Geld und Geist

von Peter Küpfer

Ein winzig kleiner Organismus hat weltweit die Dinge aus dem Lot gebracht. Was in unseren Ländern vor zwei Monaten noch Normalität war, ist heute undenkbar geworden. Viele hat die Krise auch im positiven Sinne nachdenklich gemacht. Im kleinräumiger gewordenen Alltag haben sich Nischen aufgetan: spontane Kontaktaufnahme, gerne gewährte nachbarschaftliche Hilfe. Das lässt hoffen. Gerade auch in Zeiten, wo die grossen Medien der Tage gedenken, als der Zweite Weltkrieg der ganzen Menschheit zu Ende ging.

Eine Welt, in der Grossteile der Menschen Hunger leiden und ein anderer Teil hauptsächlich vor dem Problem steht, Übergewicht abzubauen, entspricht kaum dem, was der Generation am Ende des letzten weltumspannenden Krieges, der vor 75 Jahren zu Ende gegangen, vorgeschwebt hat und in der Erklärung der Menschenrechte festgehalten ist: Die Menschen sollen zur Regelung ihrer Konflikte auf Krieg verzichten und sie friedlich lösen. Sie sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.
Dass sich Menschen in diesem Geiste der Nachkriegsgeneration begegnen können und sollen, war auch immer schon Thema oder Hoffnung der Literatur. Denn in ihr spiegelt sich nicht nur die Welt, wie sie ist. Auch die Welt, wie sie sein könnte und die wir Menschen uns erträumen. Die Schriftsteller aller Zeiten haben ein Sensorium dafür gehabt, was dieses entfaltete Menschentum beeinträchtigt: Es ist Neid, Missgunst und der Wille zur Macht. Schon Molières Charakterkomödien zeichnen davon ein eindrückliches Bild. Es sind diese zerstörerischen Kräfte, die unsere Welt von Innen heraus bedrohen.

Reichtum – kein verlässlicher Wert

Der Wiener Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal hat mit seiner Neubearbeitung des mittelalterlichen Stoffs vom Tode des reichen Mannes ein Stück geschaffen, das mitten ins Herz des Themas von Geldherrschaft und Lebenssinn trifft. Sein «Jedermann» wird seit vielen Jahren jedes Jahr auf dem Salzburger Domplatz als eines der ältesten Freilichtspiele aufgeführt, es lockt jährlich Tausende von Zuschauern an – mit Ausnahme dieses Sommers, aus bekannten Gründen. Es wurde kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs verfasst, in einer Zeit, als die europäischen Mächte sich um die Vorherrschaft stritten und diesen Kampf mit dem «Mittel» des Krieges ausfochten, mit Millionen von Toten. Heute weisen Historiker mit Nachdruck darauf hin, dass ein Hauptgrund im Rennen um strategische und wirtschaftliche  Vorteile lag. Schon damals spielte der Kampf der Grossmächte um die Erdöllager im Nahen Osten eine wichtige Rolle. Hofmannsthal zeigt in seinem durch Mark und Bein gehenden Spiel am Beispiel «des reichen Mannes», wie wenig verlässlich eine Existenz ist, die sich auf Mehr-Haben und Mehrsein-Wollen als die anderen gründet. Der Himmel hat entschieden, dass seine Laufbahn «in den besten Jahren» enden soll. Der Tod wird zu ihm geschickt und holt ihn mitten aus einem Festgelage mit seinen Freunden und seiner «Buhle», heute würde man wohl «Lebensabschnittspartnerin» sagen, heraus. 24 Stunden Aufschub erbittet sich Jedermann und macht sich auf die Suche nach jemandem, der ihn auf dieser schweren Fahrt begleitet. Aber alle, sein bester Freund, seine Verwandten, auch seine Buhle machen sich mit Ausflüchten aus dem Staub. Letztlich bleibt nur ein Freund, ein besonders unzuverlässiger: der Mammon. Er liegt schwer in seiner Kiste, die Jedermann sich von den Knechten aus dem Keller holen lässt. Der Deckel springt auf, und es erhebt sich daraus, riesengross, ein wahrhaftiges Gespenst: das verkörperte Geld. «Du gehörst mir,» verkündet ihm der verzweifelte Jedermann, «du musst mich begleiten und mir meine Fahrt erleichtern.» Mammon denkt nicht daran und verspottet den Verzweifelten mit kaltem Hohn: Du bist ein Narr und Laffe, gibt er ihm zur Antwort. Wenn du gedacht hast, ich, dein Geld, sei dein Knecht, so hast du dich bös verrechnet. Es war umgekehrt. Du warst mein Knecht und ich habe dich zu meiner Musik (der Geldvermehrung) tanzen lassen:

Mammon

«Erznarr du, Jedermann, sieh zu
Ich bleib dahier und wo bleibst du?
Was ich in dich hab eingelegt
Darnach hast du dich halt geregt.
Das war ein Pracht und ein Ansehen
Ein Hoffart und ein Aufblähen
Und ein verflucht wollüstig Rasen,
War alls durch mich ihm eingeblasen,
Und was ihn itzt noch aufrecht hält
Daß er nit platt an' Boden fällt
Und alle Viere von sich reckt
Und hält ihn noch emporgestreckt
Das ist allein sein Geld und Gut.
Da, hier springt all dein Lebensmut.
     (Hebt eine Handvoll Geld aus der Truhe und läßt es wieder fallen.)
Fällt aber in die Truhen zurück
Und damit ist zu End dein Glück.
Bald werden dir die Sinn vergehen
Und mich wirst nimmer wiedersehen.
War dir geliehen für irdische Täg
Und geh nit mit auf deinen Weg,
Geh nit, bleib hier, laß dich allein
[...].»

Der Text weist in seiner von Hofmannsthal bewusst gesuchten sprachlichen Einfachheit und Eindringlichkeit auf einen ganz wesentlichen Aspekt der Geldwirtschaft hin (Hofmannsthal ist als Bankierssohn damit bestens vertraut): So wie der Boden, ist auch das Geld, wenn es denn sinnvoll eingesetzt wird, ein geliehener Wert. Nur so kann seine Kraft sich segensvoll entfalten, im Dienste aller, als Leihgabe und Privileg, das es zu nutzen gilt. Zum Nutzen aller. Nur eine echte Begleiterin findet Jedermann in seiner Not. Es ist die allegorisch als schwache Frau dargestellte Figur seiner «Werke»: Das, was er trotz seines Lebens als reicher Mann Gutes und Nützliches getan hat. Es ist wenig, aber zusammen mit seinem wiedergefundenen Glauben genügt es, dass seine Seele am Schluss gerettet wird. So wie die eines anderen «gross» lebenden Mannes, Goethes  Faust, diesmal allerdings ganz im weltlichen Gewande.


