Notrecht und Demokratie

von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich

Der Begriff Notrecht kommt in den Kommentaren und Medienberichten über das Corona-Virus häufig vor – als Instrument zur Bewältigung von ausserordentlichen Situationen, wie wir sie zurzeit erleben. Nur – in der Bundesverfassung kommt dieser Begriff gar nicht vor. Eine begriffliche Klärung ist deshalb notwendig. Die Rechtsgrundlage des Notrechts ist heute in den Artikeln 165, 173 und 185 der Bundesverfassung geregelt.

Polizeiliches Notrecht nach Artikeln 173
und 185 der Bundesverfassung

Artikel 173 und 185 der Bundesverfassung enthalten eine polizeiliche Generalklausel. Sowohl der National- und Ständerat als Legislative wie auch der Bundesrat als Exekutive können bei «ausserordentlichen Umständen» wie bei «schweren Störungen der öffentlichen Ordnung» Massnahmen für schnelle Abhilfe ergreifen. Eine Pandemie gehört zweifellos dazu. Neu ist diese Klausel nicht. Sie steht bereits in der Bundesverfassung von 1874. Die ergriffenen Massnahmen und Programme müssen sich jedoch im Rahmen der Verfassung und der Rechtsordnung bewegen. Neue Gesetze erlaubt die Generalklausel nicht.
In den letzten Wochen haben wir miterlebt, wie Bundesrat und Parlament in diesem Rahmen zusammengespielt haben: Als für Debatten und Parlamentsbeschlüsse keine Zeit war – die Räte hatten ihre Session abgebrochen –, hat der Bundesrat am 13. März mit der Covid-19-Verordnung zahlreiche Vorschriften erlassen und umfangreiche Unterstützungsprogramme beschlossen. Danach ist dies noch wiederholt geschehen. Am 4. Mai hat sich das Parlament in einer Sondersession zurückgemeldet und das meiste auch bestätigt oder ergänzt.
Notwendig war zudem eine sofortige Änderung des Luftfahrtgesetzes, um neben der Swiss und der Edelweiss auch die flugnahen Betriebe mit 600 Millionen Franken schnell unterstützen zu können. Das Parlament passte das Gesetz an, befristete es bis 2025 und setzte es mit dem Dringlichkeitsverfahren sofort in Kraft. Damit kam ein weiterer Artikel des Notrechts zu Anwendung – Artikel 165: Das Gesetz tritt zwar sofort in Kraft, das Volk hat jedoch im Nachhinein die Möglichkeit, das Referendum zu ergreifen (was die Grünen bereits angekündigt haben). – Dieser Teil des Notrechts hat eine längere Vorgeschichte, die bis in die Entstehungszeit der Bundesverfassung zurückreicht und Aufschluss gibt über das Wesen der direkten Demokratie in der Schweiz.

