Jedes Jahr gibt Gelegenheit, sich an geschichtliche Ereignisse zu erinnern, die die Wirtschaft und Politik wesentlich geprägt haben. Das ist auch 2019 der Fall: Vor zweihundert Jahren – am 20. Februar 1819 – wurde zum Beispiel Alfred Escher geboren. Sein Standbild steht heute prominent auf einem vier Meter hohen Granitsockel vor dem Hauptbahnhof Zürich. Escher war ein einflussreicher Politiker im Kanton Zürich und im Bund, Wirtschaftsführer und Eisenbahnunternehmer.
Vor hundertfünfzig Jahren – am 18. April 1869 – stimmten die Stimmbürger des Kantons Zürich einer neuen Verfassung zu, die zahlreiche Volksrechte enthielt und wirklich revolutionär war. Beiden Ereignissen sind die folgenden Zeilen gewidmet.
Alfred Escher (1819–1882) stammte aus einem alten, einflussreichen Rats- und Zunftsgeschlecht der Stadt Zürich. Er war 36 Jahre im Kantonsrat, 34 Jahre im Nationalrat, sieben Jahre Regierungsrat, Gründer und Leiter der Nordostbahn (der ersten grösseren Eisenbahngesellschaft der Schweiz), Gründer und Verwaltungsratspräsident der Schweizerischen Kreditanstalt (heute Credit Suisse, CS), Gründer und Aufsichtsrat der Genossenschaft Schweizerische Rentenanstalt (heute Swiss Life), Direktions- und Verwaltungsratspräsident der Gotthardbahn-Gesellschaft, als Regierungsrat zuständig für das Schulwesen, Mitbegründer des Eidgenössischen Polytechnikums (heute ETH) und lebenslang Mitglied im Schulrat und manches mehr – das meiste davon gleichzeitig. Escher war wohl der bedeutendste und einflussreichste Wirtschaftsführer und -politiker in der Geschichte des Bundesstaates.
Als liberaler Politiker verteidigte er die repräsentative Demokratie und dominierte die Politik wie selten ein Politiker vor und nach ihm und wurde zum Hauptgegner der oppositionellen Zürcher Demokratiebewegung, die Mitsprache und Volksrechte forderte und gegen das «System Escher» ankämpfte.
Alfred Escher gehörte der liberalen Partei an, die die Politik in den Jahren vor und nach der Gründung des Bundesstaates im Jahr 1848 bestimmte.1 Ihn störte, dass damals der Eisenbahnbau in der Schweiz noch kaum begonnen hatte. Grossbritannien verfügte bereits über ein Schienennetz von 10 000 Kilometern. Auch Deutschland und Frankreich waren weit voraus. Die industrielle Revolution war im vollen Gange, und neue Transportmittel waren unerlässlich, um Rohstoffe wie Baumwolle, Getreide, Eisen und Energieträger wie Kohle schnell zu transportieren und die Fertigprodukte wieder in entferntere Märkte zu liefern. Das war für die Schweiz besonders wichtig, weil sie weder über Rohstoffe noch über grosse Märkte verfügte, wo sie ihre Industrieprodukte verkaufen konnte. Auch der Tourismus steckte noch in den Kinderschuhen. Die wenigen Touristen bereisten die Schweiz und ihre Bergwelt noch mit Pferdekutschen. Diesen Rückstand galt es so schnell wie möglich aufzuholen – das war das zentrale Anliegen von Alfred Escher.
Nur – wer sollte die Regie übernehmen? 1848 und in den Jahren danach verfügte der Bund lediglich über einen Haushalt von wenigen Millionen Franken und musste zuerst seine eigene Verwaltung aufbauen. Das Bahnwesen erhielt lediglich ein Büro im Post- und Baudepartement. Es war für Escher deshalb naheliegend, dass private Gesellschaften in Zusammenarbeit mit den Kantonen und den Gemeinden den Bau der Eisenbahnanlagen übernehmen. Die Kantone sollten die Konzessionen erteilen, die der Bund als Koordinationsstelle und Aufsichtsorgan bewilligte. Dieser behielt sich jedoch das Recht vor, die Eisenbahnen in einem späteren Zeitpunkt zurückzukaufen. Escher gelang es, die meisten National- und Ständeräte von diesem Konzept zu überzeugen, so dass diese grünes Licht gaben.
