«Die Ultralinke spielt eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung von Gewalt»

«Die Ultralinke spielt eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung von Gewalt»

Interview von Alexandre Devecchio («Le Figaro») mit Eric Delbecque, Frankreich*

jpv. Am Samstag, dem 16. März 2019, sind am Rande der Kundgebung auf den Champs-Elysées in Paris extreme Gewalttaten verübt worden. Die Medien verbreiteten Bilder einer Vielzahl zerbrochener Schaufenster, ausgeraubter Läden, in Brand gesteckter Häuser, Restaurants und Kioske.
Verschiedene Schweizer Medien haben pauschal von gewalttätigen Gelbwesten gesprochen. Dies entspricht nicht der Realität. In den französischen Medien wurde in der Berichterstattung richtigerweise eine klare Trennung zwischen den Gelbwesten und den zeitweise in der Kundgebung untergetauchten (auch aus angrenzenden Ländern angereisten) Gruppen vom Schwarzen Block und von Ultralinken gemacht. Die veröffentlichten Analysen waren fast einhellig der Meinung, dass die Polizeiführung versagt habe, da die Polizei nicht in der Lage gewesen sei, die massiven Zerstörungen zu verhindern. Von den Oppositionsparteien ist deshalb auch der Rücktritt des politisch verantwortlichen Innenministers Christophe Castener gefordert worden. Präsident Macron entschied sich, ihm sein Vertrauen nicht zu entziehen – er entliess jedoch den Chef der Polizeipräfektur und einen weiteren Polizeichef. Im untenstehenden Interview kommt ein französischer Experte für innere Sicherheit zu Wort.

Alexandre Devecchio: Kam die Gewalt, die während der Pariser Demonstration [Akt XVIII vom 16.3.19] ausgeübt wurde, von radikalisierten Gelbwesten, oder tragen sie die Handschrift der Ultralinken, die Sie in Ihrem Buch beschreiben?

Eric Delbecque: Die Ultralinke spielt eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung der Gewalt. Ich glaube, dass der Ausdruck «radikalisierte Gelbwesten» nicht der Realität entspricht. Aktuell sind wir mit drei Typen von gewaltbereiten Menschen konfrontiert: ultralinke Truppen, gewalttätige Menschen, die eine gelbe Weste tragen, um sich ein politischen Mäntelchen umzuhängen, und plündernde Vandalen [«casseurs»]. Es gibt wahrscheinlich auch einzelne Elemente aus ultrarechten Gruppierungen, aber die sind marginal.

Sind da auch Zadisten1 und Vertreter der Schwarzen Blöcke? Wo ist da der Unterschied?

Schwarze Blöcke sind keine Bewegung, sondern eine Betriebsart. Ihr Ziel ist es, die ­Polizei herauszufordern und einen echten Informationskrieg zu führen, dessen vorrangige strategische Ziele lauten: ihre Kampfkraft beweisen, die Polizei und die Gendarmerie provozieren in der Hoffnung auf Ausrutscher, die als Begründung für die unlautere These von «polizeilicher Gewalt» dienen können. Halten wir bei dieser Gelegenheit fest, dass dieser Begriff in unserer Demokratie keinen Sinn ergibt. Manchmal kommt es zu Verstössen gegen den Verhaltenskodex (die dann auch bestraft werden). Polizisten und Gendarmen jedoch als gewalttätige Schläger zu bezeichnen ist eine Riesendummheit. Unter den Kapuzen und schwarzen Gesichtsmasken finden sich militante Ultralinke, die Zadisten sein können oder es früher waren, gewalttätige Antispeziesisten [aus der Tierbefreiungsbewegung], autonome Anarchisten, intellektuelle Erben des revolutionären Syndikalismus und Anhänger der vielfältigen Strömungen der Ultralinken-Protestgalaxie.

Warum werden diese kleinen Gruppen, die den Polizeidienststellen bekannt sind, nicht festgenommen und verhaftet?

Einige sind identifiziert, anderen gelingt es, vom «Radar» nicht erfasst zu werden, andere sind neue Rekruten. Man sollte diese politische Gewaltbereitschaft viel genauer erfassen. Daran krankt die ganze Sache: In den letzten Jahren haben wir uns auf den islamistischen Terrorismus konzentriert, was durchaus verständlich ist, aber gleichzeitig haben wir das Schadenspotential anderer radikaler Gruppen, vor allem der ultralinken, unterschätzt. Wir müssen einsehen, dass jede politische Radikalität (radikaler Islamismus, Ultralinke und Ultrarechte) eine grosse Bedrohung für unser Land darstellt.

