von Prof. Dr. Peter Bachmaier*
Aus Anlass des 30. Jahrestages der Auflösung des «Ostblocks» gab es viele Beiträge in den Medien, von denen die meisten den «Übergang von der Diktatur zur Demokratie» hervorhoben. Das Europäische Parlament nahm unter Hinweis auf die Grundprinzipien der Europäischen Union am 19. September 2019 eine Resolution an, in der alle Mitgliedsstaaten aufgefordert werden, den 23. August, den Tag der Unterzeichnung des Nichtangriffspakts zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion, als den Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer totalitärer Regime zu begehen. Die Resolution verwies besonders auf postsozialistische Staaten im Osten der EU, in denen «nach wie vor Symbole totalitärer Regime» in der Öffentlichkeit und «noch immer Denkmäler und Gedenkstätten», welche solche Regime «verherrlichen», gezeigt werden.
Man sollte aber die Periode des Staatssozialismus nicht nur aus der westlichen Perspektive des Kalten Krieges sehen. Der folgende Beitrag über den Staatssozialismus in Bulgarien – eine Zusammenfassung meiner langjährigen Arbeit in bulgarischen und russischen Archiven – möchte zeigen, dass die Volksrepublik Bulgarien (VRB) mit dem Begriff «Totalitarismus» nicht adäquat bezeichnet werden kann.
* Professor Dr. Peter Bachmaier, Historiker und Politologe, 1972–2005 Mitarbeiter und Vorstandsmitglied des Österreichischen Ost- und Südosteuropa Instituts in Wien; Lehrbeauftragter der Universität Wien; Vizepräsident des Bulgarischen Forschungsinstituts in Österreich (1999); Dr. h.c. der Universität Sofia (2008).
Publikation: Bachmaier, Peter. Die Metamorphose des Staatssozialismus. Die Kulturpolitik der Volksrepublik Bulgarien 1956–1989, Lit Verlag, 311 S., Wien 2019 (Reihe Miscellanea Bulgarica, Verein «Freunde des Hauses Wittgenstein», Band 25)
Das April-Plenum von 1956 und die Wiederkehr der traditionellen Kultur
In Bulgarien begann die erste Periode nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit der Machtergreifung der kommunistischen Partei (BKP) und der Errichtung eines repressiven Regimes nach sowjetischem Muster. Es kam zu Hinrichtungen, Schauprozessen, Errichtung von Straflagern, Einrichtung einer Zensurbehörde, zur Verstaatlichung aller Kultureinrichtungen und zur Einführung des Marxismus-Leninismus als offizieller staatlicher Ideologie. Während der Periode 1956–1989 kam es jedoch zu einer gewissen Normalisierung des täglichen Lebens innerhalb des Rahmens des sozialistischen Aufbaus.
Nach dem April-Plenum von 1956 und vor allem nach dem VIII. Parteitag der BKP von 1962, als Vălko Červenkov und seine Anhänger aus der Führung entfernt wurden, kam es zu einer Metamorphose, einer inneren Verwandlung des Systems. Die Strukturen des autoritären Systems mit dem politischen Monopol der BKP blieben zwar bestehen, aber es kam zu einer Wiederherstellung der traditionellen Ethik und zu Ansätzen eines «sittlichen Staates».
