von Pierre Lévy, Frankreich
Die Verlagerung der pharmazeutischen Produktion zeigt in der aktuellen Gesundheitskrise dramatische Folgen. Sie sind Teil des langen Verlagerungsprozesses der pharmazeutischen Industrie.
Mangel. Das Wort war seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem Wirtschaftsvokabular der entwickelten Industrieländer verschwunden. Inmitten der Corona-Virus-Krise erlebt es ein starkes Comeback. Mangel an Krankenhausbetten, aber auch an Masken, Desinfektionsmitteln, Tests, Beatmungsgeräten und Medikamenten…
Covid-19 hat diese dramatischen Defizite aufgezeigt. In Frankreich sind sie das Ergebnis einer bewusst und auf Dauer angelegten Politik, die industrielle Produktion zu verlagern und das Land zu deindustrialisieren. Seit Mitte der 1970er Jahre hat sich der Anteil der verarbeitenden Industrie an der französischen Wirtschaft demnach halbiert: Sie macht heute nur noch 10 % des inländischen Reichtums aus. Und die leichten Veränderungen der letzten Jahre haben es nicht möglich gemacht, den Trend ernsthaft umzukehren.
Rückzug des Staates: Zerstörung von Arbeitsplätzen und Daseinsvorsorge
Ein Beispiel unter vielen anderen ist die Schliessung einer grossen Maskenfabrik in Plaintes in den Côtes d’Armor Ende 2018, für die eine Verlagerung geplant war. Die französische Firma Spérian war schon vorher, 2010, unter die amerikanische Flagge von Honeywell gewechselt.
Die Maschinen konnten bis zu 20 Millionen FFP1- und FFP2-Masken pro Monat herstellen. Im Jahr 2005 wurden noch 6 Millionen Euro von der öffentlichen Hand investiert, und es wurde damit 2009, zur Zeit des H1N1-Virus, eine massive Produktion ermöglicht, bevor der Staat beschloss, sich zurückzuziehen.
Zum Zeitpunkt der Schliessung hatten die Gewerkschaftsvertreter aus CGT und CFDT in der Fabrik Emmanuel Macron und den Wirtschaftsminister, Bruno Le Maire aufgefordert, das Unternehmen zu retten. Damals ohne Erfolg. Hinzu kommt, dass die Unternehmensleitung grosse Sorgfalt darauf verwandt hatte, die acht Produktionslinien zu zerstören, damit sie nicht in die Hände eines Konkurrenten fielen. Zuletzt hörte man, dass Gewerkschafter und betroffene Gemeinden versuchen, das Unternehmen wiederzubeleben.
Ein ähnlich tragisches Szenario spielt sich im Luxfer-Werk in Gerzat (Puy-de-Dôme) ab, wobei die anglo-amerikanische Gruppe Luxfer Gas Cylinders als Liquidator fungiert. Bis zum Frühjahr 2019 produzierten dort französische Mitarbeiter medizinische Sauerstoffflaschen – die letzten, die in Frankreich und sogar auf dem ganzen Kontinent hergestellt wurden. Auch hier wieder die gleiche Unfähigkeit des Staates, aber auch dieselbe Bereitschaft zur Wiederaufnahme der Produktion auf seiten der Arbeiter, die immer noch nicht aufgeben wollen. Dies um so mehr, als dieses Material angesichts des in die Höhe schnellenden Bedarfs für die Wiederbelebung von entscheidender Bedeutung geworden ist.
«Selbst in einer Kriegswirtschaft ist es schwierig, nicht vorhandene Kapazitäten und verlorengegangenes Know-how zu mobilisieren und die klaffenden Spezialisierungslücken zu füllen», bemerkten die Ökonomen Elie Cohen, Timothée Gigout-Magiorani und Philippe Aghion in einer Kolumne in Les Echos (31.3.2020) über diese massive Deindustrialisierung. Sie erinnern uns daran, dass Deutschland seinerseits nicht aufgehört hat, seine Produktionskapazitäten zu verstärken: Die deutschen Bruttoexporte von Tests, die jetzt für Covid-19 mobilisiert werden können, belaufen sich auf fast 2 Milliarden Euro pro Jahr, verglichen mit knapp 200 Millionen Euro in Frankreich.
Massive Abhängigkeiten
Die pharmazeutische Industrie ihrerseits steht bei der Auflösung der Produktionslinien an vorderster Front. Heute werden zwischen 60 % und 80 % der Wirkstoffe ausserhalb der Europäischen Union hergestellt, gegenüber 20 % bis 30 % vor zwanzig Jahren. Von Frankreich selbst ganz zu schweigen. Die Europäische Kommission sagt heute, dass sie eine «Neubewertung» der Produktionsketten innerhalb der EU erwägt. Aber dann?
Indien ist der grösste Lieferant von Generika und Impfstoffen und deckt 20 % der weltweiten Nachfrage. Doch dieses Streben nach finanzieller Effizienz führt um so mehr zu einer gefährlichen Abhängigkeit, als der Subkontinent selbst vom Corona-Virus betroffen ist.
