Direktere Demokratie in Deutschland (Teil 4)

Die Gemeinde

von Christian Fischer

Dieser Beitrag schliesst an die Teile 1 bis 3 an, die in Zeit-Fragen schon erschienen sind. Auch hier wird der Blick nicht primär auf den konkreten Missbrauch der Demokratie in Deutschland gerichtet, sondern auf die vorhandenen Institutionen, die dem Souverän, der Bürgerschaft, bereits zur Verfügung stehen, sowie auf Möglichkeiten ihrer direktdemokratischen Weiterentwicklung.

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Gemeinde. Sie ist die untere Einheit eines Gemeinwesens. Hier beginnt in einer Demokratie die Selbstverwaltung der Menschen. Das gilt auch im hochvernetzten 21. Jahrhundert, in dem selbstverständlich viele politische Entscheidungen auf höheren Ebenen anzusiedeln sind. Aber es gibt auch heute viele Themen, die die Gemeinde unmittelbar betreffen, ihre Infrastruktureinrichtungen, ihre räumliche Ordnung usw., die in der Hand der hier betroffenen Bürger liegen sollten – einschliess­lich der dafür erforderlichen Finanzhoheit. Mit Gemeinde ist hier auch der Landkreis angesprochen, der für kleine Gemeinden zumindest Teile der Selbstverwaltung übernimmt. Nicht zuletzt ist es ein wesentlicher Bestandteil der politischen Bildung, wenn Demokratie auf dieser für den Bürger unmittelbar erlebbaren Ebene praktiziert wird. Das schärft das Bewusstsein und fördert die praktische Erfahrung für eine demokratische Kultur generell.

