von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich
Das Corona-Virus verursachte nicht die erste Pandemie, mit der die Schweizer Bevölkerung konfrontiert war. Am Ende des Ersten Weltkrieges – im Jahr 1918 – befand sie sich in einer ähnlichen, allerdings noch weit schlimmeren Situation als heute. Auch damals wurde die Grippe unterschätzt – was schwerwiegende Auswirkungen hatte.
Der Krieg war nach vier langen Jahren im Herbst zu Ende gegangen. Die Ernährungslage war schlecht, Hunger grassierte, die Teuerung war nicht unter Kontrolle – auch in der von Kampfhandlungen zum Glück verschonten Schweiz. Manche Länder waren in Aufruhr: In Russland hatte die Revolution stattgefunden, und Lenin hatte – wie angekündigt – begonnen, die «Diktatur des Proletariats» einzurichten. Schweizer, die aus Russland zurückkehrten, berichteten. Arbeiter- und Soldatenräte bildeten sich in deutschen Städten. In Berlin kam es zu einem Bürgerkrieg zwischen Arbeitermilizen, Einheiten der Reichswehr und Freikorps. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden ermordet. Der Kaiser war nach Holland geflohen. In München wurde die Räterepublik ausgerufen (die sich nur einige Tage an der Macht halten konnte). In Wien wurde die Donaumonarchie aufgelöst und die Republik eingerichtet. Auch hier wurde geschossen. Vorarlberg wünschte mit einer Volksabstimmung den Anschluss an die Schweiz. In Budapest bildete sich während mehrerer Monate eine Räterepublik. – Es waren unruhige Zeiten.
Grosse Streiks fanden in vielen Ländern statt – so auch in der Schweiz. Am 11. November 1918 riefen die Gewerkschaften landesweit den Generalstreik aus. 250 000 Streikende standen 90 000 Soldaten gegenüber, die der Bundesrat als Ordnungsdienst aufgeboten hatte. Die Streikenden hatten noch Wochen zuvor die gleiche Uniform getragen. Im Sommer war weltweit eine Grippewelle ausgebrochen. Die Verantwortlichen auf beiden Seiten wussten, dass das spanische Virus, wie man es nannte, überall war. Alle hatten jedoch seine Gefährlichkeit unterschätzt.
Heute steht umfangreiche Literatur zu diesem Schlüsselereignis der Schweizer Geschichte zur Verfügung. Im folgenden sollen die Milizsoldaten des damaligen Ordnungsdienstes aus den Kantonen Thurgau und Glarus zu Wort kommen. Sie haben die Massenaufmärsche und die Pandemie mit ihren katastrophalen Auswirkungen unmittelbar erlebt.
Die folgenden Berichte («Bericht aus Glarus» und «Bericht aus Frauenfeld») geben ein Bild über die Abläufe und stammen aus den Büchern «Geschichte des Landes Glarus» von Jakob Winteler (1954) und der «Geschichte des Kantons Thurgau» von Albert Schoop (1984).