Eine grosse Rolle spielte der deutsche Idealismus, der schon auf die nationale Wiedergeburt und die Befreiungsbewegung im 19. Jahrhundert einen starken Einfluss hatte. Herder, Schiller, Kant, Hegel, Humboldt u. v. a. waren den Intellektuellen, von denen viele in Wien, München und Leipzig studierten, gut bekannt und wurden übersetzt. Im Mai 1955 wurde an die 150. Wiederkehr des Todes Friedrich Schillers mit einer Feier im Nationaltheater in Sofia und einer Aufführung von «Don Carlos» erinnert, veranstaltet vom Ministerium für Kultur und vom Schriftstellerverband. Auf der Feier, an der Ministerpräsident Anton Jugov und die Mitglieder des Politbüros teilnahmen, erklärte der DichterValeri Petrov in seiner Festrede: «Schiller war immer mit uns … Er war der Bannerträger des Glaubens an die Menschheit und an die menschliche Würde.» Am 10. November 1959 gedachte man des 200. Geburtstags Friedrich Schillers in Vorlesungen und Artikeln in der Zeitschrift «Literaturen front». Ebenso hatte die Philosophie Hegels einen grossen Einfluss auf das Geistesleben und auch auf den Marxismus. Seine Hauptwerke wurden in den sechziger Jahren von Genčo Dončevübersetzt, der in seinem Nachwort zur «Phänomenologie des Geistes» schrieb: «Die Philosophie Hegels ist die Philosophie des freien Menschen.» (1969)
Die staatliche Zensurbehörde Glavlit wurde 1956 abgeschafft, die Söhne und Töchter der früheren «Bourgeoisie» wurden 1958 wieder zum Studium an der Universität zugelassen und die «bürgerlichen» Professoren und Wissenschaftler rehabilitiert. Der Erste Sekretär des ZK der BKP, Todor Živkov, konnte in den sechziger Jahren eine «Symbiose» mit den Kulturschaffenden herstellen und sie für die Staatsmacht gewinnen. Seit damals gab es in Bulgarien keine Dissidenten, keinen Samizdat und keine «verstummten Dichter» mehr. Das Arbeitslager Loveč wurde 1962 geschlossen, und es gab bis zum Ende des Staatssozialismus keine Volksaufstände und keinen Einmarsch fremder Truppen.
Die «kulturelle Revolution» bedeutete, dass man in einer kurzen Zeit mit autoritären Mitteln den Analphabetismus (24 % der Bevölkerung) beseitigen und den Bildungsstand des Volkes heben und die Gesellschaft modernisieren wollte, was für die Industrialisierung notwendig war. Die Kultur hatte einen hohen Stellenwert, und es gab nach 20 Jahren bereits 2400 Kulturhäuser (čitališta), 42 Theater und Opernhäuser, Hunderte Musikschulen, Sänger von Weltruf wie Nikolaj Ghiaurov und Boris Christov und staatliche Galerien in jedem Bezirk. Der kulturelle Aufschwung Bulgariens in den sechziger und siebziger Jahren und die ideologische Orientierung der Kulturpolitik waren eine eigenständige Initiative der bulgarischen Führung, die nicht von der Sowjetunion gesteuert wurde.
Als Keimzelle der Gesellschaft wurde die Familie mit Einschluss der Grosseltern gesehen. Zum sittlichen Staat gehörten aber auch die Rechte der Nation. In einer grossen Rede im April 1963 verurteilte Todor Živkovden «Nihilismus» der westlichen Kultur und der «westlichen Lebensweise» als Ideal der Jugend. Es ging um die Bewahrung der Nationalkultur mit einer Berufung auf die literarische und philosophische Klassik als Fundament der Sittlichkeit.
Der Einfluss des deutschen Idealismus
Der bulgarische Philosoph Nikolaj Iribadžakov äusserte sich folgendermassen über die Ethik in der VRB: «Die Ideologie war materialistisch, aber die Ethik war idealistisch. Der Komsomol organisierte Arbeitsbrigaden, freiwillige Arbeitseinsätze, betonte die Gemeinschaft, die Solidarität und die Familie!» (Iribadžakov. Razvitoto socialističesko obštestvo[Die entwickelte sozialistische Gesellschaft], Sofia 1972)
Die Grundprinzipien des menschlichen Zusammenlebens waren dem Gemeinwohl verpflichtet.
Das Schulwesen entwickelte sich rasch. Die Schüler wurden zur Disziplin und zum Patriotismus erzogen. Die Traditionen des bulgarischen Volkes und der grossen Schriftsteller wurden bewahrt. In den sechziger Jahren wurden Sprachgymnasien für Deutsch, Französisch und Englisch errichtet. Im Jahr 1977 wurde in Sofia ein klassisches Gymnasium gegründet, an dem Latein, Griechisch und Altbulgarisch unterrichtet wurden.
