Münchner Abkommen entmutigte den deutschen Widerstand

Anmerkungen aus Schweizer Sicht

von Gotthard Frick*

In seinem Beitrag zur Geschichte und Bedeutung des Zweiten Weltkriegs vom 2. Juli 2020 (vgl. Zeit-Fragen Nr. 15/2020, "Auch diese Stimme sollte gehört werden") vertritt der russische Präsident Wladimir Putin seine Interessen und diejenigen Russlands genauso wie Trump die seinen und die der USA bzw. handelt grundsätzlich nach den gleichen Prinzipien wie fast alle Politiker.
   
Putin hat recht, die Sowjetunion hat mit Abstand die grössten Opfer für den Sieg über Nazideutschland erbracht. Kein anderer Staat hatte einen derart hohen Anteil von Toten und Verletzten unter seinen Truppen und seiner Bevölkerung und derart grossflächige Zerstörungen erlitten. Der Verfasser hat auch schon verschiedentlich darauf hingewiesen, dass Vergleiche in US-Dollar zwischen Staaten – was auch immer damit verglichen wird – irreführend sind («Neue Zürcher Zeitung»: Kriegskosten USA 272 Mia. $ und Sowjetunion 192 Mia. $). Was sollen sie angesichts völlig unterschiedlicher Wirtschaftssysteme –, hier die liberale US-Wirtschaft, da ein kommunistisches Wirtschaftssystem – unterschiedlichster Preise und Methoden zu deren Festsetzung, Löhne und Sozialleistungen, Sold und anderer Güter und Leistungen für die Soldaten, ständig schwankender Wechselkurse und vieler anderer Parameter aussagen? Hatten die sowjetischen Soldaten eine so gute Verpflegung wie die der USA? Hatten sie auch so viel komfortablen Urlaub? Dazu kommen noch die fundamentalen geographischen Unterschiede der Kriegsschauplätze und die sich daraus ergebenden völlig unterschiedlichen Anforderungen an die Ausrüstung, Bewaffnung und Kampfverfahren (die Landfläche der Sowjetunion auf seiten der Roten Armee, auf seiten der Alliierten Europa, -Nordafrika, Asien, Pazifik).
   
Zum wichtigsten Punkt: Es ist erwiesen, dass der Zweite Weltkrieg 1938 verhindert worden wäre, hätten Grossbritannien und Frankreich an der Münchner Konferenz vor Hitler nicht kapituliert und ihm nicht die Zerschlagung der Tschechoslowakei erlaubt. Dabei annektierte Hitler nicht nur das Sudetenland (und zerschlug die Tschechoslowakei kurz darauf ganz). Er erlaubte auch Polen, das er immer noch auf seine Seite ziehen wollte, und Ungarn, von diesen dort beanspruchte Gebiete zu besetzen (Was beide im Oktober/November 1938 taten, Polen «Mit dem Hunger einer Hyäne», wie Churchill schrieb). Wer weiss das heute noch?
   
Als Hitler im September 1938 an die Münchner Konferenz reiste, erwartete er nicht, dass die Alliierten kapitulieren würden. Deshalb teilte er seinen engsten militärischen Führern mit, er werde nach der Rückkehr von München die Tschechoslowakei angreifen. Die überwältigende Mehrheit der deutschen Generäle, darunter auch die Hitler-Anhänger, waren gegen einen Krieg. Die letzteren, weil sie überzeugt waren, Deutschland sei dafür noch nicht bereit. Am Generalstreffen von 1938 versuchte deshalb der durch den selbsternannten Oberkommandierenden Hitler ersetzte Vorgänger, Generaloberst Beck, die deutschen Generäle zum kollektiven Rücktritt zu bewegen und so einen Krieg zu verunmöglichen.
   
Der Chef des deutschen Generalstabs General Franz Halder – er wollte unter allen Umständen einen Krieg mit England verhindern – und andere höchste Offiziere verschworen sich, Hitler nach der Rückkehr von München zu verhaften und abzusetzen. Einzelne Verschwörer wollten ihn bei dieser Gelegenheit sogar ermorden. Durch die Kapitulation Frankreichs und Grossbritanniens vor Hitler wurde dieser zum Triumphator gemacht. Der Putsch war innenpolitisch unmöglich geworden. Am 28. September 1938 liessen die Verschwörer den Plan fallen. (Halder: «Es gelingt ihm ja alles. Was können wir noch tun?») Halder konzentrierte sich nach dieser frustrierenden Erfahrung ganz auf seine militärische Aufgabe und plante alle grossen deutschen Operationen, bis er 1942 von Hitler abgesetzt wurde, weil er gegen den Angriff auf Stalingrad war.
   
