Institutioneller Rahmenvertrag als Instrument des europäischen State-Building

Institutioneller Rahmenvertrag als Instrument des europäischen State-Building

Prominente Schweizer Stimmen zum Rahmenabkommen

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Seit kurzem gibt es den Entwurf für ein Rahmenabkommen Schweiz-EU endlich auch in deutscher Sprache1 (Originaltext französisch), was in der deutschsprachigen Mehrheit der Schweizer Bevölkerung offensichtlich einen Leseboom ausgelöst hat – jedenfalls häufen sich die kritischen Stellungnahmen, und die Einwände werden konkreter.

Während der Bundesrat bei Kantonen, Parteien und Sozialpartnern seit Anfang Dezember eine «interne Konsultation» durchführt, melden sich Stimmen auch von ungewohnter Seite zu Wort und bringen eine Vielzahl schwerwiegender Bedenken aus staatsrechtlicher, demokratischer, föderalistischer und souveränitätspolitischer Sicht auf, die Grund genug für die Beendigung des Vorhabens sind.

Hier einige klare Aussagen zu verschiedenen Inhalten und staatsrechtlichen Fragen, zur leichteren Einordnung für den Leser nach Themen geordnet.

«Wer sagt, der Vertrag sei massgeschneidert, hat den Text nicht gelesen»

Die Aussage von Hans Hess, Präsident des Verbandes der schweizerischen Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie (Swissmem), der Rahmenvertrag (InstA) sei «für die Bedürfnisse der Schweiz massgeschneidert»,2 ging durch alle Schweizer Medien und stiess auf geharnischten Widerspruch. Besonders erfreulich ist die Stellungnahme von Hans-Ulrich Bigler, Nationalrat FDP und Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbands (SGV), der die grosse Mehrheit der Schweizer Unternehmen, die KMU, vertritt: «Wer sagt, der Vertrag sei massgeschneidert, hat den Text nicht gelesen oder kann nicht gut genug Französisch.»3 Er nannte einige unannehmbare Schwachstellen, so die beabsichtigte Aufdrängung der Unionsbürgerrichtlinie oder die problematische Regelung der Streitschlichtung. Der SGV werde sich bis Ende Januar ausführlich mit dem Text befassen und dann eine erste Positionierung abgeben. Dies tat Hans-Ulrich Bigler am 2. Februar im «Echo der Zeit» (Radio SRF), wo er festhielt, der Vorstand des Schweizerischen Gewerbeverbands lehne das Rahmenabkommen in seiner jetzigen Ausgestaltung ab.

Eine weitere positive Überraschung bescherte uns Carl Baudenbacher, ehemaliger langjähriger Präsident des «EFTA-Gerichtshofs» und emeritierter Professor der HSG. Er hatte früher die Schweizer öfter gerügt, weil sie nicht dem EWR beitreten und sich damit seinem Gericht unterstellen wollten. In seiner Stellungnahme zum Vertragsentwurf wechselte nun Baudenbacher offen und ehrlich die Seite. In der vom Fernsehen SRF übertragenen Anhörung der aussenpolitischen Kommission des Nationalrates (APK-N)4 erklärte er, das Schiedsgericht sei «nicht massgeschneidert, sondern von der Stange». Es sei nämlich nicht, wie der Bundesrat behauptet, auf Drängen der Schweiz geschaffen worden, sondern nach dem Muster der Assoziationsabkommen der EU mit Moldawien, der Ukraine und Georgien im Herbst 2018 durch EU-Kommissionspräsident Juncker ins Spiel gebracht worden, damit die EU alle vier Verträge einheitlich auslegen könne.

Nach der Lektüre des deutschen Entwurfs mit seiner Bürokratensprache und seinen vielen Fallstricken kann man Hans-Ulrich Bigler nur zustimmen: Wer dieses Konstrukt als «massgeschneidert» bezeichnet, hat es nicht gelesen.