Schoop beschreibt die politische Ausgangslage im Herbst 1918 vor dem Streik wie folgt: «Auf den 7. November, den Jahrestag der Russischen Revolution, erwarteten viele in der Schweiz eine neue revolutionäre Aktion mit genauem Programm, das neben der Schaffung von Arbeiterräten die Entwaffnung der ‹Bourgeoisie›, die Auflösung der bürgerlichen Parlamente, die Übernahme der politischen Gewalt durch die organisierte Arbeiterschaft, den Sturz der bürgerlichen Regierung und die Errichtung der proletarischen Diktatur vorsah.» («Thurgauer Zeitung» vom 18.10.1919, zit. nach Schoop, S. 258)
Die Geschäftsleitung der SP Schweiz hatte – gegen die Stimme ihres Präsidenten – beschlossen, des Jahrestages der Russischen Oktoberrevolution von 1917 mit Kundgebungen im ganzen Land zu gedenken. Der Bundesrat mobilisierte vorsorglich Truppen. Die Gewerkschaften forderten die Landesregierung ultimativ auf, das Militär wieder abzuziehen. Als sie nicht darauf einging, weitete das «Oltener Komitee» (Streikleitung) den bereits in Zürich ausgerufenen Warnstreik zum landesweiten Generalstreik aus. Im Thurgau rief ein kantonales Komitee zur Bildung von Ortswehren auf. (Schoop, S. 252)
Zum Ablauf des Generalstreiks
Bericht aus Glarus: «Zu den aufgebotenen Truppen, welchen die Sicherung von Ruhe und Ordnung anvertraut wurde, gehörte auch das Regiment 32 mit dem Glarner Bataillon 85. Am Montagmorgen des 11. November durch Sturmgeläut und Trommelwirbel aufgeboten, rückten Offiziere und Mannschaften bereits in den späten Abendstunden ein, wobei alle nur erdenklichen Verkehrsmittel benutzt wurden. Die Mobilmachung wurde die ganze Nacht über fortgesetzt, so dass die Einheit bereits am folgenden Morgen einsatzbereit war. Am Mittwoch marschierte das Bataillon nach Kaltbrunn, um von dort nach St. Gallen verladen zu werden, wo es, von der Bevölkerung freudig begrüsst, den ohne jeden Zwischenfall verlaufenden Ordnungsdienst übernahm. Die Stadt liess es sich nicht nehmen, jedem Wehrmann einen Ehrensold von 20 Franken zu verabfolgen.» (Winteler, S. 617)
Nicht ganz so erfreulich verlief der Einsatz der drei Thurgauer Bataillone 73, 74 und 75. Sie wurden in der Stadt Zürich eingesetzt.
Bericht aus Frauenfeld: «Was hatten die Thurgauer Truppen im Ordnungsdienst erlebt? Die Infanterie marschierte im Morgengrauen des 9. November nach Zürich in den Kasernenhof, von wo sie besondere Aufgaben zugewiesen erhielt. […] Bereits am späten Vormittag hatte das Bataillon 73 mit scharf geladener Waffe in Achterkolonne auf den Paradeplatz zu marschieren, wo eine verbotene Grossdemonstration aufzulösen war. Mit Pfeifen, Gegröl und Schimpfworten wurden die Thurgauer empfangen. […] Die Thurgauer Wehrmänner stellten Strassen-Patrouillen und Schildwachen auf und schützten die öffentlichen Gebäude, vor allem die Kaserne, wohin sich die Zürcher Regierung zurückgezogen hatte. Die Mannschaft bewahrte Ruhe und Besonnenheit und tat ihre Pflicht, hielt aber diesen Dienst in einer aufgewühlten, gärenden Stadt, wo ein Bürgerkrieg im Bereich des Möglichkeit lag, für das unangenehmste, psychisch belastende Ereignis des Aktivdienstes [Dienst während des Krieges].»
Die Grippe war von Anfang an mit dabei: «Mehr und mehr breitete sich die Grippe aus, reihenweise erfasste sie die Wehrmänner. Die Tonhalle und viele Turnhallen muss-ten als Notspitäler eingerichtet werden, einzelne Einheiten rückten nur noch mit halbem Bestand aus.»
Und es wurde geschossen: «Die wegen der Grippe geschwächte, nur noch 55 Mann starke Luzerner Füsilier-Kompanie I/42 erschien in der Fraumünsterstrasse, um den Platz zu räumen, aber sie war zu schwach, wurde umringt, beschimpft, eingeschlossen und konnte sich nur durch einige Salven in die Luft befreien. Prellschüsse verletzten drei Zivilisten; der Soldat Vogel verlor durch einen aus der Menge abgefeuerten Pistolenschuss sein Leben.»