Dringlichkeit im Gesetzgebungsverfahren nach
Artikel 165 der Bundesverfassung

In der Bundesverfassung von 1874 stand in Artikel 89 der für die damalige Zeit revolutionäre Satz: «Bundesgesetze sowie allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse, die nicht dringlicher Natur sind, sollen überdies dem Volk zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt werden, wenn es von 30 000 stimmberechtigten Schweizerbürgern oder von acht Kantonen verlangt wird.» Dieser Artikel sollte künftig die schweizerische Rechtsordnung prägen wie kaum ein anderer, kam es doch bis heute auf diese Weise zu fast 200 Volksabstimmungen über Bundesgesetze oder Bundesbeschlüsse. Der Verfassungsartikel enthielt jedoch von Anfang an auch ein Konfliktpotential: Nirgends war definiert, was «dringliche Natur» bedeutet. Das Parlament konnte mit einfachem Mehr entscheiden, ob es ein Gesetz als dringlich erklären und sofort in Kraft setzen wollte, ohne das Referendum zuzulassen. Diese Unsicherheit bestand von Anfang an und sollte noch oft für Unruhe in der Bevölkerung sorgen. Man hörte Fragen wie: Warum können wir nicht abstimmen, ist doch fast jedes Gesetz dringlich, sonst würde das Parlament es nicht erlassen? – Bis zum Ersten Weltkrieg wendete das Parlament diese Möglichkeit nicht an.
Das änderte sich nach dem Ersten Weltkrieg und insbesondere in der schweren Zeit der grossen Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre. Bis zum Zweiten Weltkrieg stufte das Parlament 150 befristete Bundesbeschlüsse (die alle wirtschaftlicher Art waren) als dringlich ein und entzog sie so dem Referendum. Die Bevölkerung hatte mehrheitlich Verständnis und akzeptierte die ausserordentlichen Massnahmen in der Krise – ging es doch oft darum, den Bauern und kleinen Geschäften zu helfen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, die Volksbank zu retten, der Uhren- oder Textilindustrie unter die Arme zu greifen und ähnliches mehr. Aber je länger dieser Zustand andauerte, desto mehr wurde die Entwicklung auch kritisch betrachtet, weil sie die Freiheits- und Volksrechte allzu sehr einschränkte und föderalistische Lösungen behinderte. Der damalige Staatsrechtslehrer Professor Zaccaria Giacometti fand dafür deutliche Worte. Er warnte vor dem Missbrauch des Dringlichkeitsrechts und sprach von «Parlamentsabsolutismus» oder gar «Parlamentsdiktatur». Es blieb nicht bei der Skepsis: Allein in den dreissiger Jahren wurde fünf Volksinitiativen eingereicht, die alle das Ziel hatten, dem Dringlichkeitsrecht Grenzen zu setzen (Wüthrich 2020, S. 110–123). Eine Gruppe von Staatsrechtslehrern zum Beispiel schlug vor, eine Art Verfassungsgericht einzurichten, das urteilen sollte, ob der Ausschluss des Referendums wirklich gerechtfertigt sei oder nicht. Nach dem Krieg kamen zwei weitere Initiativen dazu. – Eines wurde schnell klar: Nicht nur Bundesbeschlüsse waren in der Krise dringlich, sondern auch der Wunsch in der Bevölkerung, für das Notrecht eine Lösung zu finden, die die Volks- und Freiheitsrechte und den Föderalismus respektiert.

Vollmacht aufgrund eines Parlamentsbeschlusses

Während des Zweiten Weltkriegs kam es zu einer weiteren Art von Notrecht. Das Parlament beschloss eine Art Kriegsvollmacht (Vollmachtenbeschluss vom 30. August 1939). Sie erlaubte dem Bundesrat, die Schweiz im Krieg weitgehend ohne Parlament zu führen. Aber selbst in dieser schweren Zeit wurden zahlreiche Volksinitiativen eingereicht (vgl. Artikel Seite 3), und es kam sogar zu wichtigen Volksabstimmungen. Zwei Beispiele: 1940 stimmte das Volk über eine Gesetzesvorlage ab, die für männliche Jugendliche einen weitgehenden militärischen Vorunterricht einrichten wollte. Das Volk sagte nein. 1942 wurde über die Volksinitiative der Sozialdemokraten abgestimmt, die die Volkswahl des Bundesrates verlangte. Die SP protestierte dagegen, dass sie als wählerstarke Grosspartei noch keinen Vertreter in der Regierung hatte. Das Volk stimmte zwar mit nein, aber kurze Zeit später – 1943 – wurde der Sozialdemokrat Ernst Nobs, Stadtpräsident von Zürich, vom Parlament zum Bundesrat gewählt.
Die Vollmacht des Bundesrates ging sehr weit. 1940 führte er provisorisch die Wehrsteuer ein (die spätere direkte Bundessteuer) und 1941 die Warenumsatzsteuer "Wust" (die spätere Mehrwertsteuer). Diese neuen Steuern sollten helfen, die umfangreiche Vorsorge und militärischen Massnahmen zu finanzieren. Insgesamt erliess der Bundesrat aufgrund seiner Vollmacht bis 1945 ungefähr 500 Bundesbeschlüsse.