Im Jahr 1968 wurden im Kodex des Komsomol die Tugenden der Jugendlichen wie folgt definiert: «Ich bewahre die Sprache, die Traditionen und die Gebräuche meines Volkes. Ich liebe das sozialistische Bulgarien, meinen grössten Reichtum. Ich werde mich selbst zur Bescheidenheit, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit erziehen.» (Statut des Dimitrovschen Jugendverbandes, 12. Januar 1968)
Im Mai 1980 wurde auf dem I. Kongress des Bildungswesens eine «Charta des bulgarischen Lehrers» beschlossen, in der es hiess: «Als geistig reiche Persönlichkeit, begeistert und zielbewusst, zeichnete der Lehrer sich durch Hingabe an die nationale Wiedergeburt, seine Arbeit, seine apostelgleiche Liebe zu den heranwachsenden Generationen des Vaterlandes aus. Der bulgarische Lehrer begeisterte sich für die hohen sittlichen und demokratischen Grundpfeiler der jahrhundertealten bulgarischen Schule.»
Die orthodoxe Kirche musste in den ersten Jahren Verfolgungen erdulden, aber in den sechziger Jahren wurde sie für «autonom» erklärt. Das leitende Thema der orthodoxen Kirche wurde der «patriotische Dienst», und die Historiker anerkannten ihre Rolle für die nationale Geschichte. In den siebziger Jahren wurden die Repressionen gegenüber Geistlichen eingestellt und Kirchen und Klöster restauriert.
Der Moskauer Patriarch Aleksij, der Ende Mai 1962 Bulgarien besuchte, erklärte aus Anlass des bulgarischen Feiertags der slawischen Kultur: «In der Morgenröte des Lebens des russischen Volkes sandte uns Gott die beiden heiligen Brüder Kyrillund Method, und sie wurden unsere Väter im Geiste. Die Einheit des Geistes und der Sprache wurde dadurch bewahrt, dass die slawische Sprache die Sprache unseres Glaubens und unserer Kirche wurde. Das orthodoxe Bulgarien half Russland, sich von dem Dunkel des Heidentums zu befreien, und nach vielen Jahrhunderten befreiten die Söhne Russlands, ohne ihr Leben zu schonen, Bulgarien von der Knechtschaft des andersgläubigen Unterdrückers.
Durch fünf Jahrhunderte versiegte für das bulgarische Volk niemals das Licht aus dem Norden; die Beziehungen zwischen unseren Völkern wurden trotz vieler Schwierigkeiten nicht unterbrochen. Das bulgarische Volk wurde geistig, religiös und moralisch vom russischen Volk, von seiner Kirche und seinen Zaren unterstützt.»
Bulgarien als «Vitrine des Sozialismus»
Der IX. Parteitag der BKP von 1966 beschloss ein «Neues System der Leitung der Volkswirtschaft», zu dem eine «Selbstverwaltung» der Betriebe gehörte. Auf dem I. Kongress der bulgarischen Kultur im Mai 1967 wurde das «gesellschaftlich-staatliche Prinzip» in der Kultur eingeführt, das heisst, dass die Kulturverbände gewählte Führungen erhielten. Auch die Führung des neu errichteten Komitees für Kultur, das de facto ein Ministerium war, wurde gewählt.
Vom 20. bis 22. Mai 1968 wurde der I. Kongress der bulgarischen Schriftsteller abgehalten, der als Opposition zum IV. Kongress der tschechoslowakischen Schriftsteller vom Juni 1967 gedacht war. Auf dem Kongress legte der Vorsitzende des Schriftstellerverbands, Georgi Džagarov, ein Gelöbnis der Treue zur BKP ab. Aber der tschechische Schriftsteller Petr Půjman konnte auf dem Kongress im Namen der tschechoslowakischen Schriftsteller eine kritische Rede halten, die als «häretisch» aufgefasst wurde.
Die IX. Weltjugendfestspiele in Sofia, die im Juli und August 1968 in der bulgarischen Hauptstadt stattfanden, sollten Bulgarien als «Vitrine des Sozialismus» präsentieren. Unter den 20 000 Jugendlichen, die daran teilnahmen, waren 8000 aus dem Westen, davon viele Gruppen der 68er Bewegung, die den Staatssozialismus kritisierten, auch durch spektakuläre Aktionen. Sie konnten ihre Ideen auf der «Freien Tribüne» an der Universität Sofia vertreten, die eine grosse Diskussion auslösten.