Von Anfang an hatte Escher alles im Auge, was es für den Aufbau des Bahnwesens brauchte. 1953 gründete er die Nordostbahn. Die Kantone Zürich und Thurgau und die Städte Zürich und Winterthur beteiligten sich mit je 4 Millionen Franken, private Aktionäre mit 6 Millionen und ausländische Investoren mit 5 Millionen Franken. Bereits wenige Wochen später begannen Bautrupps, die Schienen von Zürich in Richtung Bodensee zu verlegen. Zehn weitere Bahngesellschaften entstanden in anderen Kantonen.
Escher sah, dass wegen der Topographie der Schweiz relativ viele Tunnel und Brücken notwendig waren. Die Ingenieure fehlten jedoch. 1854 war er massgeblich beteiligt an der Gründung des eidgenössischen Polytechnikums in Zürich (heute ETH) und wurde auch in den Schulrat gewählt. Er lud Professoren aus dem Ausland ein, so dass bald eine erste Gruppe von Ingenieuren ausgebildet werden konnte. 1855 folgten bereits 71 Studenten dem Unterricht, 1860 waren es 336.
Weil die öffentlichen Gelder der Kantone und Gemeinden bei weitem nicht genügten und Escher und die Bahnunternehmer nicht von ausländischen Banken abhängig werden wollten, gründete Escher 1856 die Schweizerische Kreditanstalt, die sich auf die Emission von Wertpapieren (Aktien und Obligationen) spezialisierte. (Die Gelder der Sparkassen waren für dieses risikoreiche Geschäft nicht geeignet.)
Alfred Escher hatte neben dem Präsidium der Nordostbahn und der Schweizerischen Kreditanstalt viele politische Ämter inne. Er war viele Jahre im Parlament der Stadt und im Grossen Rat des Kantons Zürich. Als Regierungsrat war er für das Erziehungs- und Schulwesen zuständig und setzte manche Reformen durch. Dazu hatte er 34 Jahre einen Sitz im Nationalrat und war mehrere Male Präsident. Es gelang ihm meisterhaft, flächendeckend sowohl in der Kantons- wie in der Bundespolitik Netzwerke aufzubauen, die ihn unterstützten, so dass er seine Pläne schnell durchsetzen und verwirklichen konnte. Alles, was er in die Hand nahm, schien zu gelingen – und vor allem schnell. Der Rückstand im Eisenbahnbau gegenüber dem Ausland war nach zehn Jahren aufgeholt, und Zürich wuchs in der Zeit Eschers verkehrstechnisch und wirtschaftlich zum Zentrum der Schweiz heran. Escher verkörperte Pioniergeist, freies Unternehmertum und wirtschaftlichen Aufbruch wie kaum jemand sonst. Etliche der grossen Unternehmen von heute wurden in diesen Jahren gegründet. In den Jahren vor 1848 war Zürich noch deutlich kleiner gewesen als Basel, Bern oder Genf. Das sollte sich bald ändern.
Alfred Escher war eingebettet in das liberal-repräsentative System seiner Zeit. Man wird ihm jedoch nicht gerecht, wenn man ihn als raffgierigen Kapitalisten oder als einen «Eisenbahnbaron» bezeichnet, der einzig den Börsenkurs und seinen Gewinn im Auge hat. Escher war volksverbunden, wurde in seinen politischen Ämtern immer wieder gewählt, er sang im Kirchenchor seiner Gemeinde Wollishofen mit, und der Dichter Gottfried Keller war regelmässig Gast bei Eschers. Er hatte zweifellos Aktien von «seiner» Nordostbahn und «seiner» Kreditanstalt, aber bei weitem nicht so viele, dass er hätte allein bestimmen können. Zudem war er schon von Geburt an reich, und er hätte sich die vielen fast übermenschlichen Aufgaben und öffentlichen Pflichten gar nicht aufbürden müssen. Es ist bekannt, dass er in schwierigen Jahren auf sein Gehalt als Präsident der Nordostbahn verzichtete. Auch intervenierte er nicht dagegen, als seine Nordostbahn ihre Gleise mitten durch seinen Garten (das heutige Belvoir) legte.
Escher wurde zwar immer wieder in seine vielen Ämter gewählt, aber es wuchs eine starke Opposition gegen das «Prinzipat Escher» heran, gegen die fast fürstlich anmutende Macht, mit der Escher den Kanton Zürich beherrschte und auf Grund seiner vielfältigen Kontakte fast alles machen konnte, was er wollte. Das passte nicht in das genossenschaftliche Staatsverständnis der Schweiz. Politisch war Escher ein typischer Vertreter des liberal-repräsentativen Systems. Er vertrat im Kanton und im Bund dezidiert die Meinung, dass regelmässige Volksabstimmungen die politischen Abläufe verlangsamen, den Fortschritt behindern würden und der Sachverstand beim einfachen Volk fehle. Und er hielt sein Leben lang an dieser Meinung fest.
