Humanitäres Engagement in der Medizin

von Renate Dünki und Elisabeth Nussbaumer

Buchbesprechung

Mit dem 2018 erschienen Buch «Die ersten Zürcher Ärztinnen» sind wir auf eine Publikation gestossen, welche uns auch für die gegenwärtige Zeit Anregung ist. Die Autorin, Heidi Thomann Tewarson, hat die Biographie der vier Ärztinnen mit Liebe und grosser Sorgfalt recherchiert. Es ist ihr ein lebendiges Bild dieser Frauen in ihrer Zeit gelungen, einer Zeit am Ende des 19. Jahrhunderts, in der die Medizin einen gefährlichen und folgenschweren Irrweg der Rassenhygiene einschlug. Dieser fatalen Ideologie folgten die jungen Medizinerinnen nicht. Sie haben sich als Ärztinnen – jede auf ihre eigene Weise – in ihrem sozialen Arbeitsumfeld bedingungslos für das Wohl der Patienten eingesetzt – weit über das hinaus, was allgemein von einem Arzt erwartet wird. Alle vier entschieden sich als 16- oder 17jährige für ihren damals ungewöhnlichen und mutigen Lebensweg. Sie wurden Ärztinnen mit dem Ziel, sich in den Dienst von in Not geratenen Menschen zu stellen.

Ida Hilfiker-Schmid – tatkräftig im Dienste der Gesundheit von Müttern und Kindern

Ida Hilfiker-Schmid (1867–1951) eröffnete 1894 eine eigene Arztpraxis. Sie war eine ausgezeichnete Diagnostikerin und bald eine weitbekannte und gesuchte Ärztin. In ihrem Wirken kam ihr besonderes Verständnis für die sozialen Umstände zum Ausdruck, welche eine Frau schwer belasten können. Ihr soziales Engagement zeigt sich unter anderem in ihrer ärztlichen Tätigkeit an der Schweizerischen Pflegerinnenschule, vor allem in der gynäkologischen und geburtshilflichen Abteilung. (Historisch gesehen gilt die Schweizerische Pflegerinnenschule als Meilenstein einer modernen Pflege von Kranken und Bedürftigen.) Ida Hilfiker-Schmid war über Jahre in gemeinnützigen Vereinen und Institutionen tätig, die sich die Verbesserung der Situation von Frauen, Müttern und Kindern zur Aufgabe machten. Dort wirkte sie als vielgefragte Referentin zu sozialmedizinischen Themen und war Mitbegründerin des «Vereins für Mutter- und Säuglingsschutz». Mit dem Anliegen, eine Zuflucht für Mütter mit unehelichen Kindern zu schaffen, rief sie 1911 das erste «Mütterheim» (heute «Inselhof Triemli») für ledige schwangere Frauen ins Leben. Diese Institution war zur damaligen Zeit für Mutter und Kind lebensrettend, denn ledige Mütter wurden sehr oft aus Familie und Gesellschaft verstossen, und uneheliche Kinder hatten geringe Überlebenschancen. An einer eigens dafür eingerichteten Mütterberatungsstelle wurde jungen Müttern auch unentgeltlich Rat und Hilfe zur hygienischen Pflege und richtigen Ernährung ihres Säuglings zuteil. Wie Ida Hilfiker-Schmid oft betonte, sei der beste Schutz für die Frauen die Liebe zum Kind. Deshalb müsse alles getan werden, um dieses Band zu festigen. Die Wertschätzung menschlichen Lebens stand für sie weit über dem Interesse an einem sogenannt «gesunden Erbgut».

Pauline Gottschall – erste Ärztin aus dem Bauernstand und «Sonne von Aussersihl»

Pauline Gottschall (1867–1932) begann ihre berufliche Tätigkeit als Assistenzärztin in den psychiatrischen Kliniken Rheinau und Burghölzli. Unter anspruchsvollen Arbeitsbedingungen hatte sie bei der Betreuung unruhiger Frauen und Männer grossen Erfolg. Mit dem Wunsch, wirkungsvoller und breiter helfen zu können, gab sie jedoch diese Tätigkeit nach einigen Monaten auf und eröffnete eine Allgemeinpraxis im damaligen Zürcher Arbeiterviertel Aussersihl. Pauline Gottschall vereinte grosse Fähigkeiten und Tüchtigkeit im Beruf mit einem herzlichen Mitgefühl und schrankenloser Hingabe an alle ihre Patienten. Deshalb wurde sie von vielen Patienten aus nah und fern in ihrer grossen Praxis aufgesucht, die sie während 38 Jahren führte. Ihr einfacher und schlichter Umgang und ihr fröhlicher Humor wirkten als Heilfaktor mit. Dies trug ihr den Namen «Sonne von Aussersihl» ein.

