Bundesrat verschiebt die gesetzliche Regelung von E-Voting als ordentliches Abstimmungsverfahren

Noch ist Zeit für ein Umdenken in Bundesbern

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Am 27. Juni hat der Bundesrat entschieden, auf die Einführung der elektronischen Stimm­abgabe als drittes ordentliches Abstimmungsverfahren (neben Urne und brieflicher Abstimmung) «vorläufig zu verzichten». Dies auf Grund vieler kritischer Vernehmlassungsantworten von Kantonen und Parteien nach den schwerwiegenden Pannen der beiden Software-Systeme des Kantons Genf und der Post. Kurz zuvor, am 19. Juni, hatte der Kanton Genf bekanntgegeben, dass er seine Software bereits für die eidgenössischen Wahlen am 20. Oktober nicht mehr zur Verfügung stellt. Allerdings ist E-Voting damit nicht vom Tisch: Der vorläufige Verzicht dauert zunächst nur bis Mitte August. Dann will der Bundesrat entscheiden, ob die Kantone für die Wahlen E-Voting trotz aller Unwägbarkeiten anbieten dürfen. Auch will er den Versuchsbetrieb in den Kantonen möglichst bald wieder in Gang bringen.
Will der Bundesrat wirklich die totale Digitalisierung aller Verwaltungsabläufe samt der Durchführung von Abstimmungen und Wahlen über die Sicherheit der demokratischen Stimmabgabe und über das Vertrauen der Bürger zum Staat stellen? Noch ist Zeit, sich auf die Grundlagen der demokratischen Stimmabgabe und auf die Grundrechte der Bürger zu besinnen.
Mit der Unterzeichnung der eidgenössischen Volksinitiative «Für eine sichere und vertrauenswürdige Demokratie (E-Voting-Moratorium)» haben wir Bürgerinnen und Bürger die Gelegenheit, die Gewährleistung unserer politischen Rechte durch den Staat einzufordern und fragwürdigen Experimenten ein Ende zu setzen.1

«Warum mit der Einführung eines neuen Stimmkanals unnötige Risiken eingehen, wenn kein Mehrwert damit verbunden ist? Unsere Demokratie ist ein zu wertvolles Gut, das nicht durch die ehrgeizige Einführung von E-Voting in der Schweiz gefährdet werden darf.»

Artikel 34 der Bundesverfassung gewährleistet die politischen Rechte der Bürger (Absatz 1) und schützt das Grundrecht der Bürger auf «die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe» (Absatz 2). Der vom Bundesrat in Vernehmlassung gegebene Entwurf zur Revision des Bundesgesetzes über die politischen Rechte2 würde dieses Grundrecht in seinen Fundamenten gefährden. Es ist deshalb zu begrüssen, dass der Bundesrat vorläufig auf das Vorantreiben dieser Vorlage verzichtet. Allerdings hat er gleichzeitig die Bundeskanzlei beauftragt, mit den Kantonen eine «Neuausrichtung des Versuchsbetriebs zu konzipieren» und bis Ende 2020 einen Bericht dazu vorzulegen.3 – Weiter auf demselben Gleis? Davon ist dringend abzuraten.

«Vorläufiger Verzicht reicht nicht: E-Voting sofort den Stecker ziehen»

So die Reaktion des Initiativkomitees vom 27. Juni auf die Medienmitteilung des Bundesrates.4 Und weiter: «Nicht nachvollziehbar ist […], dass der Bundesrat nach wie vor an E-Voting festhalten will, obwohl erst kürzlich publik geworden ist, dass das E-Voting-System des Kantons Genf per sofort eingestellt wird.» Das Komitee kommt zum Schluss: «Nur ein in der Bundesverfassung verankertes Moratorium garantiert, dass es zu keinen Manipulationen von Volksabstimmungen kommen kann.»
Die Initiative für ein E-Voting-Moratorium, für die seit dem März Unterschriften gesammelt werden, fordert ein Verbot der elektronischen Stimmabgabe für mindestens fünf Jahre; dieses Verbot darf nach Ablauf der Frist nur unter strengen Bedingungen, die im Initiativtext aufgelistet sind, durch das Parlament (mit der Möglichkeit des fakultativen Referendums) aufgehoben werden. Insgesamt müsste gewährleistet sein, dass «mindestens die gleiche Sicherheit gegen Manipulationshandlungen besteht wie bei der handschriftlichen Stimmabgabe».5