«Die verängstigte Stadtbevölkerung gewann durch die Anwesenheit der Truppen Vertrauen und begann, die Soldaten zu verwöhnen. Auf den Wachlokalen häuften sich kleinere und grössere Geschenke. Langsam kehrte Ruhe und Vernunft wieder, und mit dem Abbruch [des Streiks] normalisierte sich das Leben in der Stadt.» (Schoop, S. 246– 251)
Der Generalstreik wurde vor allem in den grösseren Städten der Deutschschweiz befolgt. Die Aufmärsche verliefen jedoch an den verschiedenen Orten unterschiedlich. Einzelne Truppenkommandanten führten ihren Auftrag zurückhaltend aus – andere wie in Zürich weniger. In Grenchen erschossen Soldaten, die den Bahnhof bewachten und sich bedroht fühlten, drei Arbeiter. In St. Gallen oder auch in Bern dagegen kam es zu keinen Zwischenfällen.
Alle hatten die Pandemie unterschätzt
Die Pandemie hatte im Sommer 1918 eingesetzt. Sie wurde anfangs noch als relativ harmlos eingeschätzt. Die zweite, heftigere Welle trat ein, als sich der Konflikt zwischen den Gewerkschaften und der Landesregierung zuspitzte. Nicht alle Kantone führten eine so genaue Statistik wie die Kantone Glarus und Thurgau. Man kann davon ausgehen, dass in den wenigen Tagen des Streiks und in den Wochen danach einige Tausend Personen (Soldaten und Arbeiter) als Folge der Pandemie ihr Leben verloren haben.
Heute stellt sich im Rückblick die Frage, wie das Parlament Stellung genommen hat und warum der Bundesrat den Streik und die damit verbundenen Massenaufmärsche und Demonstrationen nicht einfach aus epidemiologischen Gründen verboten hat, so wie er dies heute gemacht hat. Die Parlamentarierer wurden teilweise mit Militärfahrzeugen ins Bundeshaus transportiert. Sie billigten grossmehrheitlich die Vorgehensweise der Landesregierung (der Ständerat fast einstimmig), bezeichneten den Streik «als eine unverantwortliche Leichtfertigkeit gegen die Volksgesundheit» und verlangten, die anstehenden Fragen auf dem Boden von Recht und Verfassung zu lösen (Schoop, S. 250). Die Gewerkschaftsführer ihrerseits machten dem Bundesrat und der Armeeführung den Vorwurf, viel zu wenig zum Schutz der Bevölkerung und der Soldaten getan zu haben. Die Stimmung war politisch so aufgeheizt und feindselig, dass ein Verbot wahrscheinlich zu einer weiteren Eskalation geführt hätte. Es ist fraglich, ob die Gewerkschaften ein solches Verbot überhaupt befolgt hätten.
Streikabbruch und Rückkehr der Soldaten
In dieser gefährlichen Situation, am Mittwoch, dem 14. November, stellte der Bundesrat dem Oltener Komitee das Ultimatum, den Streik sofort abzubrechen. Die Streikleitung lenkte ein, so dass die Thurgauer und Glarner Soldaten wieder in ihre Heimat zurückkehren konnten. Am Freitag, dem 16. November, wurde an den meisten Orten wieder gearbeitet. – Man kann nur mutmassen, was geschehen wäre, wenn die Streikleitung das Ultimatum zurückgewiesen hätte.
Bericht aus Frauenfeld: «Die Entlassung stimmte niemand fröhlich. Das Thurgauer Regiment 31, das am 19. November einen Krankenbestand von 1180 Mann meldete, war mit stark gelichteten Reihen heimgekehrt. […] Es beklagte den Tod von 46 Kameraden. […] Im ganzen Kanton wurden 20 837 Krankenfälle [auch aus der Bevölkerung] gemeldet, von denen 234 tödlich verliefen.»