«Wir haben Probleme mit dem, was drinsteht, mit dem, was nicht drinsteht und mit dem, was beabsichtigt ist»

So Paul Widmer, alt Botschafter und Dozent an der HSG, in der Anhörung der APK-N vom 15. Januar: «Der Vertrag in der vorliegenden Form ist nicht gut, weil er zu vieles offenlässt oder falsch anpackt. Der Bundesrat hat gesagt, er sei froh, dass nur fünf Verträge und die künftigen dem InstA unterstehen. Das heisst, am besten wäre es, wenn man das Abkommen gar nicht hätte. Denn wir haben erstens Mühe mit dem, was drinsteht: bei der Personenfreizügigkeit, bei den flankierenden Massnahmen; wir haben Probleme mit dem, was nicht drinsteht, nämlich der Unionsbürgerrichtlinie; und wir haben Probleme mit dem, was beabsichtigt wird […].» Paul Widmer nennt hier das Freihandelsabkommen von 1972, das die EU künftig dem Rahmenabkommen unterstellen will, und damit über 100 weitere daran anknüpfende Abkommen. Diese umfassen den gesamten Güterverkehr (ausser der Landwirtschaft) und den Versicherungsbereich. Dadurch könnte die EU diese heute rein wirtschaftlichen Verträge ihren laufenden Rechtsänderungen unterstellen. Das muss vermieden werden. Übrigens will auch Grossbritannien die Beziehung zur EU über solche Verträge wie das Freihandelsabkommen von 1972 regeln.

Zur Ausklammerung der Unionsbürgerrichtlinie auch SGV-Direktor Hans-Ulrich Bigler: «Zentral ist aus meiner Sicht die Unionsbürgerrichtlinie. Die Nichtverankerung im Rahmenvertrag ist ein Kunstgriff, der es der EU erlaubt, die Richtlinie drei Jahre nach Inkrafttreten eines institutionellen Abkommens wieder auf den Tisch zu bringen. Das Problem ist also nicht gelöst, sondern nur aufgeschoben. Es ist zu befürchten, dass wir eines Tages einen hohen Preis dafür bezahlen müssen», zum Beispiel Hunderte von Millionen Franken für den erleichterten Zugang von EU-Bürgern zu den Sozialversicherungen («Neue Zürcher Zeitung» vom 21. Januar).

Ergänzend Carl Baudenbacher: «Dass man den Bereich auf 5 Abkommen hat beschränken können, das ist das eine. Aber das Stromabkommen ist in der Pipeline, und im Beihilfenbereich können enorme Bewegungen kommen, die können wir noch gar nicht feststellen. So versucht die EU derzeit, das Beihilferecht im internationalen Steuerwesen global anzuwenden […]. Dann denkt man über ein Dienstleistungsabkommen nach, da kämen Fälle von ganz anderer Tragweite, als wenn es darum geht, ob ein Schweizer Jäger in Österreich eine diskriminierende Jagdgebühr bezahlen muss» (Fernsehen SRF vom 15. Januar).

Zusammenfassend muss festgehalten werden, dass Brüssel nach Abschluss des Rahmenabkommens alles daransetzen würde, weitere – heute erst zum Teil bekannte – Bereiche des Schweizer Rechts hineinzunehmen. Statt später den steinigen Weg einer Kündigung des InstA in Angriff zu nehmen (siehe Brexit!), tun wir angesichts dieser Unwägbarkeiten besser daran, gar nicht erst beizutreten.

«Die Sozialpartnerschaft ist eine Schweizer Institution, die wir nicht auf Druck der EU preisgeben wollen»

Gewerbeverbands-Direktor Hans-Ulrich Bigler auf die Bemerkung der Interviewer, laut dem Think tank Avenir Suisse würden die Entsandten5 aus EU-Ländern im Schweizer Arbeitsmarkt nur eine sehr geringe Rolle spielen: «Avenir Suisse macht leider einen Denkfehler. Die Kautionspflicht und die flankierenden Massnahmen sind das Resultat sozialpartnerschaftlicher Verhandlungen, ohne die die Bilateralen bei uns nicht mehrheitsfähig geworden wären. Ich will den flankierenden Massnahmen einen gewissen protektionistischen Charakter gar nicht absprechen. Die starke Sozialpartnerschaft, wie sie die Schweiz kennt, garantiert uns allerdings seit fast 100 Jahren Arbeitsfrieden.» Und weiter: «Es geht nicht um die Frage, ob die Anmeldefrist für ausländische Firmen von acht auf vier Tage gesenkt werden kann. Es geht darum, ob die Schweiz die Entsende- und Durchsetzungsrichtlinien der EU künftig dynamisch übernehmen muss. Das kommt weder für die Gewerkschaften noch für die Arbeitgeber in Frage.»