Genf zieht sein E-Voting-System per sofort zurück

Der Kanton Genf hatte im November 2018 angekündigt, sein E-Voting-System auf Februar 2020 aus dem Verkehr zu ziehen. Am 19. Juni hat er nun aber in Absprache mit den Kantonen Aargau, Bern und Luzern, die derzeit das Genfer System noch nutzen, den sofortigen Stopp bekanntgegeben.6
Dies ist ein deutliches Eingeständnis des Versagens von E-Voting. Wenn die Genfer Staatskanzlei betont, 25 Abstimmungen seien mit ihrer Software «problemlos durchgeführt» worden, verschweigt sie, dass das System vom Bundesrat infolge von Sicherheitsrisiken mehrmals gestoppt werden musste. Und darüber, dass der Kanton Bern gemäss derselben sda-Meldung «eine Zusammenarbeit mit der Post als verbleibendem E-Voting-Anbieter» prüft, kann man nur den Kopf schütteln. Denn die Post ist vor kurzem mit ihrem Angebot an die globale Hackergemeinschaft zu versuchen, ihr System innert eines Monats zu knacken, schon nach wenigen Tagen gescheitert.
Der Einsatz von E-Voting ist aber in den Oktoberwahlen auch praktisch nicht möglich: Gemäss der Aargauer Staatskanzlei könnten die Vorbereitungen in den Kantonen in der kurzen Zeitspanne gar nicht in der erforderlichen Qualität getroffen werden, wenn der Bundesrat erst Mitte August entscheide, ob E-Voting zulässig sei oder nicht.
Diese Mitteilung aus Aarau ist bemerkenswert: Wäre es dann nicht sinnvoller gewesen, wenn der Bundesrat den elektronischen Stimmkanal gleich im Juni mindestens für dieses Jahr endgültig gestrichen hätte, weil es nun einmal auf dem Tisch liegt, dass nicht verantwortbare Sicherheitslücken bestehen? Auch wenn das EJPD (eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement) seit Jahren verkündet hat, bei den Wahlen 2019 solle erstmals grossflächig elektronisch gewählt werden können, wäre ein Ende mit Schrecken weit sinnvoller als das weitere Hinausschieben.

Deutliche Worte in den Medien: «Das Ende des E-Votings ist eine Befreiung»

So betitelt die SonntagsZeitung ihre bemerkenswerte Stellungnahme und widerlegt in ein paar wenigen Zeilen die am häufigsten genannten Argumente für E-Voting: «Doch wer die Argumente für E-Voting prüft, merkt schnell, dass sich eigentlich alle über den Entscheid des Bundesrats freuen sollten. So bedeutet E-Voting nicht, wie oft gedacht, das Ende des Papiers. Die Abstimmungsunterlagen würden weiterhin per Post verschickt. Blinde Personen würden also auch mit E-Voting Unterstützung beanspruchen. Genauso würden Auslandschweizer weiterhin nicht ganz auf den Postverkehr verzichten können, um elektronisch abzustimmen.»7 Die SonntagsZeitung empfiehlt anschliessend den Behinderten, die Gelegenheit zu nutzen und mehr praktische Unterstützung bei Abstimmungen zu fordern, und den Auslandschweizern, die Möglichkeit des Ausdrucks ihrer Abstimmungsunterlagen in den Schweizer Botschaften durchzusetzen.
«20 Minuten» weist auf die vermutlich gewaltigen Kosten des bisher gescheiterten E-Voting-Einsatzes hin, deren Höhe weder der Bund noch die Post auf Anfragen von Parlamentariern verraten wollten.8 Die Preise seien Sache der Kantone und der Anbieter. «20 Minuten» gibt an, dass Basel-Stadt der Post zum Beispiel über 5 Millionen Franken für Installation und Betrieb bezahlte, St. Gallen 2,2 Millionen, Aargau 2,3 Millionen.
Zu ergänzen ist: Es handelt sich dabei um Steuergelder, die gleich zweifach in den Sand gesetzt wurden: Einmal aus den kantonalen Steuerkassen und zum zweiten Mal aus der Bundeskasse. (Die Post ist eine spezialgesetzliche Aktiengesellschaft, die zu 100 Prozent dem Bund gehört.)

