Eskalation zwischen China und Indien

Friedliche Koexistenz oder atomares Inferno am Himalaja?

von Dr. Matin Baraki*, Marburg

Von der Weltöffentlichkeit wegen der Corona-Pandemie unbemerkt, entwickelt sich eine gefährliche Hochspannung am Himalaja. So könnte man die aktuelle Situation zwischen den beiden Atommächten Volksrepublik China und der Republik Indien zusammenfassen. Seit Anfang Mai lassen China und Indien zusätzliche Truppen entlang der gemeinsamen Grenze aufmarschieren. Das Gebiet liegt in 4000 Metern Höhe in Ladakh, das Indien als Teil Kaschmirs ansieht. China besetzte östlich von Ladakh das indische Gebiet und benannte es einfach in «Aksai Chin» um.1 Der Grenzverlauf, ein Erbe der britischen Kolonialmacht, ist nicht nur hier, sondern an vielen Punkten im Himalaja umstritten. Der von beiden Seiten nolens volens tolerierte Verlauf der Grenze wird als die «Line of Actual Control» (LAC) bezeichnet.2

Indien und China haben sich immer wieder gegenseitig vorgeworfen, die jeweils andere Seite durch unzulässige Patrouillen und Übertritte der Grenzlinie zu provozieren. Dort hatten beide Länder schon im Jahre 1962 einen kurzen, aber heftigen Krieg gegeneinander geführt3, der zu einer Niederlage Indiens führte. Die Schmach dieses verlorenen Grenzkrieges sitzt tief im kollektiven Gedächtnis der indischen Elite.
   
Am 5. Mai 2020 gab es am Ufer des Sees Pangong in Ladakh ein Gerangel zwischen chinesischen und indischen Grenzsoldaten, bei dem diese sich mit blossen Fäusten gegenseitig traktierten. Am 25. Mai verschärften sich die Spannungen zwischen beiden Ländern. Es kam zu einer schweren Prügelei, bei der bis zu 250 Soldaten verletzt worden sind. Es ist die schwerste Grenzkrise seit 2017. Damals standen sich Truppen der Volksrepublik Chinas und Indiens in Doklam, nahe des Königreichs Bhutan, gegenüber. Über 73 Tage hielt diese Konfrontation an, bevor sie durch Chinas Staats- und Parteiführer Xi Jinping und den indischen Premierminister Narendra Modi nach politischen Gesprächen beendet wurde.4
    Wieder sieht die Lage hochexplosiv aus. Indiens Premier Modi berief am 26. Mai eine Krisensitzung der Generäle und seinen Sicherheitsberater Ajit Doval ein, bei der «Indiens militärische Bereitschaft» das Hauptthema gewesen ist. Die Nachrichtenagentur PTI stellt fest: «Chinas Strategie, militärischen Druck auf Indien auszuüben, wird nicht funktionieren.»5 Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping reagierte umgehend. Sein Land werde die Bereitschaft zum bewaffneten Kampf erhöhen. Kurz vor Xis Äusserung hatte der Sprecher des chinesischen Aussenministeriums hervorgehoben, dass China eine «konsistente und klare Haltung»6 im Grenzkonflikt mit Indien vertrete und es die Pflicht der chinesischen Volksbefreiungsarmee sei, Chinas Territorium und seine nationale Souveränität verteidigen zu wollen. Jetzt wird der Ton rauher. Die chinesische staatliche «Global Times» berichtete von mehreren «illegalen Verteidigungsanlagen»7 der indischen Seite, von wo aus chinesisches Territorium erreicht werden könne. Daraufhin habe die Volksrepublik China mit Truppenbewegungen begonnen. Für eine mögliche Eskalation trage die indische Republik die alleinige Verantwortung.
    Indische Militäranalysten wiesen bereits Mitte Mai auf die Frage des Timings hin. Der pensionierte indische General Ajay sprach von «aggressiv anmutenden Manövern»8 des chinesischen Militärs am Himalaja, die an das Verhalten der chinesischen Flotte im südchinesischen Meer erinnerten. Die Zeitung «Financial Express» berief sich auf den indischen Sicherheitsexperten Ajey Lele mit den Worten: «Warum geschieht dies jetzt, inmitten der Covid-19-Krise?» Lele hält es für möglich, dass China die Entschlossenheit des indischen Militärs austesten wolle, jetzt, da die Regierung in Delhi so sehr mit dem Corona-Virus beschäftigt ist. Auch der ehemalige «indische Diplomat Phunchok Stobdan warnte im «Indian Express» davor, dass China die indischen Streitkräfte weiter nach Westen zurückdrängen wolle, um auf diese Weise näher an den strategisch wichtigen Siachen-Gletscher heranzurücken, auf dem sich indische und pakistanische Truppen»9 gegenüberstehen. Pakistan und die Volksrepublik China sind militärische und strategische Verbündete und versuchen doppelten Druck auf Indien auszuüben.
    Die Regierung in Peking wiederum hatte zuvor Kritik am Bau einer indischen Strasse nahe des Sees geübt und ihrerseits die Zahl der Patrouillenboote auf dem Gletschersee verdreifacht. Im Rahmen dieser Projekte sollen bis Ende 2020 immerhin 66 neue Strassen entlang der Grenze gebaut werden, als eine Antwort Indiens auf Chinas zahlreiche Infrastrukturprojekte im Rahmen seiner Initiative «Neue Seidenstrasse». Die Volksrepublik China weitet seit Jahren ihren Einfluss in der Region Süd-asien und Südostasien aus. Unter anderem auch in Gebieten, die Indien lange als seine strategische Interessensphäre betrachtet. In diesen abgelegenen Gebieten werden Indien und die Volksrepublik China durch die 3488 Kilometer lange «Line of Actual Control» (LAC) getrennt.10
    Da sowohl die chinesische als auch die indische Regierung in den letzten Jahren die nationalistische Karte zu innenpolitischen Zwecken genutzt haben, können sie sich jetzt schwer ohne Gesichtsverlust und Anzeichen der Schwäche von der selbst gestellten Falle befreien. Nach indischen Angaben sollen die Chinesen im Galwan-Tal bis zu drei Kilometer auf indisches Territorium vorgerückt sein. Die «India Today» berichtete am 27. Mai über eine Verlegung von 5000 Soldaten der Volksbefreiungsarmee nach Ladakh. Indien werde entsprechend darauf reagieren, wenn China die Zahl seiner Truppen erhöhe. Nach Angaben der Presseagentur Reuters bauen beide Seiten Verteidigungsanlagen in der Region auf. Die chinesische Regierung lässt auch weiteres Material in die Region transportieren. Dies wird als ein Hinweis darauf gedeutet, dass sich die Regierung in Peking auf einen längeren Konflikt mit Indien eingestellt zu haben scheint.11