Die Abteilung für Ideologie des ZK der BKP verfolgte aufmerksam die Entwicklung der westlichen Theorien der gesellschaftlichen Entwicklung. Dem Westen wurde vorgeworfen, das Wesen des Kapitalismus zu verschleiern, indem die moderne Gesellschaft «integraler Typ der Gesellschaft», «einheitliche Industriegesellschaft» oder «offene Gesellschaft» genannt wurde.
Dieselben Vorwürfe wurden auch den «Revisionisten» gemacht, die behaupteten, die moderne Gesellschaft kenne keine antagonistischen Widersprüche mehr. Die Kritik richtete sich besonders gegen die «Frankfurter Schule», der man eine «zersetzende Rolle in den Studentenbewegungen des Westens» vorwarf. Die Schreibweise Marcuses sei neo-positivistisch, antidialektisch und antihistorisch. Das wurde auch dem kritischen Rationalismus Karl Poppers und seinem Hauptwerk «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde» (1945), der das Gesellschaftsmodell von Plato und Marx als «totalitär» bezeichnete, vorgeworfen. Die «Internationale Sommerschule für Philosophie» in Varna, 1969 von den Instituten für Philosophie der sozialistischen Länder gegründet, versuchte auf ihren Konferenzen, die zeitgenössische westliche Philosophie zu widerlegen.
Die Ideologie der BKP war «nationalkommunistisch» und bekämpfte auch den «Modernismus» der westlichen Kultur wie abstrakte Kunst, experimentelle Literatur, atonale Musik und Kosmopolitismus. In den achtziger Jahren nahm aber durch den zunehmenden Einfluss des Westens und der Perestroika die Konsumorientierung der Jugend zu.
Das «Goldene Zeitalter» in den siebziger Jahren
In den siebziger Jahren wurde der Begriff des sozialistischen Realismus unter der Bezeichnung «engagierter Realismus» erweitert, Literatur, Kunst und Musik sollten keine Propagandakunst sein, sondern mit der Berufung auf die Philosophie Hegels auf Schönheit beruhen. Die Kulturpolitik der Vorsitzenden des Komitees für Kultur, Ljudmila Živkova, war im Grunde nicht mehr eine Variante der sowjetischen Kultur, sondern eine eigenständige Tendenz.
In den siebziger Jahren wurden bedeutende internationale Veranstaltungen organisiert, wie 1973 der Weltkongress für Philosophie, ab 1974 die «Triennale der engagierten realistischen Kunst» und ab 1977 internationale Schriftstellerkongresse unter Teilnahme bekannter westlicher Schriftsteller. Im Jahr 1975 lud Ljudmila Živkova das bekannte Moskauer Avantgardetheater «An der Taganka» mit dem sowjetischen Barden Vladimir Vysockij nach Bulgarien ein.
Im Jahr 1976 wurde in Wien das einzige bulgarische Kulturinstitut im Westen im Haus Wittgenstein errichtet, das ausdrücklich keine politische Propaganda machen und keine Staatskunst mehr präsentieren wollte. Es war auch eine sehr fruchtbare Periode der kulturellen Zusammenarbeit zwischen Österreich und Bulgarien.
Ljudmila Živkova interessierte sich sehr für Metaphysik, sie war keine Atheistin. In der Eröffnungsrede der Assemblée «Banner des Friedens» im Jahr 1979 rief sie die Jugend auf, sich über die rein materiellen Werte zu erheben. Auf einer Tagung im Dezember 1980 hielt sie eine Rede über die ästhetische Erziehung, in der sie keine Erwähnung der Lehre Lenins von den zwei Kulturen machte, sondern von allgemein menschlichen Kriterien wie «Einheit, Schöpfertum und Schönheit» sprach. Diese Kultur war eine Nationalkultur, die offen war für die Weltkultur, wie vor allem das Jubiläum «1300 Jahre Bulgarien» zeigte, das von 1978 bis 1981 begangen wurde. Diese Periode wurde als das neue «Goldene Zeitalter» bezeichnet, nach dem unter Zar Simeon im 10. Jahrhundert.