«In Frauenfeld, dem Hauptquartier der 6. Division, waren am 15. November das Bündner Bataillon 93 […] einquartiert. Sie hatten besonders starke Verluste. Als sie fünf Tage später nach Chur heimkehrten, liessen sie über 200 Grippekranke zurück.» (Schoop, S. 252)
Bericht aus Glarus: «Die am 20. November erfolgende Rückkehr des Bataillons zur Demobilmachung bot einen betrübenden Eindruck, fehlte doch fast die Hälfte der Wehrmänner, die an der erst harmlos scheinenden Grippe erkrankt in den Spitälern zu St. Gallen, Uznach und Glarus lagen. Innert einer einzigen Woche hatte die Truppe über 300 Ausfälle zu verzeichnen. Die Epidemie hatte sich bereits seit dem Sommer über Europa verbreitet und in der Folge auch unter der Zivilbevölkerung zahlreiche Opfer gefordert. […] Das Bataillon 85 hatte während des zwölftägigen Streikdienstes 22 Angehörige aus Glarus als Grippeopfer zu beklagen, […] das Regiment 32 insgesamt 65 Mann.»
«Die Epidemie verursachte zahlreiche Störungen. Nicht nur, dass bereits im Herbst die Kirchweihanlässe untersagt wurden, das gesellschaftliche Leben kam gänzlich zum Stillstand. Die Schulen blieben geschlossen; selbst an Weihnachten wurden in den meisten evangelischen Kirchen die Abendmahlfeiern untersagt.» (Winteler, S. 617–618)
Bericht aus Frauenfeld: «Die erhoffte Normalisierung liess lange auf sich warten. Erst im Januar 1919 durften auf dem Gebiet des Kantons Thurgau wieder Versammlungen durchgeführt werden. Das Tanzverbot blieb noch eine Weile bestehen. Die Schüler an der Thurgauischen Kantonsschule, die notdürftig als Lazarett für Grippekranke eingerichtet war, sowie die Primar- und Sekundarschule traten nach einem langen Unterbruch von drei Monaten wieder zum Unterricht an.» (Schoop, S. 254)
Die Versorgungslage verbesserte sich nur langsam. Die Rationierung blieb auch nach Kriegsende noch monatelang bestehen. Die Brotkarte wurde erst im September 1919 abgeschafft. Der Bevölkerung im Thurgau war sich auch bewusst, dass die Zustände im benachbarten Ausland noch viel schlimmer waren: «Die Thurgauische Landbevölkerung beteiligte sich kräftig an der schweizerischen Hilfsaktion für die notleidende Stadt Wien, der in einem von Thurgauer Soldaten begleiteten Extrazug 420 Tonnen Nahrungsmittel zugeleitet werden konnten. Im folgenden Winter reisten Wiener Kinder zur Erholung in die Schweiz, von denen viele im gastfreundlichen Thurgau Anteilnahme und Hilfe fanden.» (Schoop, S. 254) Im März 1919 versprach der Bundesrat die Lieferung von 5000 Rindern nach Nordfrankreich und Belgien. Deshalb durfte im Thurgau kein Rindfleisch mehr gegessen werden.
Wie lässt sich eine solch ernsthafte Staatskrise lösen?
Diese Berichte zeigen eindrücklich, wie stark die Ereignisse um den Generalstreik und die Grippepandemie das zivile und politische Leben getroffen haben. Die Schweiz war tief gespalten. Es war wohl die schlimmste Staatskrise in der Geschichte des 1848 gegründeten Bundesstaates. Wie wurde sie bewältigt?
Die Sozialdemokraten machten es trotz der starken Radikalisierung vor, dass man strittige Fragen auf demokratischem Weg ohne Gewalt klären kann. Sie riefen einen Parteitag ein: Dazu der Bericht aus Frauenfeld: «Am ausserordentlichen Parteitag der Sozialdemokraten in Basel sprach sich nach erbitterten Auseinandersetzungen eine starke Mehrheit der Delegierten für den Austritt der schweizerischen Partei aus der (sozialistischen) Zweiten und ein Beitritt zur (bolschewistischen) Dritten Internationale aus, doch liessen die Gegner, unter ihnen der frühere Pfarrer von Arbon, Karl Straub, nicht locker und verlangten eine Urabstimmung. […] In der ganzen Schweiz wurde der Beitritt mit 8722 Ja gegen 14 612 Nein deutlich abgelehnt.» (Schoop, S. 259–260). – Eine starke Minderheit trat danach aus der Partei aus und gründete die Kommunistische Partei der Schweiz.