Die provokative Vorgabe der Interviewer: «Arm in Arm mit dem Gewerkschaftsbund zu spazieren, muss für Sie ungewohnt sein» beantwortet Bigler so: «Nein, das ist es nicht. Als Direktor des Gewerbeverbandes mache ich Interessenpolitik für die KMU. Koalitionen schmieden zu können, ist dabei systeminhärent. […] Die Sozialpartnerschaft ist eine Schweizer Institution, die wir nicht auf Druck der EU preisgeben wollen.»6

Hans-Ulrich Bigler zeigt hier aufs schönste, dass die Schweizer Gesellschaftsstruktur auf genossenschaftlichen Grundlagen aufgebaut ist: In allen Bereichen, auch in der Beziehung zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden, sollen der Dialog und wenn immer möglich der Konsens gesucht werden. Dass dieser bis zur EWR-Abstimmung von 1992 lebendige Zusammenhalt unter allen Bevölkerungsgruppen durch ein weiteres monumentales Konstrukt einer Grossmacht gestört wird, dürfen wir nicht zulassen.

«Dieses Schiedsgericht ist im wesentlichen ein Feigenblatt»

Zur Frage der Streitbeilegung und der Überwachung der Rechtsanwendung überlassen wir vor allem Professor Carl Baudenbacher das Wort. Er kennt die EU-Rechtsprechung aus 22jähriger praktischer Erfahrung, muss-te er doch als Präsident des sogenannten «EFTA-Gerichtshofs» die Entscheide des EuGH an die EWR-Staaten Norwegen, Island und Liechtenstein weiterreichen. In der Anhörung der APK-N vom 15. Januar äusserte er sich zur Streitbeilegung folgendermassen: «Bei der Rechtsanwendung bin ich schon der Auffassung, dass dieses Schiedsgericht im wesentlichen ein Feigenblatt ist. […] Meines Erachtens ist es völlig klar, dass das Schiedsgericht eingesetzt wurde, um zu verdecken, dass hier eine einseitige Abhängigkeit vom EuGH geschaffen wird.» Und weiter: «Ich teile diese akademischen Überlegungen [der drei bei der Anhörung anwesenden Rechtsprofessoren Christa Tobler, Astrid Epiney und Matthias Oesch] überhaupt nicht, dass das Schiedsgericht praktisch die Freiheit der Vorlage haben würde [das heisst selbst entscheiden könnte, ob es den EuGH zur Auslegung beiziehen will oder nicht], und dass dann auch noch Freiraum bei der Umsetzung des Spruchs des EuGH bestünde.»7

Zur Überwachung: «Die Überwachung durch die Schweiz selbst ist natürlich ein Stück weit eine Selbsttäuschung, denn wenn die EU jederzeit einseitig das Schiedsgericht, das heisst faktisch den EuGH anrufen kann, so ist sie die faktische Überwachungsbehörde der Schweiz.»

Eine der «akademischen Überlegungen» von Professor Matthias Oesch: «Das Schiedsgericht […] ist unparteiisch zusammengesetzt, der EuGH ist ein angesehenes Gericht, das gestützt auf eine innere Logik entscheidet. Die Schweiz muss keine Angst haben vor dem EuGH, wenn er dereinst in den wenigen Fällen, die zu erwarten sind, befasst wird durch ein Schiedsgericht.» Dazu Baudenbacher: «Niemand bestreitet, Herr Oesch, dass der EuGH ein sehr angesehenes Gericht ist. Wir haben auch sehr gut zusammengearbeitet, 22 Jahre lang. Aber der Punkt ist: Der EuGH ist das Gericht der Gegenseite, und das Gericht der Gegenseite ist nicht parteineutral. Wenn es um irgendwelche normalen juristischen Probleme geht, spielt das vielleicht keine Rolle. Aber wenn es um grosse Dinge geht, wo auch Politik hineinspielt, dann spielt das Vorverständnis eine Rolle. Und da macht es einen Unterschied, ob ich das Gericht der einen Seite bin oder nicht.»

Alt Botschafter Paul Widmer in derselben Sendung zum Schiedsgericht: «Wir Schweizer haben eine enorme Erfahrung mit Schiedsgerichten […], in der OSZE hat sich kein Land so eingesetzt wie die Schweiz für die Streitbeilegung. Aber wenn Sie sehen, dass dieses Schiedsgericht […] die Auslegeordnung bei jemandem holen muss, der selbst Partei ist, dann ist das wirklich kein unabhängiges Schiedsgericht mehr. Dazu dürfen wir nicht ja sagen.»