Das bulgarische ethnische Modell und die «Einheit des Volkes»
Der X. Parteitag der BKP von 1971 beschloss eine neue Verfassung mit dem Ziel der Errichtung einer «einheitlichen sozialistischen Nation», aber in Wirklichkeit blieb die «Parallelgesellschaft» mit der türkischen Volksgruppe bestehen. Die bulgarische Regierung änderte deshalb ihre Politik gegenüber der türkischen Bevölkerung, vor allem nach der Besetzung des Nordens der Insel Zypern durch die Türkei im Jahre 1974.
Ende des Jahres 1984 wurde die Entscheidung getroffen, die Namen aller Türken und Moslems zu bulgarisieren und den Unterricht in der türkischen Sprache in den Schulen, die türkischen Zeitungen und Radiosendungen abzuschaffen. Die Aktivitäten der Moscheen und der moslemischen Organisationen wurden stark eingeschränkt. Der Beschluss wurde von Todor Živkov selbst gefasst, der die Verantwortung dafür im Namen des Staates übernahm. Der Beschluss nannte die türkischen Moslems Bulgaren, die zur Zeit der türkischen Herrschaft islamisiert worden waren. Diese Politik wurde deshalb «Prozess der nationalen Wiedergeburt» genannt.
Im August 1987 richtete der türkische Ministerpräsident Turgut Özal Drohungen gegen Bulgarien in der Frage der bulgarischen Moslems, indem er eine Lösung nach dem Muster Zyperns ankündigte. Die «Stimme der Türkei» errichtete einen neuen Sender an der Grenze zu Bulgarien. Die Organisationen der bulgarischen Opposition stellten sich bald nach ihrer Gründung im Jahr 1988 und besonders zur Zeit der Proteste der bulgarischen Türken im Mai 1989 dem «Wiedergeburtsprozess» entgegen.
Im Frühling 1989 änderte sich die politische Lage in der Welt. Das sozialistische System mit der Sowjetunion an der Spitze geriet in eine schwere Krise. Das Problem mit den türkischen Moslems in Bulgarien war den westlichen Ländern und der Türkei willkommen. Schliesslich wurden im Mai 1989 massenhafte Unruhen der Moslems gegen den «Wiedergeburtsprozess» organisiert. Die bulgarischen Behörden erlaubten den Moslems die Ausreise in die Türkei, und im Mai und Juni 1989 verliessen etwa 360 000 bulgarische Türken und Moslems das Land. In den folgenden Monaten kehrte aber die Hälfte der Ausgewanderten nach Bulgarien zurück.
Auf dem Höhepunkt der «Grossen Exkursion», der Migrationsbewegung der bulgarischen Türken und der Pariser Expertenkonferenz der KSZE über die menschliche Dimension, die einen Druck auf Bulgarien ausübte, hielt Todor Živkov am 29. Mai 1989 eine Fernsehansprache, in der er ausführte:
«Es ist eine historische Tatsache, dass gerade der Sieg der sozialistischen Revolution und unseres sozialistischen Staates die moslemische Bevölkerung aus der Ignoranz, dem Elend und der Rechtlosigkeit befreite, zu denen das Osmanische Reich sie verurteilt hatte […]. Das Analphabetentum wurde in dieser Region beseitigt. Etwa 500 Jugendliche dieser Region nahmen jährlich ein Studium an Hochschulen auf. Die Anzahl der Lehrer dort ist heute grösser als die der Schüler vor der Revolution.»
Die Rolle der Sowjetunion in Bulgarien
Die Sowjetunion spielte eine wesentliche Rolle in Bulgarien durch die gemeinsamen Konferenzen der kommunistischen Parteien, den Warschauer Pakt und den Rat für gegenseitige wirtschaftliche Hilfe, aber im Komitee für Kultur der VRB gab es keine sowjetischen Berater. Die Kulturpolitik war eine eigene Sache Bulgariens.