Die Realität

Die Gemeinden mit ihrer Selbstverwaltung blicken in Deutschland auf eine 200jährige Geschichte zurück, wenn man die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (962–1806) einmal ausser acht lässt. Es gibt in Deutschland (Stand 2016) 11 059 Gemeinden, 294 Landkreise und 107 kreisfreie Städte. 1967 gab es noch 24 438 Gemeinden.
Anders als z. B. in Grossbritannien und Schweden haben die Gemeinden in Deutschland keine getrennte Verwaltungsstruktur neben der staatlichen Verwaltung, sondern sind in diese eingebunden und damit zugleich – wie die Bundesländer – auch Ausführungsorgane der übergeordneten staatlichen Entscheidungsebenen.1
Entscheidend für eine demokratische Bewertung sind zwei Fragen: Wie funktioniert die innere Demokratie in den Gemeinden? Wie sind die Kompetenzen zwischen ihnen und den übergeordneten staatlichen Ebenen verteilt?
Die Gemeindeordnungen sind in den Bundesländern nicht einheitlich, sondern weisen eine erstaunliche Vielfalt auf. Ausgangspunkt nach dem Zweiten Weltkrieg waren Einflüsse der Amerikaner, die stärker auf direktdemokratische Elemente setzten, und der Briten, die starke Kommunalparlamente bevorzugten, mit einem eher nur ausführenden Verwaltungsleiter. Diese Unterschiede sind bis heute im amerikanisch geprägten Süden und im britisch geprägten Norden unseres Landes spürbar, obwohl mit Reformen in den neunziger Jahren eine stärkere Vereinheitlichung stattgefunden hat.
Seitdem gibt es überall direkt gewählte Bürgermeister, die zugleich die Funktion eines Verwaltungschefs ausüben. Darunter gibt es die professionelle und nicht gewählte Verwaltungsebene und den gewählten Rat, der kein Parlament im legislativen Sinn ist, sondern ein politisches Entscheidungsgremium zu Sachfragen. Unterschiede gibt es weiterhin: In Süddeutschland ist der Bürgermeister nicht nur Verwaltungschef, sondern auch Ratsvorsitzender und hat damit grössere Befugnisse als der Bürgermeister in Norddeutschland einschliesslich Hessen, wo der Rat ein stärkeres Gewicht gegenüber dem Bürgermeister hat.
Die Ratsmitglieder sind keine Berufspolitiker, sondern bekommen für ihre zeitweilige Arbeit sehr überschaubare Aufwandsentschädigungen. Teilweise werden sie von ihren beruflichen Aufgaben freigestellt, was auch dazu führt, dass sich die Gemeinderäte überproportional aus Selbständigen, leitenden Angestellten aus der Privatwirtschaft, Beamten und öffentlichen Angestellten sowie Rentnern zusammensetzen.
Die Parteibindung von Ratsmitgliedern und Bürgermeistern ist weniger deutlich ausgeprägt als auf den übergeordneten staatlichen Ebenen Land und Bund. Aber auch hier gibt es Unterschiede, von Nord­rhein-Westfalen mit den stärksten Parteibindungen bis Baden-Württemberg mit den geringsten. Auf der Gemeindeebene spielen fast überall zunehmend freie Wählervereinigungen und auch direkte Bürgerbeteiligungen eine Rolle. Das gilt nicht nur, aber vor allem für Süddeutschland, wobei Bayern herausragt mit mehr als 6000 Bürgerentscheiden und Bürgerbegehren allein in den letzten 10 Jahren. Dies sicher deshalb, weil es in Bayern (ebenso in Thüringen!) dafür ein Zustimmungsquorum von nur 10–20 % braucht, während es in den übrigen Bundesländern 20–25 % sind – bis hin zum «Spitzenreiter» Saarland mit 30 %, wo praktisch keine direkte Demokratie lebendig ist. Allerdings gilt auch hier, wie bei den Abstimmungen auf Landesebene, dass Finanz- und Organisationsfragen nicht Gegenstand dieser Initiativen sein dürfen.
Welche Kompetenzen haben nun die Gemeinden? Rudzio fasst es in seinem Standardwerk so zusammen: «Die Gemeinden und Kreise sind nur Hintersassen der Bundesländer.»2
Über die Kommunalverfassungen entscheiden die Landesparlamente. Die Kommunen dürfen über ihre Einrichtungen wie Schulbauten, Verkehrsbetriebe, Kultureinrichtungen, Gemeindestrassen, Bebauungspläne, Landschaftsschutz, Abfallbeseitigung usw. entscheiden. Darüber hinaus sind sie Ausführungsorgane für die von Land und Bund beschlossenen Gesetze zur Sozialhilfe, Jugendhilfe, Wohngeld, Immissionsschutz, Lebensmittelrecht usw. Diese «übertragenen Aufgaben» machen 75–90 % der kommunalen Verwaltungstätigkeit aus.
In zunehmendem Mass sind viele der kommunalen Aufgaben in der Vergangenheit an ausgelagerte autonome Einheiten oder an private Unternehmen ausgelagert worden. Das hat gemäss einer Umfrage von 2005 etwa 15–20 % der kommunalen Aufgaben betroffen, bis hin zur Privatisierung von ganzen Wasserwerken. Allerdings hat hier vor allem dank verschiedener Bürgerentscheide teilweise wieder eine Rekommunalisierung stattgefunden.
Entscheidend ist die Frage der finanziellen Autonomie der Gemeinden. Eigene Mittel erhält die Gemeinde vor allem aus der Gewerbesteuer, der Grundsteuer und den Gebühren für ihre Leistungen, wobei diese maximal kostendeckend sein dürfen. Diese Einnahmen zusammen decken weit weniger als die Hälfte des Haushaltes. Der «Rest» wird aus Zuweisungen von der höheren staatlichen Ebene zugeteilt. Der nahezu einzige eigene Hebel, den die Gemeinden selbst beeinflussen können, ist also die Gewerbesteuer, was dazu führt, dass eine kostenmindernde Konkurrenz um Gewerbeansiedlungen zwischen den Gemeinden stattfindet und in strukturschwachen Gebieten, vor allem im Osten, die Abhängigkeit vom Staat noch grösser ist.

