ungleichheit auf Grund ihrer Fixierung auf den eigenen Standpunkt nicht geeignet sind, die historischen sowie die täglich durch Strukturen und Institutionen der Weltwirtschaft hervorgerufenen Destabilisierungen und Verwerfungen zu erkennen. Die dadurch hervorgerufene Verelendung und Entwurzelung grosser Teile der Weltbevölkerung werde zwar als Gefahr für den sozialen Frieden in Europa wahrgenommen, die europäische bzw. westliche Verantwortung für ihre Lage jedoch nicht zur Kenntnis genommen. Und meist würden daraus in Leugnung der Ursache-Wirkung-Zusammenhänge falsche Schlussfolgerungen gezogen, indem mehr von dem, was Hunger, Elend, Flucht und Aufbruch verursacht, als Abhilfe verordnet werde – nämlich mehr internationaler Warenhandel (ungleicher Tausch), mehr Kredite, mehr sogenannte Entwicklungshilfe, mehr sogenannte Partnerschaftsabkommen, mehr Militärhilfe. Sich auf örtliche Bedürfnisse im globalen Süden einzulassen, sei im Norden/Westen ganz und gar unüblich. Es gehe lediglich darum, den eigenen Wohlstand hinter Mauern/Grenzen zu bewahren. Was in den Heimatländern passiert, bleibe ausgeblendet, auch bei denjenigen, die gerne mehr, alle oder zumindest möglichst viele Flüchtlinge und Armutsmigranten aufnehmen wollten.

Andrea Komlosy schliesst ihr Buch mit einem Plädoyer, den Menschen, den sozialen Bewegungen und den Regierungen im globalen Süden den Gebrauch der Grenze im eigenen Interesse zu gestatten. Das würde aber auch heissen, ein Ende der Einmischungen, die einen selbstbestimmten Gebrauch verunmöglichen, zu fordern und zu fördern. Für Andrea Komlosy sind Zeiten angebrochen, in denen Grenzen verstärkt zur Disposition stünden und es darauf ankomme, «wer welche Politik der Grenze in Angriff nimmt, um aus dem sich abzeichnenden Chaos eine sozial gerechtere Weltordnung erstehen zu lassen» (S.234).     •

*  Andrea Komlosy, geboren 1957 in Wien, ist Professorin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Sie arbeitet zu Themen der Globalgeschichte und ihrer Verflechtung mit regionalen Beziehungen. Zuletzt ist von ihr bei Promedia erschienen: Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert.

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