In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre spielte Bulgarien trotz der gespannten Beziehungen zwischen Todor Živkov und Michail Gorbatschow eine herausragende Rolle im sowjetischen Geistesleben. Im Februar 1988 wurde ein Bulgarisches Kulturzentrum, das erste eines fremden Staates in der Sowjetunion, in Moskau errichtet. Das Kulturzentrum setzte sich zum Ziel, ständige bulgarische kulturelle Aktivitäten in der RSFSR, der Ukraine und Belorussland durchzuführen.
Am 24. Mai 1988 wurde aus Anlass des Kyrill-und-Method-Festes, das im Jahr 1988 mit dem Jubiläum «1000 Jahre seit der Taufe Russlands» zusammenfiel, eine Allunionsfeier des slawischen Schrifttums zu Ehren der slawischen Apostel in Moskau organisiert. Am 24. Mai 1989 wurde eine solche Feier in Kiew und 1990 in Minsk, der Hauptstadt Beloruss-lands, jeweils unter Beteiligung einer prominenten bulgarischen Delegation, organisiert.
In der Zeit der Perestroika geriet die VRB in Schwierigkeiten, weil Gorbatschowdie sowjetischen Privilegien für die bulgarische Wirtschaft abschaffte und letzten Endes auch das politische Monopol der BKP beseitigen wollte. Todor Živkov war mit Privatisierung, Dezentralisierung und Selbstverwaltung, zum Beispiel der Kulturverbände, einverstanden, aber er wollte die Macht der BKP aufrechterhalten, so wie die der Partei in China, wo er 1988 eine Unterredung mit Deng Hsiao Ping hatte.
Die Periode der Perestroika (1986–1989) umfasste die letzte Krise des Regimes, die nicht zuletzt eine geistige Krise war. Auf dem Parteitag von 1986 kritisierte der Sekretär des Jugendverbands die Konsumeinstellung der Jugend, den westlichen Einfluss in der Mode und in der Kunst und das Wachstum der «informellen» Jugendgruppen. Ganz zum Schluss, Ende 1988 und im Jahr 1989, gingen die Kulturverbände und die Universität Sofia auf die Seite der Opposition über. Todor Živkov wurde nicht durch einen Volksaufstand gestürzt, sondern durch einen Palastputsch, weil ihm Gorbatschow seine Unterstützung entzogen hatte. Die erste oppositionelle Massenkundgebung fand eine Woche nach dem Sturz Todor Živkovs am 17. November 1989 statt und wurde von der neuen Regierung organisiert. Die Republik Bulgarien wird heute als das Ergebnis eines radikalen Bruchs mit der kommunistischen Vergangenheit gesehen.
Die Wende von 1989: von Ost nach West
Das Programm der Wirtschaftsreform, das die amerikanischen Ökonomen Richard Rahnund Ronald Uttim Oktober 1990 im Auftrag der neuen bulgarischen Regierung von Andrej Lukanovvorlegten, war die Grundlage für das neoliberale Projekt, das in Bulgarien verwirklicht wurde. Vom Jahr 1991 an wurde auch die Kultur entideologisiert, dezentralisiert und ökonomisiert. Das Bildungsmonopol des Staates wurde abgeschafft und die staatliche Ideologie in diesem Bereich beseitigt.
Der Europarat kritisierte in einem Gutachten über Bulgarien die «einheitliche Perspektive über Kultur», in der die modernen künstlerischen Bewegungen keinen Raum finden könnten, und auch die Orientierung an Russland. Die Tätigkeit der Kunst sollte nach ihrem wirtschaftlichen Ergebnis beurteilt werden. Dafür waren auch neue Formen von Sponsoring und Marketing notwendig. Das Kulturgesetz von 1991 war die Bedingung der Europäischen Union für die Aufnahme Bulgariens in ihre Kulturprogramme.
Das Bulgarische Nationale Fernsehen (BNT) wurde 1992 in eine selbständige Organisation umgewandelt. Im Jahr 2000 wurde der private Fernsehsender BTVgegründet, der vom Medienkonzern News Corporation von Rupert Murdoch übernommen wurde. Die Zeitungen und Zeitschriften erhielten nach 1989 meist ausländische Eigentümer, vor allem die deutsche WAZ-Gruppe.