Einige Perspektiven

Nimmt man das Wort Gemeindeselbstverwaltung ernst, so müsste es in der Entscheidungsgewalt jeder Gemeinde liegen, ihre innere Ordnung selbst zu bestimmen, statt sie vom Landesparlament vorgegeben zu bekommen. Das betrifft jedoch zunächst nur die innere Ordnung der Gemeinde, nicht ihre finanzielle Autonomie. Diese hängt von der Verteilung des Steueraufkommens zwischen Bund, Ländern und Gemeinden ab und würde heute in Deutschland Entscheidungen auf allen diesen Ebenen erfordern, wenn es zu einer Neuaufteilung kommen soll. Das Idealbild, dass die Gemeinde grundsätzlich der erste Ort für die Steuererhebung ist, von der aus entschieden wird, was an höhere staatliche Ebenen abgegeben wird, ist, historisch bedingt, bei uns nicht gegeben.
Um in diese Richtung Veränderungen zu bewirken, müssten auf allen drei Ebenen gleichgerichtete Bürgerinitiativen tätig werden, da von den Landes- und Bundespolitikern sicher keine freiwillige «Entmachtung» zu erwarten ist. Diese Erkenntnis betont einmal mehr die demokratische Notwendigkeit von niederschwelligen Volksentscheiden auf allen Ebenen – und zwar gerade auch zu unmittelbar finanzrelevanten Themen, die bisher von Volksentscheiden ausgenommen sind. Gemeindeautonomie als Basis der Demokratie herzustellen, wäre in Deutschland also ein komplexes Projekt, welches grundsätzliche Reformen als Voraussetzung benötigt: eben umfassendere Möglichkeiten der Volksabstimmung, als sie heute gegeben sind. Und es gehört der Wille in der Bürgerschaft dazu, Gemeindeautonomie überhaupt als Basis einer Demokratie zu verstehen. Das fordern bisher nur wenige Stimmen im politischen Raum.
Grössere finanzielle Autonomie würde es auch erlauben, die kommunalen Aufgaben und Besitztümer nicht «outzusourcen», also «das Tafelsilber» aus Liquiditätsgründen abzustossen, sondern in der eigenen Entscheidungsgewalt zu belassen. Zum Beispiel stehen den Gemeinden zurzeit zwar 80 % der Gewerbesteuer zu, aber nur 15 % der Einkommenssteuer und 2,2 % der Umsatzsteuer – obwohl doch jeder einzelne Arbeitsplatz in einer Gemeinde angesiedelt ist und jede einzelne Kaufaktion in einer Gemeinde stattfindet. Aus den restlichen Einnahmen erhalten die Gemeinden zwar Zuweisungen von den höheren staatlichen Ebenen, aber sie sind darin eben abhängig und nicht selbstbestimmt.
Wären diese Entscheidungskompetenzen anders, eben von unten nach oben sortiert, dann könnte auf diesem Weg auch mittelbarer über Landes- und Bundesausgaben entschieden werden, nicht zuletzt zum Beispiel über Rüstungsausgaben und Militäreinsätze. Andererseits kann die Gemeinde natürlich nicht so souverän alle öffentlichen Gelder an die übergeordneten Staatsebenen steuern, als wäre sie ein selbständiger Staat und das Land und der Bund wären Ausland. Sie ist Teil des Staates, und es muss auf jeden Fall sichergestellt werden, dass der seine übergeordneten Aufgaben erfüllen kann. Der wünschenswerte Weg zu grösserer Gemeindeautonomie führt nur über gemeinsames Zusammenwirken der verschiedenen Ebenen – möglichst mit direkter Beteiligung des Souveräns.
Das Bewusstsein in der Bürgerschaft über die Bedeutung grösserer Gemeindeautonomie war historisch bedingt über weite Strecken nicht allzu stark entwickelt; es ist durch Eingemeindungen und Zusammenschlüsse in den letzten Jahrzehnten eher gesunken. Die Zahl der Gemeinden wurde seit 50 Jahren halbiert, viele Gemeinden sind damit vergrössert worden. In grösseren Gemeinden, das zeigen Untersuchungen sowohl in Deutschland3 als auch in der Schweiz4, ist die Bereitschaft der Bürger zur aktiven Beteiligung am politischen Leben aber eher geringer.
Die auch in jüngerer Zeit manchmal geführte Diskussion um die Gemeindeordnung – Direktwahl des Bürgermeisters? Stärkere Kompetenz des Rates? Trennung von politischer und Verwaltungs-Ebene usw. – ist demgegenüber eher zweitrangig und kann je nach regionalen Traditionen zu verschiedenen «richtigen» Antworten führen. Auf diesem Feld könnten Gemeindeordnungen jedoch dahin demokratisiert werden, dass Bezirke und Teile grösserer Gemeinden mehr Autonomie innerhalb der Gemeinde erhalten. Wichtig ist gerade auf der Gemeindeebene vor allem die Nutzung der vorhandenen direktdemokratischen Möglichkeiten, verbunden mit der Perspektive, die Quoren zu senken und von den höheren staatlichen Ebenen eine grössere finanzielle Kompetenz nach «unten» zu holen.
Es bleibt der Grundgedanke: Institutionelle Strukturen, die eine Beteiligung der Bürger am politischen Leben erleichtern, werden diese Beteiligung auch befördern. Und eine direktere Beteiligung der Bürger am politischen Leben wird Tendenzen bei den politischen Akteuren, die sich nicht am Gemeinwohl und der ehrlichen Vermittlung verschiedener Interessen orientieren, erschweren. Das ist die Perspektive für eine nachhaltige Demokratie.    •

1    Die folgenden Ausführungen orientieren sich an der Darstellung von: Rudzio, Wolfgang. Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden 2019, 10. Auflage, S. 319 ff.
2    ebenda, S. 320
3    ebenda
4    www.nzz.ch/schweiz/die-gemeindeversammlung-ist-nicht-totzukriegen-ld.1451754
5    ebenda 

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