Zur «unparteiischen Zusammensetzung» des Schiedsgerichts eine Einschätzung von Andreas Glaser, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Europarecht an der Universität Zürich: «Das Problem liegt darin, dass letztlich das Schiedsgericht entscheiden würde, ob die Schweiz beispielsweise die Unionsbürgerrichtlinie übernehmen müsste, die enorme Auswirkungen bis hin zur Einführung des Ausländerstimmrechts auf Gemeindeebene hätte. Die Schweiz wäre davon abhängig, wer in diesem dreiköpfigen Gremium sitzt und von wem sie vertreten würde – ob die betreffende Person zurückhaltend entscheiden oder sich eher integrationswillig zeigen würde. Alle Erfahrungen mit dem EuGH, mit dem Menschenrechtsgerichtshof oder dem EFTA-Gerichtshof lassen vermuten, dass […] der Schweizer Richter […] nicht zum Wächter der Schweiz werden dürfte».8

Weniger Rechtssicherheit für Bürger und KMU – mehr wirtschaftliche Freiheit für Grosskonzerne

In den letzten Jahren hat Brüssel die Schweiz immer wieder mit vertragswidrigen und sachfremden Sanktionen abgestraft, wenn das Stimmvolk nicht so wollte, wie es nach EU-Vorstellungen sollte. Wir haben den Hinauswurf aus dem Studentenaustausch-Programm Erasmus+ erlebt, die Verzögerung der Aktualisierung des Abkommens über die technischen Handelshemmnisse, die nur provisorische Verlängerung der Börsenäquivalenz (Anerkennung der Schweizer Börsenregulierung als gleichwertig), die immer noch in der Schwebe ist. Solche Störmanöver sind für den Schweizer Wirtschaftsstandort mit seiner weltoffenen Ausrichtung unangenehm – obwohl sie, wie noch zu zeigen sein wird, für ein souveränes und innovatives Land auch aus eigener Kraft zu bewältigen sind.

Die Spitzen von economiesuisse – die vor allem die grösseren Konzerne vertreten – behaupten nun, mit der Geltung des Rahmenabkommens würde endlich die erhoffte Rechtssicherheit für die Schweizer Unternehmen Einzug halten. Hans Hess, Vizepräsident economiesuisse: «Hätten wir ein Rahmenabkommen, könnte die EU nicht mehr einfach so Strafmassnahmen ergreifen.» Monika Rühl, Direktorin economiesuisse: «Für die Unternehmen würde Rechtssicherheit geschaffen und der Marktzugang gesichert» (Medienmitteilung vom 31. Januar).

In diesem Sinne auch Professor Matthias Oesch in der Live-Sendung aus dem Bundeshaus vom 15. Januar: «Die Rechtsübernahme wird neu in einem klaren Rahmen ablaufen. Das bringt Rechtssicherheit für alle Beteiligten. […] Was wir in den letzten Jahren einige Male erlebt haben, dass die EU uns blockiert hat, mitunter auch mit sachfremden, abkommensfremden Themen, das wird in Zukunft so nicht mehr möglich sein. […]»

Stimmt nicht! Mit dem Rahmenabkommen erhielte die EU neu explizit das Recht, «Ausgleichsmassnahmen bis hin zur teilweisen oder vollständigen Suspendierung der betroffenen Abkommen [zu] ergreifen».9 Für den Fachmann Andreas Glaser sind viele der schwer lesbaren Bestimmungen auch inhaltlich kaum fassbar: «Das Rahmenabkommen bedeutet für die Schweiz ein Wagnis – kein so grosses wie bei einem EWR- oder einem EU-Beitritt, aber doch ein Wagnis. Anders als bei den bisherigen bilateralen Verträgen, deren Inhalt detailliert geregelt ist, weiss man beim ‹gummig› formulierten Rahmenabkommen tatsächlich nicht, was auf einen zukommen wird».