Damals sassen im kantonalen Parlament und in der Regierung fast ausschliesslich Vertreter der liberalen Partei, die die repräsentative Demokratie im Kanton seit 1831 bestimmt hatte. Die Demokratiebewegung, wie sich die Opponenten nannten, kam aus fast allen Bevölkerungsschichten: Handwerker, Bauern, Lehrer, Professoren, Redaktoren, Unternehmer und Arbeiter. Sie alle empfanden, dass im «System Escher» das Prinzip der Volkssouveränität verkümmert sei. Je dominanter der Einfluss Eschers wurde, desto mehr nahm die Opposition zu. Traditionelle Spannungen zwischen der Stadt Zürich als Zentrale und den ländlichen Regionen kamen dazu.
Die verschiedenen Opponenten litten unter allerlei Nöten und empfanden zu Recht, dass die Regierung mit «Grösserem» beschäftigt war und sich zu wenig für ihre Anliegen einsetze. Stossend war auch, dass die Bevölkerung bei der Linienwahl für die Eisenbahnen kein Mitspracherecht hatte. Es war für die Bevölkerung und ihre wirtschaftliche Situation in der ganzen Schweiz entscheidend, ob ihre Gemeinde einen Bahnhof erhielt oder nicht – oder erst später. Konflikte waren vorprogrammiert.
Das geistige Zentrum der Demokratiebewegung war die Zeitungsredaktion des «Landboten» in Winterthur mit ihrem Redaktor Salomon Bleuler – die École de Wintertour, wie sie in der französischen Schweiz genannt wurde.2 Bleuler kreuzte oft die Klingen mit den Journalisten der «Neuen Zürcher Zeitung», die der liberalen Regierung nahestand. Die Stadt Winterthur selber gehörte damals zum «Land» und stand oft in Opposition zur Stadt Zürich. Dort war Karl Bürkli, Frühsozialist und Präsident des Konsumvereins, Wortführer der Bewegung.3 Arbeiter machten auch mit, waren aber klar in der Minderheit. Von einer demokratischen Partei konnte man lange Zeit nicht sprechen, dafür fehlten jegliche Strukturen.
1865 legte der Grosse Rat die verfassungsmässigen Grundlagen für eine politische Umwälzung grössten Ausmasses, die man fast als Revolution bezeichnen könnte.4 Der Kanton Zürich war in bezug auf die Volksrechte gegenüber anderen Kantonen und dem Bund im Rückstand. Der liberale Rechtsstaat mit den individuellen Freiheitsrechten, der Gewaltenteilung und der Parlamentsherrschaft (repräsentative Demokratie) hatte sich seit 1831 kaum verändert. Die Bundesverfassung von 1848 sah dagegen bereits vor, dass 50 000 Bürger mit ihrer Unterschrift eine Volksabstimmung verlangen konnten über die Frage, ob die Verfassung generell zu erneuern sei. 1865 schuf der Grosse Rat diese Möglichkeit auch im Kanton Zürich, und das Volk stimmte dem neuen Verfassungsartikel zu. 10 000 Unterschriften genügten danach, um eine Totalrevision der Verfassung zu verlangen. Falls das Volk dem zustimmte, würde es in einem weiteren Urnengang einen 222köpfigen Verfassungsrat wählen mit der Aufgabe, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Ein anspruchsvolles Verfahren, nicht nur für die damalige Zeit!
1867 kam Bewegung in die Politik. Es bildete sich ein Ausschuss von 15 angesehenen Männern aus dem ganzen Kanton. Diese riefen auf den 15. Dezember 1867 zu vier grossen Volksversammlungen (Landsgemeinden) auf – nach Zürich, Uster, Winterthur und Bülach. Trotz Regen und Schnee versammelten sich etwa 20 000 Bürger und forderten die Totalrevision der Verfassung. Das Dreifache der verlangten zehntausend Unterschriften kam schnell zusammen, und bereits am 23. Januar 1868 wurde abgestimmt. Die Stimmbeteiligung betrug hohe 90 Prozent. Das Volk stimmte mit über 80 Prozent klar für die Totalrevision der Verfassung und sagte auch ja zur Wahl eines Verfassungsrates. Die Botschaft sei klar, schrieb Salomon Bleuler im Landboten mit grossen Lettern: «Wir wünschen eine politische Regeneration des Kantons!»