Wie definiert man diese Gruppen ideologisch? Sie nennen sie «unregierbar» oder «Hipunk».2 Warum?

Ihr erstes Merkmal ist die Ablehnung jeglicher Autorität, somit auch die des Staates an sich. Sie lehnen nicht nur den Kapitalismus ab, sondern jegliche «Dominanz». Sie wollen niemandem «gehorchen». So lässt sich das zadistische Projekt erklären: Die «zu verteidigende autonome Zone» ist eine «Zone der temporären Autonomie», die definitiv werden soll  … In diesem Raum geht es darum, den Gesetzen der Republik zu entkommen. Es ist ein Traum von extremer Selbstverwaltung. Jeder hat seine eigenen Mythen! Das Problem ist, dass ein Teil dieser Aktivisten bereit ist, Gewalt anzuwenden, um ihr Ziel zu erreichen: die Vermehrung der ZADs und die Schwächung des Staates beziehungsweise der Macht im allgemeinen.

Für diese Leute sind ihre Gruppierung oder «Gemeinschaft» wichtiger als der einzelne Mensch oder die Nation?

Dies passiert gezwungenermassen, wenn man das Fundament des Nationalstaates ablehnt. Das Fehlen des Staates, die Anarchie, ist nicht gleichbedeutend mit Emanzipation. Die «Unregierbaren» schaffen es schliess­lich, Gruppen zu bilden, die ihre Vorstellungen des Kollektivs über die einzelnen Teile der Gesellschaft und die einzelnen Menschen stellen.

Unruhen in Grenoble, Gewalt in Paris … Die «verlorenen Territorien der Republik» und die «zu befreienden autonomen Zonen» (ZAD) scheinen sich zu vermehren? In Ihrem Buch erwähnen Sie das Gespenst eines «gefleckten Frankreichs» [«France léopard»]. Was ist damit gemeint?

Die Gebiete, die die Republik [der Staat] nicht mehr unter Kontrolle hat, neigen dazu, immer «autonomer» zu werden. Wir verzichten allmählich darauf, sie eines Tages zurückzuholen … Die damit ausgegebene Botschaft lautet: «Wenn man die republikanische [staatliche] Autorität lange genug in Schach halten kann, kann man schliesslich vom allgemeinen Recht unabhängig werden.» Das «gefleckte Frankreich» ist die Zukunft einer Nation, die sich damit abfindet, dass ihr Territorium zu einem gesellschaftspolitischen und ideologischen Emmentalerkäse wird: eine salafistische Enklave hier, eine zadistische Gemeinschaft dort und ein Quartier, das zur kriminellen «No-go-Area» wird, die sich ausserhalb des Rechtssystems befindet. Das pure Gegenteil der Zivilisation, von der Europa seit Jahrhunderten träumt …    •

* Eric Delbecque ist Historiker, Experte für innere Sicherheit und Autor des Buches «Les Ingouvernables, de l'extrême gauche utopiste à l'ultragauche violente» [Die Unregierbaren – von der utopistischen extremen Linken zur gewalttätigen Ultralinken. Eintauchen in ein anderes Frankreich] (2019).

Quelle: © Le Figaro vom 18.3.19

(Übersetzung Zeit-Fragen)

1    Zadisten: ZAD ist die Abkürzung von «zone d’autonomie à défendre» [zu verteidigende autonome Zone], womit Stadt- oder Landgebiete gemeint sind, die von militanten Kräften (Zadisten) besetzt gehalten werden. [Anm, d. Übers.]
2    Hipunk: Zusammenzug der romantischen Hippie-Utopie und des Punk-Radikalismus. Diese Richtung verzichtet auf die marxistische Revolution von oben – die Diktatur des Proletariats – und verwendet eine neue offensive Taktik: die Untergrabung der Staatsautorität von unten, indem man «verlorene Territorien der Republik» (No-go-Areas) vervielfacht. [Anm, d. Übers.]

jpv. Gemäss den Angaben des französischen Innenministers Castener vor der parlamentarischen Senatskommission wurden im Umfeld der Champs-Elysées am Samstag, den 16. März 2019, folgende Schäden angerichtet:
–    27 Geschäfte wurden ausgeraubt,
–    mehr als 130 Läden wurden mehr oder weniger stark zerstört,
–    an 79 Orten wurde Feuer gelegt, und 5 Gebäude brannten,
–    30 Polizisten, Gendarmen und Feuerwehrleute wurden verletzt, was die grösste Verletzungsrate sei seit Beginn der Samstagskundgebungen der Gelbwesten.

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