Faust – ein Wirkender

Auch Faust gelangt, nachdem er sein Stubengelehrtendasein verlässt und auszieht zu erkennen, «was die Welt im Innersten zusammenhält» – er hat sich dazu, dem alten Stoff der Faust-Sage entsprechend, dem Teufel verschrieben – zu Geld und Ansehen. Nach vielen Abenteuern, zunächst im engen Kreis, in denen er, auch durch Zutun seines diabolischen Begleiters (Mephistopheles), Schuld auf sich lädt, gelangt er an den mittelalterlichen Hof des deutschen Kaisers. Hier, im zweiten Teil der Faust-Dichtung, beeinflussen Gold, Geld, rücksichtsloses Machtgehabe und daraus entstehende Schuld das Geschehen in noch viel grösseren Dimensionen als im ersten Teil, der Gretchen-Tragödie. Fausts Widersacher Mephisto ist eine moderne, elegant und weltmännisch auftretende Neuausformung des Teufels. Am Hofe des Kaisers, wohin Mephisto den tatendurstigen Faust führt, um ihm «die grosse Welt» zu zeigen, herrscht Not: Die kaiserlichen Kassen sind leer, nichts geht mehr. Die Erstarrung des Lebens ist ebenso bedrohlich wie in der weltweiten wirtschaftlichen Krise, die uns heute heimsucht. Da «erfindet» Mephisto das Papiergeld, mit dem die erstarrte Wirtschaft wieder belebt und die Staatskassen neu gefüllt werden können. Allerdings beruht die Deckung dieses Geldes auf schwachem Fundament (ist es heute besser gesichert?): Da nach altem Recht aller Reichtum, der sich im Boden befindet, dem Kaiser gehört, so gehören ihm, so flüstert Mephisto dem Kaiser ins Ohr, auch alle die Schatzkisten, die ein sorgender privater Besitzer angesichts von Not und Krieg dort begraben hat und die dann dem Vergessen anheimgefallen sind. Dem Kaiser leuchtet das ein, das Papiergeld wird in Windeseile gedruckt, im Faustdrama durch Magie, in unserer modernen Welt geschieht Ähnliches durch die Notenbanken. Wie der Kaiser in realen Besitz dieser vermeintlichen Reichtümer kommen soll (und wieweit sie real existieren!), bleibt Mephistos Geheimnis. Fausts künstliche Geldspritze verschafft ihm eine mächtige Position am Hof. Mit seinem Unternehmergeist bewirkt Faust Grosses. Wie aber schon im ersten Teil der Tragödie wird er auch hier schuldig und bewirkt, zwar unabsichtlich, aber faktisch, den Tod zweier unbeteiligter Menschen. Trotzdem findet Faust am Ende Gnade vor dem ewigen Richtstuhl, und Mephisto verliert seine Wette. Fausts lebenslanges Bemühen, wirksam und tätig zum Wohle des Ganzen zu sein, wiegt schwerer als sein damit einhergehendes Verschulden: «Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen», singen die himmlischen Gestalten, die sich schützend vor Faust stellen und ihn ins Elysium entführen.
Faust ist, wenn man das Ganze betrachtet, Inbegriff des wirkenden Menschen. Er hat auf seiner Lebensreise erkannt, dass es weder die Magie, noch die Metaphysik, weder die Macht noch das persönliche Gewinnstreben sind, welche dem Leben des Einzelnen seinen wahren Sinn geben, sondern das Mitwirken am Ganzen. Das grosse Modell war für Goethe nicht ein Konstrukt, sondern die Natur. Sie kann sich zur echten, menschlichen Kultur wandeln, wenn das Streben ebenfalls echt und natürlich ist, wenn es menschlich ist.

Woran sich einzelne messen …

Ähnlich hat, einige Generationen später, die von der Industrialisierung und der Ausweitung der Wirtschaft geprägt waren, auch der Schweizer Dichter Gottfried Keller gedacht, ein grosser Verehrer von Goethe. Auch er sah die Quelle des erfüllten Lebens im Mitwirken fürs Ganze, für das Bonum commune. Er war durchdrungen vom Gedanken, dass zum Mitwirken, wenn es erfüllt sein soll, auch das -Politische gehört, und fand in der noch jungen schweizerischen Demokratie eine ideale Form. Als Schriftsteller, aber auch als langjähriger Erster Staatsschreiber des Kantons Zürich hat er immer wieder den Geist angemahnt, der dieses Gebäude beseelen sollte, und den Finger darauf gelegt, was ihn bedroht. Es sind Eigennutz, Eigenbrötlertum, Neid und Habgier, alles Züge, welche die Menschen in Kellers Werken umtreiben. Was die Demokratie im Kern aufleben lässt, auch was sie bedroht, hat Keller in vielen Erzählungen und in seinem Altersroman «Martin Salander» gestaltet, oft, wie es seinem Naturell entspricht, mit einem gehörigen Schuss Humor, der den Ernst der Sache nicht beeinträchtigt.
Das alles zeigt die auch heute noch höchst lesenswerte Novelle «Das Fähnlein der sieben Aufrechten». Sie erzählt die mit humoristischer Distanz, aber menschlichem Respekt geschilderte Geschichte der Teilnahme einer bewährten Zürcher Stammtisch-Gruppe von verdienten Radikaldemokraten  am nationalen Schützenfest von 1849 in Aarau. Schützenfeste damals waren mehr als nur grossangelegte Festivitäten. Die  Schweizer Schützentradition beruht auf dem Umstand, dass die jahrhundertelange Wehrhaftigkeit der Schweiz im Wesen darin begründet war, dass sich jeder Schweizer Bürger in Notzeiten auch als Vaterlandsverteidiger sah. Wenn die Not es gebot, stand er mit seiner persönlichen Waffe zur Verteidigung seiner bürgerlichen Freiheit ein. So wollte es die Tradition, so wollte es im Prinzip auch die neue Bundesverfassung von 1848, welche festschrieb, jeder Schweizer sei aufgrund seiner Bügerrechte auch wehrpflichtig. Und so war es auch 1939, als der Schweizer Bundesrat die Allgemeine Mobilmachung beschloss.
Mit Bezug auf einen der Hauptakteure, Schneidermeister Hediger, kommt diese Wehrhaftigkeit des Schweizer Bürgers in einer vielzitierten Passage klar zum Ausdruck. In der Beschreibung seiner Studierkammer, die der bescheidene Handwerker sich ausbedungen hat, wird auch auf die «blanke Ordonnanzflinte» nebst scharfer Munition verwiesen, die neben den Büchern lehnt:

«Bis jetzt hatte ihn ein freundlicher Stern bewahrt, dass er noch kein Blut vergossen, aus Mangel an Gelegenheit; dennoch hatte er die Flinte schon mehr als einmal ergriffen und war damit auf den Platz geeilt, da es noch die Zeit der Putsche war, und das Gewehr musste unverrückt zwischen Bett und Schrank stehen bleiben; ‹denn›, pflegte er zu sagen, ‹keine Regierung und keine Bataillone vermögen Recht und Freiheit zu schützen, wo der Bürger nicht imstande ist, selber vor die Haustüre zu treten und nachzusehen, was es gibt!›»

Die siebenköpfige Runde der alten Republikaner, eben «die sieben Aufrechten», will als eigene Delegation am Schützenfest von 1849 in Aarau teilnehmen. Die Jahrzahl ist bedeutsam. 1849, das ist ein Jahr nach dem auch in Deutschland und anderen europäischen Städten unruhigen Revolutionsjahr 1848. Es ist auch das Jahr der Gründung des schweizerischen Bundesstaates mit seiner ausgebaut demokratischen Verfassung. Dies war in der Schweiz nur ein Jahr, nachdem in diesem Lande noch einmal ein Bürgerkrieg geführt wurde, der hoffentlich letzte seiner Geschichte, der sogenannte Sonderbundskrieg. Es standen sich damals noch einmal alte Gegensätze unversöhnlich gegenüber, welche schon seit Jahrhunderten die Geschichte der Eidgenossenschaft und ihrer inneren Konflikte mitgeprägt hatten: die Landorte mit ihrer vorwiegend bewahrend und katholisch denkenden Bevölkerung auf der einen Seite und auf der andern die mächtigen Stadtorte, welche einen laizistischen republikanischen Staat wollten, in ihrer Mehrheit protestantisch verwurzelt. Es war der Weitsicht und Reife des Generals der eidgenössischen Truppen, General Dufour, zu verdanken, dass der von Anfang an unterlegene Sonderbund (die Allianz der katholischen Kantone) mit grösstmöglicher Schonung behandelt wurde – gute Voraussetzungen für die Gründung des Bundesstaates ein Jahr später, der sich nicht als Siegerstaat sah, sondern als Bewahrer der schweizerischen vielsprachigen und mehrkulturellen Willensnation, wie die Staatsrechtler sie dann in der Folge bezeichneten.
In die Haupthandlung der Novelle ist eine Liebesgeschichte eingeflochten. Karl, Sohn von Hediger, hat sich in Hermine Frymann verliebt (und sie sich glücklicherweise auch in ihn), die schöne und selbstbewusste Tochter des erfolgreichen Schreinermeisters mit aufstrebender Grossschreinerei, der Vorsitzende der Runde. Hediger erachtet das soziale Gefälle zwischen den beiden Familien als zu gross. Er fürchtet, bei einer Verbindung von materiell so unterschiedlich gestellten Familien seine Freiheit im Umgang mit seinem alten Freund einzubüssen. Es sei nie gut, so argumentiert er gegenüber seiner Frau, wenn einer einfach durch Heirat ein Vermögen erwerbe und nicht durch eigene Tüchtigkeit. Seine Argumentation gerät in der ruhigen, aber aufs Grundsätzliche abzielenden Auseinandersetzung der beiden Eheleute zu einer düsteren Zukunftsvision der Eidgenossenschaft, wenn in ihr das Prinzip der Tüchtigkeit gegen dasjenige der Profitsucht eingetauscht werde. Damals mag Hedigers Vision den Lesern als Übertreibung vorgekommen sein. Mit heutigen Augen betrachtet, kann man Hedigers prophetische Sicht und damit Kellers Gespür für die Anfälligkeiten der Demokratie nur bewundern. Seine Frau entgegnet der Sicht ihres Mannes energisch:

«‹Larifari!› unterbrach ihn die Frau, indem sie das Tischtuch zusammennahm und zum Fenster hinausschüttelte; »ist denn Frymann, der das Gut in Händen hat, um das wir uns streiten [Anm. des Autors: gemeint ist seine schöne Tochter] euch andern ungleich geworden? Seid ihr nicht ein Herz und eine Seele und steckt immer die Köpfe zusammen?»
»Das ist was anderes!« rief der Mann, »was ganz anderes! Der hat sein Gut nicht erschlichen oder in der Lotterie gewonnen, sondern Taler um Taler durch seine Mühe erworben während vierzig Jahren. Glücklicherweise gibt es bei uns keine ungeheuer reichen Leute, der Wohlstand ist ziemlich verteilt; lass aber einmal Kerle mit vielen Millionen entstehen, die politische Herrschsucht besitzen, und du wirst sehen, was die für einen Unfug treiben!»

Und dann äussert der bescheidene Schneidermeister wahrhaft prophetische Worte:

«Es wird eine Zeit kommen, wo in unserem Lande, wie anderwärts, sich grosse Massen Geldes zusammenhängen, ohne auf tüchtige Weise erarbeitet und erspart worden zu sein; dann wird es gelten, dem Teufel die Zähne zu weisen; dann wird es sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind an unserem Fahnentuch! Kurz und gut! Ich sehe nicht ein, warum einer meiner Söhne nach fremdem Gute die Hand ausstrecken soll, ohne einen Streich darum gearbeitet zu haben.»

Die Novelle endet in einem versöhnlichen Ton. Hedigers Sohn Karl springt für die Aufrechten ein, von denen niemand es sich zutraut, das Trüppchen mit einer wohlgesetzten Rede vor versammelter Festgemeinde vorzustellen, begleitet sie ans Schützenfest und bringt sie in einer schwungvollen und treuherzigen Rede vor der Versammlung bestens zur Geltung. Auch legt er für sie als meisterhafter Schütze viel Ehre ein. Das wird ihm hoch angerechnet, so dass er nun seine Hermine kriegt und die beiden Familien sich zum gegenseitigen Gewinn verbinden.

...messen sich auch Staaten

Kellers Altersroman «Martin Salander» macht diese Vision Hedigers zum Hauptthema, indem es die Realitäten der inzwischen wirtschaftlich satter gewordenen Schweiz kritisch ins Auge fasst. Die Jahre als Erster Staatsschreiber des Kantons Zürich haben im gereiften Schriftsteller den Blick für die Schwächen der schweizerischen modernen Gesellschaft und des Zustands der staatspolitischen Gesinnung ihrer Bürger geschärft. Keller stellt gravierende Mängel fest. Ihnen stehen im Gesamtwerk eine Vielzahl von anderen, wahrhaft demokratischen Tugenden entgegen:

Es sind die Hauptwerte der menschlichen Ethik, die in allen grossen Kulturen weltweit als grundlegend anerkannt sind: Es sind dies nicht Aggressivität, sondern Mitgefühl, nicht Hass, sondern Einfühlung, nicht Hochmut, sondern Bescheidenheit, nicht Abstumpfung, sondern Anteilnahme. Aus dieser Haltung entsteht Freude und Genugtuung am eigenen Beitrag fürs gemeinsame Ganze, das Bonum commune. Grundlage dazu ist eine gute Schule, die auch die politische Bildung in diesem Sinne betreibt, und der Aufbau des Gemeinwesens von unten nach oben.
Damit, und nicht durch ihre leider zahlreichen Kriege, hat die Menschheit bis heute überlebt und sich entwickelt. Das ist die naturrechtliche Grundlage und der ethische Kodex, welche die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte beseelen. Es ist das, was die Seele der Dichtungen aller grosser Dichter von Weltrang ausmacht, die wir aus diesem Grunde gerade auch heute mit viel Gewinn lesen. Sie weisen uns auf das hin, was der Einzelne anstrebt und was die Gemeinschaften, auch Staaten, mit friedlichen Mitteln erreichen wollen: Es ist die Haltung des Respekts aller vor jedem einzelnen Beitrag ans Ganze. Wenn diese Krise uns aufruft, uns aufs Wesentliche zu besinnen, dann hat sie auch ihr Gutes.    •

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