Nun ging es schnell vorwärts. Bereits im März 1868 wurde der 222köpfige Verfassungsrat gewählt – vor allem Leute aus der Demokratiebewegung. Diese machten sich unverzüglich ans Werk, eine neue Verfassung zu entwerfen. Eine Vernehmlassung wurde im ganzen Kanton durchgeführt, so dass jedermann seine Wünsche und Anliegen einbringen konnte. «Referendum und Initiative», schrieb der Landbote im Mai 1868, «bilden die beiden Angelpunkte der politisch-demokratischen Strömung und der massgebenden Volkswünsche».5
Die Arbeit des Verfassungsrates war öffentlich. So sprachen die Redner nicht mehr nur zu den Ratskollegen, sondern auch zur Öffentlichkeit, die Zeitungen publizierten Protokolle und Kommentare.
Neu war – wie Bleuler im Landboten schrieb – die Idee, eine reine Volksherrschaft in einem grossen, wirtschaftlich gut entwickelten Kanton einzurichten. Landsgemeinden gab es schon seit langem in kleineren Kantonen, und sie hatten sich bewährt. Während dort die Abstimmungen und Wahlen an einem Ort (zum Beispiel auf dem Landsgemeindeplatz in Glarus) stattfanden und offen abgestimmt wurde, sollte dies im grossen Kanton Zürich in den zahlreichen Gemeinden dezentral und geheim geschehen. Mit dem neuen Kommunikationsmittel der Telegraphie könnten die einzelnen Resultate schnell zu einem Gesamtergebnis zusammengefügt werden. So war der Plan.
Die Verfassung enthielt folgende Kernpunkte:6
a) Während die Verfassung von 1831 noch festgelegt hatte, die Staatsgewalt werde durch den Grossen Rat als Stellvertreter des Volkes ausgeübt, so lautete Art. 1 der neuen Verfassung wie folgt:
«Die Staatsgewalt beruht auf der Gesamtheit des Volkes. Sie wird unmittelbar durch die Aktivbürger und mittelbar durch die Behörden und Beamten ausgeübt.» (Art. 1)
b) Das Volk, das heisst die Mehrheit der stimmenden Bürger, wählt die Kantonsregierung selbst (Art. 37). Auch auf der Ebene der Bezirke werden die Beamten und der Statthalter direkt vom Volk gewählt (Art. 44) – ebenfalls die Richter. Auf Gemeindeebene werden sogar die Geistlichen und Lehrer der Volksschule von «Gemeindegenossen» gewählt und nach sechs Jahren bestätigt (Art. 64).
c) Der Grosse Rat (Parlament) unterstellt der Volksabstimmung «alle Verfassungsänderungen, Gesetze und Konkordate» sowie Sachabstimmungen und Finanzbeschlüsse, welche den Betrag von 250 000 Franken oder bei jährlich wiederkehrenden Ausgaben 20 000 Franken übersteigen (Art. 30, 31, 40).
d) Das Volk hat mit 5000 Unterschriften das Initiativrecht sowohl in Verfassungsfragen als auch für Gesetze. Es kann also den Gesetzgebungsprozess auslösen und auch obligatorisch über das Endergebnis abstimmen. Es hatte also, falls es wollte, das erste und auf jeden Fall das letzte Wort (Art. 29).
Im sozialpolitischen Bereich hatte der Verfassungsrat ebenfalls Pionierarbeit geleistet und sah eindrückliche Neuerungen vor:
a) Die progressive Besteuerung wird eingeführt (Art. 19).
b) Eine staatliche Bank, die Zürcher Kantonalbank, soll die Bedürfnisse der Bauern und Handwerker stärker berücksichtigen (Art. 24).
c) Der Volksschulunterricht wird obligatorisch und unentgeltlich (Art. 62).
d) Der Kanton fördert das auf Selbsthilfe beruhende Genossenschaftswesen und erlässt Arbeiterschutzgesetze (Art. 23).
e) Das Koalitionsverbot wird aufgehoben – Voraussetzung zur Gründung von Gewerkschaften (Art. 3).
Auch auf Gemeindeebene sollten die neuen Grundsätze voll zum Tragen kommen. So hiess es in Artikel 51:
«Den Gemeindeversammlungen stehen insbesondere zu: Die Aufsicht über die ihnen zugewiesenen Abteilungen der Gemeindeverwaltung, die Festsetzung der jährlichen Voranschläge, die Annahme der Jahresrechnung, die Bewilligung der Steuern, die Genehmigung von Ausgaben, welche einen von ihnen festzusetzenden Betrag übersteigen, sowie die Wahl ihrer Vorsteherschaften […].»