Die Verschwörung hatte für General Halder (und mehrere seiner Gleichgesinnten) noch ein Nachspiel. Nach dem gescheiterten Sprengstoffattentat auf Hitler vom 20. Juli 1944, mit dem Halder nichts zu tun hatte, unterzog die Gestapo zahlreiche Offiziere, Politiker und Bürger bestialischen Folterverhören. Dabei kamen mehrere Verschwörungen ans Licht, darunter auch die von General Franz Halder von 1938. Er wurde sofort mit seiner Frau und einer Tochter verhaftet, kam ins Konzentrationslager Flossenbürg, dann Dachau und wurde vor den rasch vorrückenden Alliierten ins Tirol verlegt, wo er hätte hingerichtet werden sollen. Aber die Alliierten befreiten ihn kurz darauf. Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess war er einer der Zeugen der Anklage.
   
Die Verschwörer, darunter neben zahlreichen Offizieren auch viele hohe Beamte und Bürger verschiedenster Parteien, wurden zum Tode verurteilt und an den Füssen an Fleischerhaken aufgehängt. Hitler kam immer wieder mal vorbei, um sich das dadurch verlängerte Leiden der Verschwörer anzusehen. Der langjährige Verschwörer und Chef der deutschen Abwehr, Admiral Wilhelm Canaris, wurde auch enttarnt und wenige Tage vor Kriegsende im Konzentrationslager Flossenbürg gehängt. Nur einige durften sich selber umbringen. Sie waren zu bekannt und -populär: Generaloberst Beck «durfte» sich erschiessen, Generalfeldmarschall Rommel – nicht beteiligt, aber über die Verschwörung informiert, ohne die Information weiterzuleiten – sich mit einer ihm gelieferten Giftpille umbringen. Mehrere nicht erkannte Verschwörer begingen Selbstmord, weil sie fürchteten, falls sie verhaftet würden, bei den Folterverhören ihre Kameraden zu verraten. So z. B. Generalmajor Henning von Tresckow, Stabschef der Heeresgruppe Mitte, der sich erschoss. Wir sollten uns auch an einen der ersten der zahlreichen gescheiterten Attentäter, einen Schweizer, den Neuenburger Theologiestudenten Maurice Bavaud, erinnern, der 1938 versucht hatte, Hitler zu erschiessen. Er wurde am 19. Mai 1941 in Berlin geköpft.
   
Auch für die Schweiz war Halder von Bedeutung. Als Generalstabschef prüfte er zu Anfang des Jahres 1940, vor dem Angriff auf Frankreich, ob eine deutsche Umgehung der französischen Festungskette Maginotlinie durch die Schweiz für Deutschland, oder umgekehrt, ein französischer Angriff durch die Schweiz auf Deutschland eine aussichtsreiche Option sei. Er kam wegen der von ihm als stark eingeschätzten Schweizer Armee, die zudem im Jura schon in Stellung war, zu einem negativen Schluss, schrieb aber dazu noch in das noch in das Kriegstagebuch: «Eine Umgehung durch eine unverteidigte Schweiz wäre eine verlockende Möglichkeit.»   •


* Gotthard Frick ist Autor des Buches «Hitlers Krieg und die Selbstbehauptung der Schweiz 1933–1945. Eine neue, umfassende Sicht auf die Selbstbehauptung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und die daraus für die Zukunft zu ziehenden Lehren» (2011 – ISBN 978-3-033-02948-4), zu bestellen beim Verlag «Zeit-Fragen». Er hat an der Universität Paris (Sorbonne und «Sciences Po») Civilisation française, Volkswirtschaftslehre und Business Administration studiert. Viele Jahre war er mit grossen Infrastrukturprojekten in der Schweiz und in Übersee befasst. 1968–2004 baute er eine Beratungsfirma auf, die weltweit für alle Entwicklungsbanken, Uno-Organisationen (ILO, WTO, UNDP), OECD, die Schweizer und mehrere andere Regierungen und Unternehmen tätig war. Frick war Infanterie-Bataillonskommandant und ist Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz.

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