von Karl-Jürgen Müller
Verantwortliche aus vielen Staaten der Welt haben in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts über die Frage nachgedacht, welche Fundamente es gibt, auf die sich die sonst so verschiedenen Völker, Staaten und Kulturen verständigen können. Zwei Weltkriege mit rund 80 Millionen Toten, unermesslichen Zerstörungen und unfassbarem Leiden waren Anlass genug, sehr gründlich nachzudenken und nicht das Trennende, sondern das Verbindende ins Zentrum zu rücken – nicht den Kampf um Macht, sondern die Pflicht zum Recht und zum Frieden.
Früchte dieser Überlegungen waren die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948. Beide Dokumente und auch viele andere vertraglich gefasste Resultate völkerrechtlichen Ringens waren nicht perfekt und litten (und leiden bis heute) unter machtpolitischer Einflussnahme. Aber sie waren und sind es wert, daran anzuknüpfen und sie zu vervollkommnen. Aber davon ist unsere Gegenwart weit entfernt.
Das hat Konsequenzen in allen Bereichen. Auch im Bereich der Geschichtsschreibung. Der Blick auf die (auch eigene) Geschichte ist ein wesentlicher Bestandteil der Identitätsbildung und Identitätsvergewisserung. Die wissenschaftliche Befassung mit Geschichte hat durchaus die Aufgabe, hierbei behilflich zu sein, nicht ohne auch Lebenslügen in Frage zu stellen.
Es ist auch keineswegs illegitim, politisch motiviert zu Fragen der Geschichte Stellung zu nehmen. Wird die Geschichte aber durch die Politik machtpolitisch instrumentalisiert und geht es dabei vor allem um den Versuch, die eigene Politik zu rechtfertigen und dabei manches zu stark zu betonen und anderes zu verschweigen, auch Wirklichkeit zu verbiegen, dann ist Wachsamkeit geboten. Kommt hinzu – wie jetzt beim Europäischen Parlament (siehe unten) oder bei einem aktuellen Gesetzentwurf in Polen1 –, dass geschichtliches Denken von staatlicher Seite her eingeschränkt werden soll, dann ist sogar Gefahr im Verzug.
Derzeit können wir einen heftigen Schlagabtausch beobachten. Es geht um die Frage, welchen Schuldanteil die Sowjetunion am Krieg in Europa seit dem 1. September 1939 hatte. Um die Frage, welche Rolle Polen damals spielte. Auch um die Frage, welche Rolle die damaligen Westmächte Frankreich und Grossbritannien spielten.
Vor allem aber geht es um die Frage, ob das heutige Russland ein legitimes Recht hat, den Sieg der Roten Armee über die deutsche Wehrmacht, über das nationalsozialistische Deutschland und seine Verbündeten im Mai 1945 feierlich zu begehen. Der Tag jährt sich im Jahr 2020 das 75. Mal. Oder ob das heutige Russland in die Fussstapfen einer totalitären Sowjetunion getreten ist, ein Russland, das es auch heute – wie schon die Sowjetunion nach 1945 – mit allen Mitteln zu bekämpfen gelte.
Die Konfrontationen wegen dieser Fragen gären schon seit geraumer Zeit. Unterschiedliche historische und politische Urteile über den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 füllen viele Bände, genauso wie es zahlreiche kontroverse Untersuchungen über Polens Politik nach seiner erneuten Staatsgründung im November 1918 und bis zum 1. September 1939 gibt.
Mit einer Entschliessung des Europäischen Parlaments vom 18. September 2019,2 einer hierauf reagierenden Rede des russischen Präsidenten Putin vom 20. Dezember 2019,3 offiziellen polnischen, aber auch US-amerikanischen und deutschen Reaktionen darauf4 und einer nochmaligen Stellungnahme des russischen Präsidenten vom 24. Dezember5 usw. steht diese Diskussion über wichtige geschichtliche Fragen nun mitten im politischen Raum. Worum geht es dabei? Um die ernsthafte Frage, wie es damals wirklich war? Oder um eine weitere Variante eines sehr aktuellen politischen Konfliktes um die Zukunft der Weltordnung?