Für die damalige Zeit war diese Verfassung eine wahrhaft revolutionäre Reform. Sie bestand nicht aus einer Anzahl einzelner Forderungen, sondern war ein Gesamtkonzept, das die liberalen Errungenschaften wie Rechtsgleichheit, individuelle Freiheitsrechte und Gewaltentrennung bestätigte und sie mit weitgehenden Volksrechten und mit sozialpolitischen Neuerungen ergänzte und verband. Zu dieser Reform gehörte auch die Wirtschaftsfreiheit. Artikel 21 lautete:
«Die Ausübung jeder Berufsart in Kunst und Wissenschaft, Handel und Gewerbe ist frei. Vorbehalten sind die gesetzlichen und polizeilichen Vorschriften, welche das öffentliche Wohl erfordert.»
65 Prozent der Stimmenden sagten ja zum Reformwerk. Das Ergebnis wurde mit Böllerschüssen und Volksfesten gefeiert. Dazu der Staatsrechtler Alfred Kölz: «Zürich hat als erster Kanton in weitausgreifender Regelung wirtschaftliche und soziale Gegenstände in sein Grundgesetz aufgenommen.» Der «Landbote» würdigte das Ereignis als das bedeutungsvollste Ereignis auf dem Gebiet der neueren Staatseinrichtungen. Die neue Verfassung sei, schrieb Bleuler im Landboten,
«mit einem Wort, der erste konsequente Versuch, die Idee der reinen Volksherrschaft in einer den modernen Kulturverhältnissen entsprechenden Form durchzuführen und die ehrwürdige, aber […] nur für kleine Verhältnisse geeignete Landsgemeinde durch eine Einrichtung zu ersetzen, deren Eckstein die Abstimmung durch die Urne in den Gemeinden ist. […] Der 18. April hat dieses Prinzip in das Staatsleben des Kantons Zürich eingeführt, und wir begrüssen diesen Tag mit der vollen Glut eines freudigen, auf tiefer Überzeugung ruhenden Vertrauens in die segensreiche Wirkung der neuen Volksherrschaft.»7
Die grosse demokratische Umwälzung im Kanton Zürich wurde Wirklichkeit, weil der Boden schon vorbereitet war. Zu nennen sind ähnliche Demokratiebewegungen in anderen Kantonen zur gleichen Zeit, das genossenschaftliche Staatsverständnis der Eidgenossenschaft, die Tradition der Landsgemeinden in etlichen kleineren Kantonen, die oft seit Jahrhunderten gut funktionierten, und frühere Ansätze zur direkten Demokratie in verschiedenen Kantonen.8
Im Mai 1869 wurde die Regierung zum ersten Mal durch das Volk gewählt, und ein Wechsel zeichnete sich ab. Die Liberalen, die das politische Geschehen als Volksvertreter gemäss der liberal-repräsentativen Verfassung in den vergangenen Jahrzehnten fast nach Belieben bestimmt hatten, wurden abgewählt und ersetzt durch Demokraten. Diese stellten auch beide Ständeräte. Die Mehrheit der Zürcher Vertretung im Nationalrat waren ebenfalls Demokraten. In den Wahlen zum Kantonsrat erhielten sie die absolute Mehrheit. Der «Landbote» entwickelte sich von einer oppositionellen Regionalzeitung zu einem Blatt, das im ganzen Kanton und auch in anderen Kantonen mit Interesse gelesen wurde. Es war eine der ganz wenigen Revolutionen, die demokratisch und ohne einen einzigen Gewehrschuss verliefen. (Fast zur gleichen Zeit versuchte die Bevölkerung von Paris eine neue Ordnung mit Volksrechten einzuführen. Die Commune de Paris von 1871 endete in einem Blutbad.)
Etwas fällt auf: Alfred Escher und sein «System» waren zwar die «grossen Verlierer» in der Jahrhundertabstimmung von 1869 und in den Wahlen danach. Escher wurde jedoch im gleichen Jahr erneut (und danach immer wieder) mit einem Glanzresultat in den Nationalrat gewählt, und er sollte auf Bundesebene mit dem Bau des Gotthardtunnels neue grosse Aufgaben übernehmen. Dies zeigt, dass es weniger um die Person Eschers ging als um das «System». Die Zürcher wollten die Staatsstrukturen ändern, würdigten gleichzeitig Alfred Escher und seine Leistungen. Die Liberalen und Demokraten näherten sich einander in den folgenden Jahren an, verwalteten den Kanton gemeinsam und schlossen sich später zur Freisinnig-Demokratischen Partei FDP zusammen. Die FDP Schweiz wurde erst 1894 gegründet. Wir finden die Demokraten auch auf der linken Seite des politischen Spektrums: Die Sozial-Demokratische Partei der Schweiz SPS wurde 1888 gegründet.