Wenn wir also nicht wissen können, was auf uns zukommen wird, warum sprechen dann Grosskonzerne und Uni-Professoren mehrheitlich von «mehr Rechtssicherheit»? Professor Andreas Glaser klärt diese Frage: «Das Argument mit der Rechtssicherheit erstaunt mich. Es geht gerade um das Gegenteil, um mehr Unsicherheit, gleichzeitig aber auch um mehr wirtschaftliche Freiheit, von der die Starken profitieren werden – darum sind ja auch die Gewerkschaften gegen das Rahmenabkommen. Die Vorgänge bei der EU verlaufen nun einmal dynamisch, die EU-Kommission und der EuGH verfügen über viele politische Spielräume, die sie so oder anders nutzen können» (Weltwoche vom 31. Januar).

Kurz zusammengefasst: Noch freieren Zugang zum EU-Binnenmarkt für die Grosskonzerne, aber mehr Unsicherheit für die KMU, für uns Bürger und für unsere direktdemokratischen Rechte. Bestätigt wird diese vom Nebel gereinigte Sicht durch einen Aufruf zur Unterstützung des Rahmenabkommens von seiten der Verwaltungsratspräsidenten der beiden globalisierten Grossbanken mit Sitz in der Schweiz: «Ein integrierter Finanzmarkt ist für den künftigen Erfolg der Schweiz und Europas als global wettbewerbsfähiger Wirtschaftsraum gleichermassen wichtig.» Das vorgeschlagene Rahmenabkommen schaffe eine «solide und verlässliche rechtliche Basis» für «offene und integrierte Finanzmärkte», während «Abschottung und Verweigerung des Marktzugangs» nur Verlierer schaffe. Im weiteren Verlauf des Artikels geht es immer weniger um die Schweiz und immer mehr um ein «klares Bekenntnis der EU für offene Märkte», um die «Wettbewerbsfähigkeit Europas im Vergleich zu den USA und China [zu] stärken».10 

Mit den Worten Professor Glasers: Mehr wirtschaftliche Freiheit, von der die Starken profitieren werden … Aufgabe des Bundesrates ist es aus der Sicht von UBS und CS, «ein in der Schweiz und der EU mehrheitsfähiges Abkommen zu präsentieren». Mag das ganze Konstrukt auch noch so fremd in der Schweizer Landschaft stehen – Hauptsache, man bringt es durch die Volksabstimmung. Die zahlungskräftigen Förderer der nächsten Abstimmungskampagne stehen bereit.

Schwerwiegende Folgen für direktdemokratische Rechte

Vorläufige Anwendung von EU-Recht – aber nicht an Parlament und Volk vorbei!

Die Befürworter des Rahmenabkommens «beruhigen»: Initiativ- und Referendumsrecht würden gewahrt. Formell stimmt das. Gemäss Artikel 14 des Entwurfs hätte die Schweiz zwei Jahre Zeit für die Umsetzung eines EU-Rechtsaktes durch das Parlament, im Falle eines Referendums drei Jahre. Aber bereits vor der Parlamentsdebatte müsste die Schweiz die EU-Rechtsänderung vorläufig anwenden. Diese vorläufige Anwendung könnte das Parlament nur mit einem komplizierten Verfahren zu verhindern versuchen.11 Mit allem Nachdruck bleibt festzuhalten: Wenn das Referendumsrecht nicht zu einer blossen Alibiübung verkommen soll, kommt die vorläufige Umsetzung eines EU-Rechtsaktes vor dem Ablauf der Referendumsfrist überhaupt nicht in Frage.

Initiativrecht – weiter wie bisher?

Andreas Glaser: «Beim Initiativrecht dürfte es nicht zu grossen Änderungen kommen. Schon heute setzt das Parlament Volksinitiativen, die den bilateralen Verträgen widersprechen, nicht oder nur kosmetisch um; das hat man bei der Massenzuwanderung oder beim Alpenschutz gesehen. Das dürfte unter dem InstA gleich bleiben.» Allerdings, so ist dem hinzuzufügen, ist die Nicht-Umsetzung von Volksinitiativen verfassungswidrig. Um die faktischen Rechtsverletzungen durch das Parlament zu beschönigen, haben sich die EU-Turbos derart ins Zeug gelegt, um die Selbstbestimmungsinitiative zu Fall zu bringen. Aber auch wenn nun nicht explizit in die Bundesverfassung geschrieben wurde, dass deren Bestimmungen den Staatsverträgen übergeordnet sind: Angenommene Initiativen sind und bleiben Verfassungsrecht und sind anzuwenden.