Demokratisierung des Notrechts

Nach dem Krieg, am 1. Juni 1945, schlug der Bundesrat dem Parlament vor, seine ausserordentlichen Vollmachten abzubauen, ihm jedoch die Ermächtigung zu erteilen, «ausnahmsweise Massnahmen zu treffen, die zur Sicherheit des Landes unumgänglich» seien. Das Parlament stimmte einstimmig zu. Damit waren jedoch nicht alle einverstanden. Vor allem Bürger aus der französischen Schweiz (Ligue Vaudoise) reichten zwei Volksinitiativen ein: die eine wollte das Vollmachtsregime des Bundesrates ganz beenden. Die andere trug die Bezeichnung «Rückkehr zur direkten Demokratie» und hatte das ehrgeizige Ziel, das Dringlichkeitsrecht zu demokratisieren, was in den dreissiger Jahren nur unzulänglich gelungen war. Zaccaria Giacometti, Professor für Staatsrecht und 1952 bis 54 Rektor an der Universität Zürich, war daran beteiligt (Wüthrich 2020, S. 175–186). Die erstere erledigte sich von selbst, weil das «Kriegsrecht» in der beginnenden Hochkonjunktur bald obsolet war. Die andere wurde 1949 vom Volk angenommen. Ihr Text steht in Artikel 165 der Bundesverfassung und kommt heute zur Anwendung: Das Parlament kann zwar weiterhin dringliche Gesetze erlassen und sofort in Kraft setzen. Aber es wird im Nachhinein abgestimmt – fakultativ oder obligatorisch (falls die Verfassungsgrundlage fehlt). – Diese Regelung respektiert die Volksrechte und fügt sich in die direkt-demokratisch geprägte Rechtsordnung der Schweiz ein. Damit fand eine viele Jahre andauernde Debatte ihr Ende.
Das demokratisierte «Notrecht» kam häufig zur Anwendung. In den sechziger und siebziger Jahren erliess das Parlament elf dringliche und befristete Bundesbeschlüsse, die alle sofort in Kraft traten. Sie verstiessen alle gegen die Handels- und Gewerbefreiheit HGF und hatten somit keine Verfassungsgrundlage. Sie hatten allerdings einen ganz anderen Inhalt als die Beschlüsse, die das Parlament in den dreissiger Jahren mit dem Ziel beschlossen hatte, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Es herrschte Hochkonjunktur, und die Behörden versuchten, die Konjunktur zu dämpfen und die heiss laufende Wirtschaft abzukühlen. So verboten sie zeitweise den Bau von luxuriösen Einfamilienhäusern (um so die ausgelasteten Baukapazitäten für die Infrastruktur und den normalen Wohnungsbau frei zu bekommen). Oder sie verboten, neue Arbeitsplätze zu schaffen (indem sie den Personalbestand in den Betrieben plafonierten). Die Arbeitslosigkeit betrug 0.0 Prozent, und Hunderttausende von Arbeitskräften wanderten aus dem Ausland ein. Die Bundesbeschlüsse schränkten die Aufnahme von Krediten ein, um Neuinvestitionen zu erschweren. Oder sie ergriffen Massnahmen zum Schutz der Umwelt. Viele Schweizer Seen waren so verschmutzt, dass man nicht mehr baden konnte. Dazu kamen Beschlüsse zur Bekämpfung der Teuerung und zum Schutz der Währung. Alle diese Bundesbeschlüsse hatten keine Verfassungsgrundlage, so dass es regelmässig obligatorisch innerhalb eines Jahres zur Abstimmung kam (vgl. Rhinow 2011, S. 36–37). Das Volk sagte elf Mal ja und stärkte damit den Behörden den Rücken. Das war wichtig, weil es für die Behörden in Notsituationen nicht einfach ist, Entscheide zu fällen, die der Sache gerecht werden und die zudem verhältnismässig sind, also die persönliche Freiheit und die Demokratie nicht allzu sehr einschränken.