In den 1870er Jahren übernahm Escher als Präsident und Organisator der Gotthardgesellschaft die oberste Verantwortung beim Bau des Gotthardtunnels. Der von ihm ausgehandelte Gotthardvertrag sah vor, die auf 187 Millionen Franken (zum damaligen Wert) berechneten Baukosten zum Teil durch öffentliche Subventionen zu decken. Italien trug 45, Deutschland 20 und die Schweiz 20 Millionen dazu bei. Dazu kamen Aktien für 34 und Obligationen für 68 Millionen, die die Gotthardgesellschaft und die Kreditanstalt herausgaben. Escher ging ein grosses Risiko ein – auch die Kapitalgeber (die Aktien zeichneten oder Obligationen erwarben) konnten nicht sicher sein, ob sie ihr Geld zurückbekommen würden – weil niemand wusste, was die Mineure im Innern des Berges antreffen würden. Diese Risiken liessen sich am Aktienkurs der Schweizerischen Kreditanstalt ablesen. Kamen die Bautrupps gut voran, stieg die Aktie. Traten Schwierigkeiten auf, wie zum Beispiel bei einem Wassereinbruch, einem Streik der Arbeiter oder als Kostenüberschreitungen von 40 Millionen bekannt wurden, fiel er. Die Bauarbeiten wurden jedoch nach acht Jahren termingerecht fertiggestellt. Die Bauarbeiter und die am «Poly» ausgebildeten Ingenieure hatten hervorragende Arbeit geleistet. Die beiden Bautrupps, die über Jahre mit einfachen Maschinen und Werkzeugen im 15 Kilometer langen Haupttunnel aufeinander zuarbeiteten, trafen sich in der Mitte des Gotthards mit einer Abweichung von einigen Zentimetern. Die Sicherheitsvorkehrungen waren allerdings noch mangelhaft. Es gab relativ viele Unfälle mit zahlreichen Toten. 1882 wurde die zentrale Nord-Süd-Verbindung mit 62 Tunnels, 34 Brücken und 10 Viadukten eingeweiht – ein Grossereignis und ein Freudenfest für die Schweiz und ganz Europa. Weitere kühne Bahnprojekte wurden in den folgenden Jahren von Unternehmern realisiert, die Escher nacheiferten – wie zum Beispiel die Berninabahn auf 2250 m Höhe oder die Jungfraubahn auf 3500 m.
Die Person von Alfred Escher verkörperte Pioniergeist, Privatinitiative und freies Unternehmertum, wirtschaftlichen Aufbruch und Dynamik, gute Bildung in Schule und Beruf, technologischen Fortschritt und auch den Mut, neue Wege im Bankwesen zu beschreiten, während die Demokratiebewegung sich für Machtteilung, konsequente Gewaltentrennung und direkte Mitsprache und Mitverantwortung des Volkes, Arbeiterschutzgesetze, für sozialen und regionalen Ausgleich und stärkeren Einbezug der Anliegen aller Bevölkerungsschichten einsetzte. – Beide waren im 19. Jahrhundert machtvolle Geisteshaltungen. Die Spannungen mündeten jedoch nicht in Klassenkampf – wie es die marxistische Geschichtsbetrachtung nahelegt hat. Sondern die beiden Strömungen näherten sich auf dem genossenschaftlichen Boden der Eidgenossenschaft an, ergänzten sich im politischen Spiel und bereiteten den Boden für die Entwicklung zur modernen Schweiz.
Fünf Jahre nach der Annahme der neuartigen Zürcher Verfassung und nach ähnlichen Revisionen in anderen Kantonen revidierten die eidgenössischen Räte 1874 die Bundesverfassung total. Sie verbanden darin – ähnlich wie die Zürcher – die Wirtschaftsfreiheit mit der direkten Demokratie und entwickelten für das ganze Land ein in sich zusammenhängendes, freiheitlich-demokratisches Wirtschaftskonzept, das weltweit einmalig ist und heute noch gilt. Es stützt sich auf drei Säulen:
Das Volk sagte am 19. April 1874 ja. Damit waren die Verfassungsgrundlagen für die über 200 Wirtschafts- und Sozialabstimmungen gelegt, die seither im Bund stattgefunden haben (Linder 2010) – über Fragen der Wirtschaftsordnung, der Arbeitswelt, der Bildung in Schule und Beruf, der Industriepolitik, der Sozialversicherungen, der Steuern und Finanzen, der Landwirtschaft und der Umwelt, des Bank- und Geldwesens, der Zuwanderung und auch über Wirtschaftsverträge mit anderen Ländern. Unzählige Abstimmungen auf Kantons- und Gemeindeebene kamen dazu. Das Konzept wurde immer wieder getestet und manchmal auch grundsätzlich in Frage gestellt – so auch aktuell von der EU, die die Schweiz mit einem Rahmenvertrag politisch noch stärker einbinden will und dabei nicht beachtet, dass ihr zentralistisches Gehabe und ihre Politik von oben schlecht zu einem freiheitlichen Wirtschaftskonzept passen, das sich direkt im Volk abstützt.