Bedenkenswertes und Fragwürdiges aus den Vernehmlassungsantworten der Parteien und Kantone

Die Vernehmlassung der Bundeskanzlei dauerte vom 19. Dezember 2018 bis zum 30. April. Im Ergebnisbericht vom 18. Juni werden die Antworten der Teilnehmer zusammengestellt.9
Die Mehrheit der Parteien (BDP, CVP, EVP, FDP, Grünliberale glp, Grüne und SP) «halten mit Verweis auf die Entdeckung der Mängel am Post-System fest, dass die Anforderungen an die Sicherheit eines E-Voting-Systems heute nicht erfüllt sind und dass sie die Vernehmlassungsvorlage aus diesem Grund zum heutigen Zeitpunkt nicht unterstützen.» Die SVP wird noch deutlicher: «Aus Sicht der SVP besteht grundsätzlich kein Handlungsbedarf zur Erweiterung der bestehenden Möglichkeiten zur Stimm­abgabe, und der Mehrwert von E-Voting steht ihrer Ansicht nach in keinem Verhältnis zum Risiko.» Unverständlich ist dagegen der Vorschlag von BDP und FDP, den heutigen Versuchsbetrieb (trotz der erwiesenen Untauglichkeit der vorhandenen Systeme!) weiterzuführen (Ergebnisbericht, S. 8).
Bei der Mehrheit der Kantone – auch bei solchen, die grundsätzlich E-Voting unterstützen – kommt die zentrale Bedeutung eines sorgsamen Umgangs mit der Ausübung der politischen Rechte durch die Bürger zum Ausdruck. Die Konferenz der Kantonsregierungen KdK und einige Kantone spulen aber andererseits auch Mainstream-Sätze herunter wie: «E-Voting ist Teil der gemeinsamen Leitlinien von Bund, Kantonen und Gemeinden bzw. der kantonalen Strategien, wonach die digitale Verwaltung gefördert wird, um dem Bedürfnis der Bevölkerung gerecht zu werden.» (Ergebnisbericht, S. 6) – Dem Bedürfnis der Bevölkerung? Oder eher dem Gewinnstreben der IT-Produzenten und den Plänen der Bundeskanzlei im Zusammenspiel mit zahlreichen Ämtern in Bund und Kantonen?
Manche Kantonsregierungen stellen widersprüchliche Forderungen: «Die Wahrung des Stimmgeheimnisses muss bei einer gleichzeitigen, vollständigen Nachvollziehbarkeit der Stimmabgabe garantiert sein, und Manipulationen müssen so weit als möglich verhindert oder zumindest festgestellt werden können.» (Ergebnisbericht, S. 6)
Hier sind wir wieder einmal bei der Quadratur des Kreises angelangt, einer offenbar gängigen Gedankenspielerei auch in den kantonalen Verwaltungen. Gemäss IT-Spezialisten widersprechen sich nämlich die Wahrung des Stimmgeheimnisses und die gleichzeitige, vollständige Nachvollziehbarkeit der Stimmabgabe prinzipiell. So hält der ehemalige Finanzdirektor der Stadt Bern, Alexandre Schmidt, fest: «Die am Abstimmungssonntag mühselig ausgezählten Stimmzettel bürgen für die Glaubwürdigkeit des Resultats. Denn physisch vorhandene Stimmzettel können bei Bedarf nachgezählt werden – elektronische nicht; das Stimmgeheimnis kann dort bei einer Nachzählung nicht gewahrt werden.»10

Vertrauen der Bürger kommt vor einer Digitalisierung mit «Restrisiko»

Die Kantone tragen die Verantwortung für die zuverlässige, sichere und demokratisch einwandfreie Organisation der Volksabstimmungen auch auf Bundesebene. Deshalb lassen wir hier drei Kantonsregierungen zu Wort kommen, welche den Entwurf der Bundeskanzlei grundsätzlich ablehnen. (Alle wörtlichen Antworten der Kantone, Parteien und übrigen Teilnehmer finden sich bei geduldigem Suchen in den «Stellungnahmen» zum Ergebnisbericht.)11
Kanton Waadt: «Das Vertrauen der Bürger in den Ablauf der Abstimmung und in die daraus resultierenden Abstimmungsergebnisse ist ein zentrales Element für das Funktionieren der Schweizer Demokratie und ist daher unbedingt zu wahren.» Den Bürgern sei «die strikte Einhaltung ihrer Grundrechte zu garantieren, insbesondere die Ausübung der ­politischen Rechte und der Schutz der persönlichen Daten.» Diesen Anforderungen genüge die Vorlage nicht. (Übersetzung Zeit-Fragen)
Kanton Nidwalden: «Nur absolut sichere Systeme sind gut genug, um das Vertrauen der Stimmberechtigten in (knappe) Resultate wahren zu können. Auf Grund der wohlbekannten neuen Situation (Ausstieg des Kantons Genf aus dem Projekt ‹vote électronique› sowie offensichtliche Probleme der Post mit dem Quellcode) besteht aktuell unbestrittenermassen keine Sicherheit, diese Vorlage voranzutreiben. Wir beantragen lhnen, die Vorlage zurzeit nicht mehr weiterzuverfolgen und somit dem Bundesrat zu beantragen, dieses Geschäft zu sistieren. Die Sicherheit ist oberstes Gebot und nicht verhandelbar.»
Kanton Schwyz: «Es besteht u. E. kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Die briefliche Stimmabgabe funktioniert bestens, auch wenn dieser Stimmkanal jetzt von den E-Voting-Turbos schlechtgeredet wird. Warum mit der Einführung eines neuen Stimmkanals unnötige Risiken eingehen, wenn kein Mehrwert damit verbunden ist? Unsere Demokratie ist ein zu wertvolles Gut, das nicht durch die ehrgeizige Einführung von E-Voting in der Schweiz gefährdet werden darf.»