Heute

Der Bundesrat gab am 29. April 2020 in einer Pressemitteilung bekannt, dass er am 19. April beschlossen habe, die Notverordnungen, die er zur Bewältigung der Corona-Krise erlassen habe, in ein dringliches Bundesgesetz zu überführen. Die Vernehmlassung werde bereits im Juni stattfinden, und er werde die Botschaft bereits im September dem Parlament übergeben. Seine Begründung: «Für direkt auf die Bundesverfassung gestützte Notverordnungen muss nach spätestens sechs Monaten Geltungsdauer das Verfahren zu deren Überführung in einen Erlass des Parlaments eingeleitet sein. Verabschiedet der Bundesrat innert dieser Frist keine Botschaft, so treten die betreffenden Notverordnungen ausser Kraft und können nicht verlängert werden.» Dieses Gesetz oder diese Gesetze sollen nach dem Dringlichkeitsverfahren sofort in Kraft gesetzt werden. Falls sie keine Verfassungsgrundlage haben, wird nach Artikel 165 Absatz 3 BV im nachhinein innerhalb eines Jahres obligatorisch oder sonst fakultativ abgestimmt (so wie es die Volksinitiative «Rückkehr zur direkten Demokratie» von 1949 verlangte).
Werden die kommenden Krisen-Abstimmungen den Behörden den Rücken stärken, wie dies die elf Abstimmungen über dringliches Recht in den Sechziger- und Siebzigerjahren getan hatten (die alle mit einem Ja endeten)? Die Abstimmungen von heute werden wahrscheinlich weltweit Beachtung finden, sind doch viele Länder herausgefordert, die Folgen der Pandemie auf eine demokratische Art zu bewältigen und die Lehren daraus zu ziehen.

Aufbruch?

Die Kreise um Zaccaria Giacometti haben sich wohl 1949 nicht vorstellen können, wie sehr ihre Volksinitiative einmal dazu beitragen würde, die Bevölkerung selbst in der Krise direkt in die politische Entscheidungsfindung einzubeziehen.


«Der Aufbruch beginnt im Kopf. Wird es zu einer Aufbruchsstimmung oder gar zu einer Hochblüte der direkten Demokratie kommen – so wie dies in der schweren Zeit der dreissiger Jahre und mitten im Zweiten Weltkrieg der Fall war? […] Wir können den kommenden Aufbruch unterstützen, indem wir uns auf die Grundlagen unseres Staatswesens besinnen und auch die Erfahrungen früherer Generationen zu Rate ziehen.»



Der Aufbruch beginnt im Kopf. Wird es zu einer Aufbruchsstimmung oder gar zu einer Hochblüte der direkten Demokratie kommen – so wie dies in der schweren Zeit der dreissiger Jahre und mitten im Zweiten Weltkrieg der Fall war? Vorschläge liegen auch heute auf dem Tisch, was wir in der Schweiz alles besser machen könnten. Manches werden wir etwas anders beurteilen als in den Jahren vor Corona. Wichtige Volksabstimmungen stehen bereits im September an: Die Volksinitiative über eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungsinitiative) und mehrere Referenden zur Beschaffung von Kampfflugzeugen, über den Vaterschaftsurlaub, über ein neues Jagdgesetz (das den Abschuss von Wölfen erleichtert) und über steuerliche Kinderabzüge.

Wir können den kommenden Aufbruch unterstützen, indem wir uns auf die Grundlagen unseres Staatswesens besinnen und auch die Erfahrungen früherer Generationen zu Rate ziehen, die dafür gesorgt haben, dass die Politik heute so spannend und voller Leben ist.  •


Quellen:

Rhinow, René; Schmid, Gerhard; Biaggini, Giovanni; Uhlmann Felix. Öffentliches Wirtschaftsrecht. Basel 2011

Wüthrich, Werner. Wirtschaft und direkte Demokratie in der Schweiz – Geschichte der freiheitlich-demokratischen Wirtschaftsverfassung der Schweiz. Zürich 2020

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