Referendumsrecht: Grober Konstruktionsfehler im Rahmenvertrag

Professor Andreas Glaser: «Hier liegt der grösste Knackpunkt: Die dynamische Rechtsübernahme lässt das Referendum formell zwar unangetastet, doch letztlich wird es nur noch das absolut letzte Veto sein, um in letzter Not die Übernahme neuen EU-Rechts zu verweigern. Da muss man sich schon fragen, ob das noch ein würdiger Rahmen ist, der die Abstimmungsfreiheit respektiert. Für mich liegt hier ein grober Konstruktionsfehler vor» (Weltwoche vom 31. Januar). Bleibt uns Stimmbürgern als Konsequenz: Lieber die Gemischten Ausschüsse der bilateralen Abkommen mit ihren oft flexiblen Lösungen als einen neuen Vertrag, der unsere Volksrechte verwässert.

Angesichts der hier zitierten deutlichen Stimmen von Kennern der Materie setzen wir uns am besten dafür ein, dass es gar nicht zu einer Volksabstimmung kommt, sondern das Rahmenabkommen schon vorher vom Tisch ist. Wenn unsere Politiker und Verbandsspitzen den Textentwurf wirklich lesen, wird dies nach der Konsultation Ende März 2019 oder spätestens im Parlament der Fall sein.          •

1  Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Schweizerische Europapolitik. Institutionelle Fragen. Deutsche Version unter www.eda.admin.ch/dea/de/home/verhandlungen-offene-themen/verhandlungen/institutionelle-fragen.html

2  Interview mit Swissmem-Präsident Hans Hess. «Neue Zürcher Zeitung» vom 27. Dezember 2018. Autoren: Christina Neuhaus und Michael Schoenenberger

3  «Dieses Resultat muss man weiterverhandeln». Interview mit SGV-Direktor Hans-Ulrich Bigler. «Neue Zürcher Zeitung» vom 21. Januar. Autoren: Christina Neuhaus und Michael Schoenenberger

4  «Umstrittenes Rahmenabkommen – Ja oder Nein zum Abkommen mit der EU? Experten sind sich uneinig». Öffentliche Anhörung der aussenpolitischen Kommission des Nationalrats. Fernsehen SRF vom 15. Januar

5  Arbeitnehmer, die auf Rechnung ihres Arbeitgebers vorübergehend in einem anderen Land einen Auftrag erledigen

6  «Dieses Resultat muss man weiterverhandeln». Interview mit SGV-Direktor Hans-Ulrich Bigler. «Neue Zürcher Zeitung» vom 21. Januar

7  «Umstrittenes Rahmenabkommen …» Öffentliche Anhörung der aussenpolitischen Kommission des Nationalrats. Fernsehen SRF vom 15. Januar

8  «Ein Kulturschock». Interview mit dem Zürcher Staatsrechtsprofessor Andreas Glaser. Weltwoche Nr. 05.19 vom 31. Januar. Autorin: Katharina Fontana

9  Artikel 10 Verfahren bei Streitigkeiten bezüglich Auslegung oder Anwendung, Absatz 6

10 «Für einen engen Dialog mit der EU auf Augenhöhe». Gastkommentar von Lukas Gähwiler (Verwaltungsratspräsident UBS Switzerland AG) und Alexandre Zeller (Verwaltungsratspräsident Credit Suisse Schweiz) AG. «Neue Zürcher Zeitung» vom 25. Januar

11 «Ein Kulturschock». Interview mit dem Zürcher Staatsrechtsprofessor Andreas Glaser. Weltwoche Nr. 05.19 vom 31. Januar. Autorin: Katharina Fontana

Unionsbürgerrichtlinie

mw. Die Unionsbürgerrichtlinie dehnt das Recht von Bürgern der EU-Mitgliedsstaaten und ihrer Familienangehörigen auf Aufenthalt und Sozialhilfe weit über die Regeln im Personenfreizügigkeitsabkommen Schweiz-EU aus: dauerhaftes Bleiberecht nach fünf Jahren Aufenthalt für den Unionsbürger und seine Familienangehörigen (Art. 16), Aufenthaltsrecht für Sozialhilfeempfänger, «solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedsstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen» (Art. 14), Ausweisung «nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit» (Art. 28).1

1  Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten […].

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