Ein Gesamturteil ist nach 150 Jahren möglich: Die heutige Ordnung ist nicht perfekt, aber sie kann sich sehen lassen, und die Schweiz steht im internationalen Vergleich ausgezeichnet da – so dass gilt: Die hoch effiziente und eindrucksvolle Art der Wirtschaftspolitik, wie Alfred Escher sie angestossen hat, mag noch so gut sein, wirklich Erfolg hat sie, wenn das Volk mitdenkt und sie mitverantwortet – wofür die Demokratiebewegung im 19. Jahrhundert den Weg bereitet hat. Dies soll im folgenden an einem konkreten Beispiel gezeigt werden:
Seit den Anfängen verlangten die «Staatsbähnler» in Bundesbern immer wieder, die Eisenbahnen staatlich zu betreiben. Aber erst 1891 lag ein konkretes Projekt vor, als die privaten Eisenbahngesellschaften das heutige Eisenbahnnetz von gegen 3000 Kilometern nahezu fertig gebaut hatten: Bundesrat Stampfli schlug den eidgenössischen Räten vor, in einem ersten Schritt die Schweizerische Centralbahn zu verstaatlichen – die nach der Nordostbahn zweitgrösste Eisenbahngesellschaft der Schweiz. Sie deckte das Mittelland ab und führte von Basel durch den Hauensteintunnel über Luzern zum Gotthard und hatte damit auch politisch eine strategische Bedeutung. Zudem war die Centralbahn eine der Hauptaktionärinnen der Gotthard-Gesellschaft von Alfred Escher. Es gab gute Gründe, die Netze der verschiedenen Bahngesellschaften zusammenzulegen und vom Bund betreiben zu lassen. Das Parlament stimmte zu, und es kam zur Volksabstimmung.
Am 6.12.1891 erlebten die «Staatsbähnler» samt Parlament und Bundesrat eine böse Überraschung. Der Souverän stimmte ganz anders, als sie gehofft hatten. Mehr als 60 Prozent der Stimmenden und die meisten Kantone lehnten die Verstaatlichung ab. Interessant waren die Ergebnisse in einzelnen Kantonen. Die Stimmbürger des Kantons Zürich stimmten mit knapp 80 Prozent dagegen, der Kanton Bern mit 60 Prozent dafür. Die vier Gotthardkantone Tessin, Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden stimmten alle mit über 90 Prozent gegen die Verstaatlichung. Sie waren offensichtlich nicht bereit, die Kontrolle über den Gotthard abzugeben, der in ihrem Leben und in ihrer Geschichte schon seit Jahrhunderten eine zentrale Rolle gespielt hatte. Der Kanton Wallis stimmte gar mit 95 Prozent dagegen, der Kanton Schaffhausen mit 91 Prozent. Die Gründe mögen ganz unterschiedlich gewesen sein. Bundesrat Stampfli war enttäuscht und trat zurück. Es zeigte sich, dass die Schweiz wirtschaftlich noch keineswegs ein homogener Raum war (und auch heute nicht ist). Hätte das Parlament die Verstaatlichung einfach durchgesetzt, wie es in einer repräsentativen Demokratie üblich ist, wäre es mit Sicherheit zu schweren politischen Unruhen gekommen.
Die Stimmung änderte sich jedoch: Bereits sieben Jahre später – am 20.2.1898 – stimmte der Souverän mit über 60 Prozent einer noch weitergehenden Vorlage zu, die zur Gründung der Schweizerischen Bundesbahnen SBB führen sollte. Die Stimmbeteiligung betrug über 80 Prozent, in Kanton Zürich gar 89 Prozent, was die Bedeutung die Vorlage zeigt.9 Vier der grössten privaten Bahngesellschaften – die Centralbahn, die Nordostbahn, die Vereinigten Schweizerbahnen und die Jura-Simplon-Bahn und etwas später auch die Gotthardbahn sollten für rund 1,2 Milliarden Franken an den Bund verkauft werden. Mitgeholfen zum deutlichen Volks-Ja hatte ein höchst unpopulärer Streik. Die Mitarbeiter der Nordostbahn, die damals fast vierzig Prozent des schweizerischen Schienennetzes abdeckte, streikten während drei Tagen (vom 11. bis 13. März 1897) und legten landesweit fast den ganzen Schienenverkehr lahm. Alle Räder standen still, und der vertraute Lärm in den Bahnhöfen verstummte. (Heute sind Streiks im Bahnverkehr verboten.)