Bürger setzen die meisten Forderungen aus dem Generalstreik durch
Auch auf der politischen Ebene kam es zu zahlreichen Abstimmungen. Die Gewerkschaften waren im Generalstreik mit einem Forderungskatalog von acht Punkten aufgetreten, die alle zum grossen Teil berechtigt waren. Über fast jeden Punkt wurde an der Urne entschieden: bereits 1918 über die Volksinitiative zur Einführung der Proporzwahl (Ja). 1919 folgte die Abstimmung über vorgezogene Neuwahlen nach dem neuen System (Ja). 1919 führte ein Parlamentsbeschluss die 48-Stunden-Woche in den Fabriken ein. 1920 wurde über die Einführung der 48-Stunden-Woche bei der Bahn abgestimmt (Ja) und 1921 über die Volksinitiative zur Abschaffung der Militärjustiz (Nein). 1922 kam die Volksinitiative der SP zur Abstimmung, die verlangte, dass die Besitzenden die Kriegsschulden mittels einer einmaligen Vermögensabgabe bezahlten. Sie wurde bei einer Stimmbeteiligung von 86 Prozent mit 87 Prozent Nein abgelehnt. 1924 lehnte das Volk ein Bundesgesetz ab, das in Krisenzeiten die Arbeitszeit wieder verlängern wollte. Am 24. Mai 1925 lehnten die Stimmberechtigten die Volksinitiative (Initiative Rotheberger) zur Errichtung der AHV ab, weil die Art der Finanzierung nicht passte. Am 6. Dezember 1925 stimmten sie dem Verfassungsartikel zur Errichtung der AHV und IV zu. Vier Abstimmungen folgten im Laufe dieser Jahre über eine Landwirtschaftspolitik, die die Ernährung auch in Krisen besser sichert. (Im Zweiten Weltkrieg war deshalb die Versorgungslage deutlich besser.) – Einzig die Frauen mussten warten. Über ihr Stimmrecht sollte erst viele Jahre später abgestimmt werden. 1959 wurde es von den Schweizer Männern noch deutlich abgelehnt, 1971 angenommen. In mehreren Kantonen erhielten die Frauen das Stimmrecht früher. (Linder 2010)
Die Schweiz hatte ihren Weg gefunden
Die politische Stimmung und auch die Politiker veränderten sich bereits in den zwanziger Jahren, so dass das Land stabiler wurde. Denn die Bürger werden direkt einbezogen und jeder hat eine Stimme – in den Parteien, den Verbänden und auf allen politischen Ebenen. Dazu zwei Beispiele:
Der Zürcher Ernst Nobs hatte als Chefredaktor der grössten sozialdemokratischen Tageszeitung «Volksrecht» noch mit aller Schärfe gegen den Abbruch des Generalstreiks protestiert: «Es ist zum Heulen! Niemals ist schmählicher ein Streik zusammengebrochen, nicht unter den Schlägen des Gegners, nicht an der Entkräftung, nicht an der Mutlosigkeit der eigenen Truppen, sondern an der feigen, treulosen Haltung der Streikleitung.» («Volksrecht» vom 15.11.1918) Nobs wurde von einem Militärgericht zu einer Haftstrafe verurteilt. Jahre später wurde er in den Regierungsrat des Kantons Zürich gewählt, er wurde Stadtpräsident von Zürich und 1943 als erster Sozialdemokrat Bundesrat.