    Politische Beobachter in Indien sprechen von einer «noch nie dagewesenen Situation». Am 26. Mai kündigte die Regierung in Peking an, sie werde Anfang Juni mit der Evakuierung der chinesischen Staatsbürger, darunter Studierende, Touristen und Geschäftsleute, aus Indien beginnen.
   
Strategen vor Ort warnen vor einer weiteren Verschärfung des Konflikts, die mit dem Tod von 20 indischen Soldaten im Juni an der indisch-chinesischen Grenze eingetreten zu sein scheint.
   
Den indischen Angaben zufolge gab es auch auf chinesischer Seite Opfer. Die Regierung in Peking bestätigte dies nicht, doch twitterte der Chefredakteur von «Global Times», dass auch Chinesen umgekommen seien.12Brahma Chellaney, Experte für strategische Studien am Centre for Policy Research in Delhi, sprach im indischen Fernsehen von einem Wendepunkt der Beziehungen. «Nach diesem Vorfall wird Chinas Verhältnis zu Indien nie mehr so sein wie vorher»13, sagte er. Das klang düster, denn schon jetzt herrscht in der Tat grosses gegenseitiges Misstrauen. Die Aussenminister beider Atommächte wollen jedoch eine sofortige «Abkühlung» des Konflikts an der Grenze der beiden Länder. Beide Seiten sprachen in einer Telefonkonferenz miteinander. Sie einigten sich, mit den Ereignissen im Galwan-Tal «fair umzugehen» und eine Lösung des Konflikts anzustreben.14
   
Bleibt zu erwähnen, dass die US-Administration seit Jahren versucht, Indien als strategischen Partner gegen die Volksrepublik China zu gewinnen und das Land gegen China zu instrumentalisieren.15 Schon US-Präsident Bill Clinton hat nicht den engsten und langjährigen US-Verbündeten, die Atommacht Pakistan, sondern Indien als alleinige Atommacht in Südasien anerkannt. Die Regierung in Peking warnt die indische Regierung, sich im China-USA-Streit in Taiwan und im Hongkong-Streit von der Trump-Administration instrumentalisieren zu lassen. Es ist zu hoffen, dass die politische und militärische Elite Indiens selbstbewusst und klug genug ist, um von den USA nicht zum blossen Gehilfen degradiert zu werden.    •

 


* Dr. phil. Matin Baraki, 1947 in Afghanistan geboren, hat dort als Lehrer gearbeitet, bevor er nach Deutschland kam. Heute ist er Sachverständiger für Afghanistan und entwicklungspolitischer Gutachter und Mitglied des Zentrums für Konfliktforschung sowie Lehrbeauftragter für Internationale Politik an der Philipps-Universität Marburg.

1  Vgl. Baraki, Matin: Kaschmir – die Genese des Konfliktes, in: Zeit-Fragen, Zürich, Nr. 19, 27.8.2019, S. 4.
Vgl. Fähnders, Till/Böge, Friederike: Tote, aber keine Schüsse, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 17.6.2020, S. 6.
3 
Vgl. Ebenda.
Vgl. Perras, Arne/Deuber, Lea: Grenzkonflikt im Himalaja: Die Unruhe zwischen China und Indien wächst, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), 27.5.2020.
5 
Ebenda.
Ebenda.
Ebenda.
8 
Ebenda.
Ebenda.
10 
Vgl. Fähnders, Till/Böge, Friederike: Tote, aber keine Schüsse, in: FAZ, 17.6.2020, S. 6.
11 
Vgl. Perras, Arne/Deuber, Lea: Grenzkonflikt im Himalaja: Die Unruhe zwischen China und Indien wächst, in: SZ, 27.5.2020.
12  Vgl. Fähnders, Till/Böge, Friederike: Tote, aber keine Schüsse, in: FAZ, 17.6.2020, S. 6.
13 
Perras, Arne/Deuber, Lea: Grenzkonflikt im Himalaja: Die Unruhe zwischen China und Indien wächst, in: Süddeutsche Zeitung, 27.5.2020.
14  V
gl. Fähnders, Till: Entspannung im Himalaja, in: FAZ, 7.7.2020, S. 5.
15 
Vgl. Fähnders, Till: Gegen Chinas Salamitaktik, in: FAZ, 23.6.2020, S. 8.

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