Die Stimmung hatte sich in wenigen Jahren deutlich gewandelt. Nach der zweiten Abstimmung wurde ein grosser Teil des zuvor von privaten Gesellschaften gebauten Schienennetzes an den Bund verkauft. Die Gotthardkantone waren zwar noch immer dagegen – auch der Kanton Wallis und weitere Kantone aus der französischen Schweiz. Aber der Entscheid wurde akzeptiert, und der Weg zur Gründung der SBB im Jahr 1902 war frei. Heute gibt es nach wie vor drei Arten von Bahnen: Privatbahnen als Aktiengesellschaften, an denen Private, Gemeinden und Kantone beteiligt sind, kantonale S-Bahnen und die SBB. Sie alle sind heute in einem Fahrplan- und Tarifverbund miteinander verbunden. – Das Bahnwesen geniesst in der ganzen Schweiz ein hohes Ansehen, und die Region Zürich verfügt heute über das dichteste Bahnnetz auf der ganzen Welt – nicht zuletzt dank dem Mann, dessen Standbild vor dem Hauptbahnhof Zürich steht. •
1 Jung, Joseph. Alfred Escher 1819–1882, Aufstieg, Macht, Tragik. Zürich 2007, S. 162–287
2 Guggenbühl, Gottfried. Der Landbote 1836–1936. Hundert Jahre Politik im Spiegel der Presse. Winterthur 1936, S. 125 ff
3 Schiedt, Hans-Ulrich. Die Welt neu erfinden, Karl Bürkli (1823–1901) und seine Schriften. Zürich 2002
4 Kölz. Alfred. Neue Schweizerische Verfassungsgeschichte II. Ihre Grundlinien in Bund und Kantonen seit 1848. Bern 2004 – mit Quellenband, S. 48ff
5 Guggenbühl a.a.O., S. 196
6 Kölz a.a.O., S. 63–74
7 Guggenbühl a.a.O., S. 203
8 Roca, René. Wenn die Volkssouveränität wirklich eine Wahrheit werden soll … Die schweizerische direkte Demokratie in Theorie und Praxis. Zürich 2012, S. 201–207
9 von Muralt, Leonhard. Zürich im Schweizerbund. Zürich 1951, S. 183
Weitere Literatur:
Linder, Wolf; Bolliger, Christian; Rielle, Yvan. Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848–2007. Bern 2010
Vor allem der Frühsozialist Karl Bürkli setzte sich vehement für Genossenschaften ein. Das Protokoll von Karl Bürklis Rede zum Genossenschaftsartikel zirkulierte als Flugblatt. Er forderte darin die staatliche Förderung der Genossenschaften und die Einrichtung der Kantonalbank, um den Handwerkern und Bauern und den zahlreich entstehenden Genossenschaften zu günstigen Krediten zu verhelfen.
Die Genossenschaftsbewegung – so hoffte Karl Bürkli – würde sich auf breiter Linie gegen den Kapitalismus durchsetzen. Die Genossenschaften müssten jedoch vom Staat nicht subventioniert, sondern lediglich bei der Beschaffung von Anfangskapital unterstützt werden. Weg und Fernziel war für ihn die allmähliche «Republikanisierung der Industrie durch Arbeitergenossenschaften» bzw. die Bildung von «Produktivassociationen».1 Dafür gewann er allerdings keine Mehrheit – für die staatliche Förderung der Genossenschaften dagegen schon. Mit der direkten Demokratie werde die Klassenherrschaft durch die integrale Volksherrschaft abgelöst – so Bürkli. Das Volk irre sich in Sachabstimmungen weit weniger als in Wahlen.2
Die Förderung der Genossenschaften hat bis heute Tradition: 2012 beschlossen die Stimmbürger der Stadt Zürich mit einer grossen Mehrheit, den genossenschaftlichen Wohnungsbau zu fördern und so den Anteil der Genossenschaftswohnungen an den gesamten Mietwohnungen der Stadt von bereits hohen 24 auf 33 Prozent zu erhöhen. Kurz darauf wurde eine Volksinitiative im Kanton angenommen, die verlangte, dass ein Fonds zur Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus eingerichtet werde.
1 zit. in Kölz II 2004, S. 78
2 Roca, René (Hsg.), Frühsozialismus und moderne Schweiz. Basel 2018, S. 81 f
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