Von der Regierung Kostov wurde 1998 auch ein neues Gesetz über die Volksbildung beschlossen, das mit Unterstützung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank auf den Markt orientiert war. Neben den staatlichen Schulen entstand ein Sektor mit Schulen in privater Trägerschaft, die Schulgeld oder Studiengebühren verlangten und dadurch auch die Lehrer besser bezahlen konnten, sowie ausländische Schulen, die von westlichen Organisationen erhalten wurden.
Eine herausragende Rolle für den Wertewandel im bulgarischen Volk spielte die Stiftung «Offene Gesellschaft» des amerikanischen Milliardärs und Philanthropen ungarischer Abstammung George Soros. Die Gründung der nationalen Stiftung «Open Society Foundation Sofia» fand am 5. April 1990 mit ausdrücklicher Genehmigung der neuen bulgarischen Regierung statt.
Seit dem Beitritt zur EU im Januar 2007 bildete Bulgarien seine Kulturpolitik nach dem europäischen Modell um und beteiligte sich aktiv an allen relevanten EU-Programmen. Die bulgarischen Rechtsvorschriften über audiovisuelle Medien und geistiges Eigentum wurden in vollem Umfang mit der EU und ihrer Richtlinie «Fernsehen ohne Grenzen» (1989) harmonisiert. Im EU-Vertrag mit Bulgarien von 2007 ist der Bereich «Bildungswesen und Berufsschulbildung», vor allem durch die Entwicklung der europäischen Dimension im Hochschulwesen gemäss der Deklaration von Bologna im Jahr 1999 und die Entwicklung eines Systems des ununterbrochenen Unterrichts und der Weiterbildung, ausgerichtet auf die Ziele der Lissabon-Strategie vom Jahr 2000 festgelegt.
Die Reformen nach 1989 und vor allem nach 1997 haben tiefe Spuren in der bulgarischen Kultur hinterlassen. Der Staat zog sich von seiner Verantwortung für die Kultur weitgehend zurück, und zwar ohne alternative Finanzquellen zu schaffen. Die Kulturpolitik erlebte drastische Kürzungen und Entlassungen. Opernhäuser, Philharmonien und andere Musikinstitutionen wurden in kurzer Zeit fusioniert oder geschlossen. Auch das System der nationalen Kunstschulen und der ehemaligen Musikgymnasien wurde reduziert.
Die verbliebenen kulturellen Einrichtungen können nur mehr geringe Gehälter zahlen, aber keine neuen Projekte und Produktionen mehr durchführen. Im Budget für das Jahr 2020 sind für Bildungswesen und Wissenschaft Ausgaben in Höhe von 417 Mio. Leva vorgesehen. Für Kultur sind Gesamtausgaben von 126 Mio. Leva vorgesehen, darunter 13,6 Mio. Leva für das kulturelle Erbe und 108 Mio. Leva für «zeitgenössische Kunst». Der Anteil der Kultur am BIP verringerte sich von 1,1 % (1990) auf 0,6 % im Jahr 2019.
Die Kultur spielt jedoch weiterhin eine wichtige Rolle. Es entwickelte sich ein grosses Interesse für die eigene Vergangenheit. Schliesslich waren die staatlichen Kultureinrichtungen – die Theater, Opernhäuser, Konzertsäle, Kunstgalerien und Filmstudios – trotz der schwierigen wirtschaftlichen Situation noch immer in der Lage, bedeutende künstlerische Leistungen hervorzubringen und dafür auch internationale Anerkennung zu gewinnen.
Bulgarien braucht heute eine neue kulturelle Orientierung und eine Wiederherstellung der Rolle des Staates. In den Konzepten der letzten Regierungen wurden als wichtigste Ziele und Prinzipien bereits folgende genannt: die Wandlung der Kultur in eine nationale Priorität, um die Einheit der Nation zu erhalten, die Erhaltung der traditionellen Werte und die Stärkung der Rolle der bulgarischen Kultur im europäischen Kontext. Es ist zu hoffen, dass dieses Konzept in Zukunft auch tatsächlich die Linie der bulgarischen Kulturpolitik bestimmt.•
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