Fazit

Überlassen wir das Schlusswort dem früheren Finanzdirektor der Stadt Bern, Alexandre Schmidt (FDP): «Die Gründerväter unserer Institutionen von 1848 kannten weder die Digitalisierung noch die Kraft von ‹fake news›. Sie haben gleichwohl ein Bollwerk dagegen geschaffen. Offensichtlich waren sie sich bereits damals der Notwendigkeit austarierter und entschleunigter Entscheidungsprozesse bewusst, die Vertrauen und Glaubwürdigkeit schaffen. Dieses System ist robust, um ungewollte Umwälzungen durch die Digitalisierung aufzufangen. E-Voting dagegen bietet Anreize fürs Instant-Stimmen, also das Entscheiden per Knopfdruck auf dem Heimweg im Tram. Solches schleift das Vertrauen in den Entscheid und wäre ein Bruch mit der Geschichte. Die Stimmabgabe darf entschleunigt bleiben. Der Gang mit dem Couvert zum Briefkasten oder am Sonntag zum Wahlbüro lässt Raum für ein letztes Nachdenken und Abwägen. Die Beschleunigung der Entscheidungsfindung durch die Digitalisierung dient der Demokratie nicht.»12    •

1    siehe «Direkte Demokratie ist kein Computerspiel. Start der Eidgenössischen Volksinitiative ‹Für eine sichere und vertrauenswürdige Demokratie (E-Voting-Moratorium)›». Zeit-Fragen Nr. 8 vom 26.3.2019
2    https://www.admin.ch/ch/d/gg/pc/documents/3014/Elektronische-Stimmabgabe_Entwurf_de.pdf
3    «E-Voting: Bundesrat richtet Versuchsbetrieb neu aus und stellt Einführung als ordentlicher Stimmkanal zurück», Medienmitteilung des Bundesrates vom 27.6.2019
4    Medienmitteilung des Initiativkomitees vom 27.6.2019. e-voting-moratorium.ch
5    Initiativtext siehe https://e-voting-moratorium.ch
6    «Genf zieht sein E-Voting-System schon vor den eidgenössischen Wahlen zurück», Neue Zürcher Zeitung vom 19.6.2019, sda
7    SonntagsZeitung vom 29.6.2019
8    «Das E-Voting ist ein riesiges Verlustgeschäft», 20 Minuten vom 28.6.2019
9    Änderung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte (Überführung der elektronischen Stimm­abgabe in den ordentlichen Betrieb). Ergebnisbericht der Vernehmlassung, S. 6; zitiert Ergebnisbericht. https://www.admin.ch/ch/d/gg/pc/documents/3014/Elektronische-Stimmabgabe_Ergebnisbericht_de.pdf
10    Schmidt, Alexandre. «Das Bollwerk von 1848 schützt gegen ‹fake news›. Abstimmungen mittels E-Voting zu beschleunigen, dient der Demokratie nicht.» Der Bund vom 4.4.2019
11    https://www.admin.ch/ch/d/gg/pc/documents/3014/Elektronische-Stimmabgabe_Stellungnahmen.pdf
12    Schmidt, Alexandre. «Das Bollwerk von 1848 schützt gegen ‹fake news›. Abstimmungen mittels E-Voting zu beschleunigen, dient der Demokratie nicht.» Der Bund vom 4.4.2019  

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