Die zahlreichen Jahrestage in den vergangenen Jahren – immer wieder in Verbindung mit dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg – haben zu einer Häufung auch politisch motivierter Analysen und Stellungnahmen zur Geschichte dieser beiden Kriege geführt. Das wird auch in diesem und in den kommenden Jahren anhalten. Es ist auch gut so, wenn bisher Gedachtes und als gesichert Geltendes immer mal wieder auf den Prüfstand kommt, und es ist auch legitim, eine politisch motivierte Geschichtsschreibung auf der einen Seite mit einer anders gerichteten politisch motivierten Geschichtsschreibung zu konfrontieren.
Gerade weil die zwei Weltkriege noch immer oder erneut wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen und es also auch heute wieder um die Frage nach Verantwortlichkeiten dafür geht – und auch um die Projektion dieser Verantwortlichkeiten in unsere Gegenwart –, ist es verständlich, wenn immer mal wieder von Kritikern der Mainstream-Geschichtsschreibung gesagt wird: «Die Sieger schreiben die Geschichte.» Aber dieser Satz kann auch in eine falsche Richtung weisen; nämlich dann, wenn alles, was es an Geschichtsschreibung zum 20. Jahrhundert gibt, diesem Verdikt unterstellt wird.
Der Verfasser dieser Zeilen hat selbst in den 80er Jahren Geschichte studiert und ist dankbar dafür, dass er auch eine Methodologie gelernt hat, die ihm bis heute behilflich ist, geschichtliche Werke daraufhin zu prüfen, wie gut sie belegt sind, und bei eigenen Aussagen zur Zeitgeschichte die notwendige Vorsicht walten zu lassen.
Eigentlich wäre es wünschenswert, wenn sich mehr ausgebildete Historiker mit fachlich-kritischem Blick öffentlich zu Themen einer stark politisierten Geschichtsschreibung äussern würden. Allerdings gibt es auch hier eine Reihe sogenannt namhafter Historiker, die in Wirklichkeit mitten im politischen Betrieb stecken und auch mit einer Geschichtsprofessur nicht glaubwürdiger werden.6
Das Basishandwerkszeug des Historikers sind alle Arten von Quellen und die dazugehörigen quellenkritischen Methoden. Seine Forderung zur Zeitgeschichte sollte es deshalb immer sein, dass alle Quellen der Öffentlichkeit, zumindest der Wissenschaft zur Verfügung gestellt werden. Da müsste noch vieles verbessert werden.
Aber auch unkonventionelle Herangehensweisen an die Geschichte sind nicht gleich deshalb schon falsch. Hier sind zum Teil Persönlichkeiten aktiv, die Geschichte zwar nicht an einer Universität studiert haben, aber zum Teil mehr Mut und Einsatz zeigen als Fachhistoriker. So können wertvolle Beiträge entstehen, zum Beispiel Forschungsfragen aufgeworfen werden, an die bis dato noch niemand gedacht hat. Sie können auch wachrütteln, wenn es um aktuelle politische Fragen und den politischen Missbrauch der Geschichtsschreibung geht.
Am wichtigsten aber sind das freie Denken und der Dialog der frei Denkenden. Damit sind nicht die professionellen Historikertage gemeint, die es auch gibt und die auch ihre Berechtigung haben, sondern das freie Gespräch unter all denen, die ernsthaft und ehrlich darum bemüht sind, sich Antworten anzunähern auf die Frage, wie es denn wirklich war, und zwar auch dort, wo noch nicht alle Quellen offen zugänglich sind.
Zeit-Fragen veröffentlicht immer wieder Beiträge zur Geschichtsschreibung. Sie sind auch als Beiträge zu diesem Dialog gedacht. •
1 vgl. zum Beispiel https://de.sputniknews.com/politik/20200107326313199-polen-will-russische-interpretation-der-geschichte-per-gesetz-verbieten/ vom 7.1.2020
2 http://www.europarl.europa.eu/doceo/document/RC-9-2019-0097_DE.pdf
3 http://en.kremlin.ru/events/president/news/62376
4 vgl. zum Beispiel https://www.dw.com/de/streit-um-geschichte-polen-kontra-putin/a-51841782 vom 31.12.2019
5 https://www.jungewelt.de/artikel/369723.hyperschallwaffen-historisch-einzigartig.html vom 2.1.2010
6 Ein bekanntes Beispiel dafür im deutschsprachigen Raum ist der Professor für Neueste Geschichte Heinrich August Winkler.
Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.