So beschloss Indien am 4. März 2020 zum erstenmal in seiner Geschichte, den Export von 26 Wirkstoffen wie Paracetamol, Antibiotika und antiviralen Medikamenten zu stoppen. Das Land wollte sich auch vor der nicht minder massiven Abhängigkeit schützen, in der es sich befindet: Indien importiert fast 70 % seiner Wirkstoffe, die das Herzstück der Arzneimittelherstellung bilden, zumeist aus China. Unter Druck, insbesondere von seiten der Vereinigten Staaten, gab Premierminister Narendra Modi am 7. April schliess-lich 13 Medikamente und Zusatzstoffe frei.
Diese Aufsplitterung auf mehrere Produktionsländer ist um so gefährlicher, als die Konzerne von Sanofi bis Novartis der Meinung sind, dass die Daten über die Herkunft ihrer Produkte, die sie eifrig schützen, Herstellungsgeheimnisse sind.
Nach mehreren Warnungen vor Lieferunterbrechungen für Europa startete die französische Firma Sanofi am 24. Februar die Gründung einer Gesellschaft, um die sechs europäischen Werke, die aktive Wirkstoffe herstellen, zusammenzuführen. Solide Konsolidierung?
Kurzfristige Gewinnoptimierung für wenige statt
langfristiger Versorgungssicherheit für alle
In Wirklichkeit beabsichtigt der Konzern, dieses zukünftige Unternehmen, das schliesslich nur noch 30 % des Kapitals hält, als Tochtergesellschaft an die Börse zu bringen. Auf diese Weise kann man sich von dieser Einheit diskret verabschieden. Während öffentliche Institutionen wie BPI-France (die französische Kreditanstalt für Wiederaufbau KfW) willkommen sind, sich an der Finanzierungsrunde des neuen Unternehmens zu beteiligen, ist es sehr wahrscheinlich, dass sich auch ausländische Fonds gerne beteiligen werden, um Einfluss auf seine Entscheidungen zu nehmen.
Indem sie ihre Produktion auf diese Weise auseinander legen, haben die Hersteller zwar ihre Kosten gesenkt, gleichzeitig aber ihre Produktionskette extrem anfällig gemacht. Und das nicht nur in der pharmazeutischen Industrie. Eine andere Aktivität, die eng mit der industriellen Geschichte Frankreichs verbunden ist, zahlt gerade ihren Preis: die Automobilindustrie.
Carlos Tavares, Präsident von PSA (Peugeot-Citroën) kann sich rühmen, dass er «nur» 300 chinesische Lieferanten von den insgesamt 8000 hat, was jedoch ausreicht, um die Produktionsketten in Poissy und Rennes zu blockieren. In diesem Fall konzentriert sich China auf eine Produktion mit geringer Wertschöpfung, die 4 % des Preises für den Bau eines Fahrzeugs in Frankreich ausmacht. Vom Ganzen her gesehen stellen diese Teile jedoch 20 %, bei kleinen mechanischen und Kunststoffkomponenten sogar 50 % dar. Unter diesen Bedingungen hat es keinen Sinn, weiterhin Stossstangen in Europa herzustellen, wenn Schrauben und Muttern fehlen, damit die Autos die Fabriken verlassen können.
Überraschende Veränderungen
In der gegenwärtigen Krise führt all dies zu einigen überraschenden Veränderungen in der Vorgehensweise. Philippe Varin, ehemaliger Chef von Peugeot-Citroën (PSA), der beschlossen hatte, den Standort Aulnay-sous-Bois zu schliessen, ist heute als Präsident der Lobby des französischen Arbeitgeberverbandes der Industrie der Ansicht, dass die Krise «den Charakter einer Chance annehmen kann, weil sie die Wiederaufnahme der Produktion in Frankreich ermöglicht».
Eine weitere Wende: Laurence Daziano, Forscherin bei Fondapol, das sich als eine «liberale und europäische Denkfabrik» bezeichnet, fordert ihrerseits in Les Echos (7. April) den «Wiederaufbau der französischen Industrie» mit einer «Lenkungs- und Finanzierungsfunktion» für den Staat, der aufgefordert wird, «sich mit bis zu 10 % oder 15 % an strategischen Industrien zu beteiligen».
Doch die spektakulärste rhetorische Kehrtwende findet sich im Elysée-Palast. So plädierte Emmanuel Macron am 13. April für «den Wiederaufbau der Unabhängigkeit Frankreichs in den Bereichen Landwirtschaft, Gesundheit, Industrie und Technologie», nicht ohne an sein Mantra zu erinnern: «mehr strategische Autonomie für unser Europa». «Unser Europa», in diesem Fall die EU, basiert nach wie vor auf dem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften. Und Kapital.
Nach dem letzten Stand der Dinge stellen die europäischen Staats- und Regierungs-chefs, insbesondere der französische Präsident, dieses grundlegende und existentielle Dogma in keiner Weise in Frage. Die Kluft zwischen Rhetorik und Realität könnte sich daher vergrössern. Aber auch immer deutlicher sichtbar werden. •
Quelle: ruptures-presse.fr/categorie/deutsch/ vom 26.5.2020
(Übersetzung aus dem Französischen Ruptures)
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