Jenny Thomann-Koller – eine solide Forscherin

Jenny Thomann-Koller (1866–1949) kam aus einem geistig und politisch interessierten Elternhaus und übernahm schon früh Verantwortung für ihre vier jüngeren Geschwister. Ihre Mutter riet ihr zum Medizinstudium und machte sie mit der ersten Schweizer Ärztin, Dr. Marie Heim-Vögtlin (1845–1916), bekannt. 1892 schloss Jenny Thomann-Koller ihr Studium ab. Nach siebenmonatiger Tätigkeit als Assistenzärztin in der Charité in Paris übernahm sie Vertretungen in der Psychiatrischen Pflegeanstalt Rheinau. Dort waren ihr fast 700 (!) Patienten anvertraut. 1895 erlangte sie die Doktorwürde. Im Rahmen ihrer streng empirisch durchgeführten Dissertation «Beitrag zur Erblichkeitsstatistik der Geisteskranken im Canton Zürich. Vergleichung derselben mit der erblichen Belastung gesunder Menschen durch Geistesstörungen u. dgl.» bewies sie die Wirkung eines «regenerativen Faktors». Mit ihrer Auswertung distanzierte sie sich von der ideologischen Degenerationslehre und der damit verbundenen Bereitschaft zu eugenischen Massnahmen. Obwohl sie den Psychiater August Forel als ihren Lehrer verehrte, nahm sie gegenüber der Eugenik eine unabhängige, differenzierte und kritische Haltung ein. In den 1890er Jahren eröffnete sie eine eigene Praxis für Gynäkologie und Pädiatrie und nahm sich ihrer Patienten ohne Rücksicht auf deren Stand nicht nur medizinisch, sondern auch menschlich an. Auch Jenny Thomann-Koller gehörte zu den leitenden Ärztinnen der Pflegerinnenschule, wo sie, ihrer sozialen Überzeugung entsprechend, unentgeltlich wirkte.

Josefine Fallscheer-Zürcher – Ärztin und Wohltäterin im Orient

Josefine Fallscheer-Zürcher (1866–1932) beschrieb ihre Eltern als «hochbegabte, charaktervolle Menschen, die in engen, kleinen Verhältnissen ein grosses, schönes und freies Leben führten». Unter der liebevollen Pflege ihrer Eltern wuchs sie zu einem phantasievollen und tatkräftigen Mädchen heran. Bedingt durch den frühen Tod des Vaters verbrachte sie ihre Jugend im Waisenhaus. Noch nicht 16jährig, trat sie trotz des Widerstandes des Waisenhausvaters ins Lehrerinnenseminar ein, um sich den Zugang zum Medizinstudium zu erobern. Während ihrer Assistenzzeit bei Charcot in Paris entwickelte sie eine eigenständige kritische Einstellung gegenüber der neuen Behandlungsmethode mit Hypnose. Denn sie wollte keine Macht über andere Menschen ausüben, sondern mit Zuspruch und Verständnis wirken. In ihrer Dissertation über «Jeanne Darc. Vom psychologischen und psychopathologischen Standpunkte aus» befasste sie sich mit den individuellen gesellschaftlichen und politischen Umständen dieser Visionärin und verfolgte damit einen kulturanthropologischen und sozialpsychologischen Ansatz. Nach erfolglosen Bemühungen, als Frau eine Anstellung in der Psychiatrie zu finden, und nach Vertretungen an verschiedenen Orten bewarb sich Fallscheer-Zürcher mutig für eine Arztstelle in einer entfernten Gegend der Welt. Als der «Deutsche Hilfsbund für Armenien» einen christlichen Chirurgen suchte, meldete sie sich für den Dienst an diesem unglücklichen, verfolgten Volk. Damit begann ihre ärztliche Tätigkeit im Orient, die sie unter Verzicht auf eine Karriere an der Seite ihres Ehemannes über 30 Jahre lang ausübte. Während ihres Lebens im Orient musste sie viele Gefahren, Krankheiten und Herausforderungen bestehen. Erst im Alter hatte Fallscheer-Zürcher Musse, über den Fall einer jungen armenischen Frau zu berichten, die auf Grund grauenhafter Erfahrungen an einer Psychose erkrankte. Nur durch die kontinuierliche Pflege in Fallscheer-Zürchers Haus konnten diese Patientin und deren Sohn ein normales und sinnvolles Leben führen. Ebenso eindrücklich wie die Krankengeschichte der Mutter ist die Beschreibung der Hilfeleistung an deren zunächst idiotisch erscheinendem Sohn. Das Kind konnte anfänglich weder sprechen, lachen noch weinen. Auf einfühlsame Weise beschreibt Fallscheer-Zürcher die Entwicklung dieses Kindes vom traumatisierten, sehr verhaltensauffälligen «Autisten» zu einem gesunden Schüler und schliesslich britischen Staatsgeometer-Ingenieur im Offiziersrang, der ein lebenstüchtiger, in allen Lagen bewährter Mann, Ehemann und Vater wurde. Mit dieser Fallgeschichte wendet sich die psychiatrisch gebildete Ärztin gegen herrschende Tendenzen in der Psychiatrie zu Kategorisierungen.
So, wie die «ersten Zürcher Ärztinnen» in ihrer Zeit vor der Herausforderung standen, gegenüber einem um sich greifenden Sozial­darwinismus mit der Ideologie über die eugenische Ausmerzung «unwerten» Lebens einen unabhängigen ethischen Standpunkt zu entwickeln und zu leben, steht unsere Gesellschaft heute vor einer vergleichbaren Aufgabe. Neoliberales Gedankengut mit dem Primat von Geld und Macht wirkt in alle Lebensbereiche hinein. Das wird zum Beispiel sichtbar in der Schulpolitik oder in einer gewinnorientierten Gesundheitspolitik. Vor einigen Jahren noch undenkbar, sehen sich Ärzte heute konfrontiert mit der Zumutung, Menschen bei der Selbsttötung zu helfen (um nur die Spitze des Eisberges zu nennen). Auch sie sind gefordert, trotz der unaufhörlichen Beeinflussung durch die Mainstream-Medien eine unabhängige, ethisch verantwortbare eigene Haltung zu entwickeln, zu vertreten und zu praktizieren. Dies gilt auch für jeden von uns. Die vier im Buch beschriebenen Ärztinnen, die mutig einen humanen Weg gingen, können dabei Vorbild sein.     •

Thomann Tewarson, Heidi. Die ersten Zürcher Ärztinnen. Humanitäres Engagement und wissenschaftliche Arbeit zur Zeit der Eugenik. Schwabe Verlag. Basel 2018

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