Der Thurgauer Konrad Ilg war Vizepräsident im Oltener Komitee und hatte den Landesstreik mitorganisiert. Als Schlosser setzte er sich leidenschaftlich für die Interessen der Arbeiter ein. Er studierte mit Vorliebe die Schriften Pierre Proudhons und des französischen Sozialisten Jaurès, dessen tiefe Menschlichkeit ihn beeindruckte. 1917 – ein Jahr vor dem Generalstreik – wurde er Präsident des Schweizerischen Uhren- und Metallarbeiterverbandes SMUV. Während fünfundzwanzig Jahren vertrat er die Arbeitnehmerinteressen im Nationalrat.
1937 ging Konrad Ilg auf Ernst Dübi zu, Direktor der Firma von Roll in Gerlafingen sowie Oberst und Chef der Artillerie des 4. Armeekorps. Ihre Gespräche führten zum sogenannten Friedensabkommen, welches das Verhältnis zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden auf eine neue Grundlage stellte. Treu und Glauben wurde das Prinzip in den künftigen Verhandlungen, d. h. die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände vertrauen sich gegenseitig und gehen davon aus, dass die Gegenseite gute Absichten hat und gemeinsame Interessen im Vordergrund stehen. Lohnabschlüsse wurden nicht mehr unterschiedslos für eine ganze Branche, sondern individuell für den einzelnen Betrieb verhandelt. Streik und Aussperrung fielen als Druckmittel weg, was den Weg für den Arbeitsfrieden bereitete. Mancher Arbeitgeber rückte von seinem «Herr im Haus»-Standpunkt ab, und es hat funktioniert. Beide, Dübi und Ilg, erhielten die Ehrendoktorwürde der Universität Bern. (Wüthrich, S. 190–193) Es gab seither keine grösseren Streiks mehr – bis heute.
Der Generalstreik blieb ein Einzelereignis
In der grossen Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre gingen die Gewerkschaften anders vor. Sie lancierten etliche Volksinitiativen und ergriffen Referenden, die sie jeweils nach wenigen Wochen mit über dreihunderttausend Unterschriften einreichten – ein Vielfaches der verlangten Zahl. Bundesrat und Parlament nahmen ihre Stimmen ernst und brachten sie schnell zur Abstimmung. Solche Unterschriftenzahlen sollten später nie mehr erreicht werden, obwohl die Schweiz heute doppelt so viele Einwohner hat und seit 1971 auch die Frauen unterschreiben können. Die Stimmbeteiligung betrug jeweils bis gegen 84 Prozent.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges tauchte – ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg – die Frage auf, wie man die Wirtschaftsordnung neu und sozialer gestalten könnte. 1943 beschloss die SP Schweiz ihr Programm «Die Neue Schweiz» und lancierte dazu eine Volksinitiative. (Das Parlament hatte bereits vor dem Krieg einen Entwurf für neue Wirtschaftsartikel in der Bundesverfassung ausgearbeitet.) Die Genossen waren jedoch nicht allein. Noch im gleichen Jahr wurden aus anderen politischen Lagern vier weitere Volksinitiativen mit ähnlicher Stossrichtung eingereicht. Dabei war der Krieg noch gar nicht zu Ende. Nach dem Krieg wurde mehrere Male abgestimmt, Weichen gestellt und Eckpunkte gesetzt zur sozialen Marktwirtschaft, in der wir heute leben (Wüthrich 2020).
Heute
Seit dem Generalstreik von 1918 hat das Volk allein auf Bundesebene mehr als 500mal über «fast alles und jedes» abstimmen können – auch in schwierigen Situationen (in den Kantonen und Gemeinden noch unzählige Male mehr). Das Resultat kann sich sehen lassen. Die Schweiz hatte sich von einem im 19. Jahrhundert noch relativ armen Land zu einem wohlhabenden und politisch stabilen Land entwickelt.
Heute steht allerdings eine grundsätzliche Weichenstellung an: Die EU will die Schweiz politisch stärker einbinden und verlangt ein Rahmenabkommen, das eine automatische Rechtsübernahme vorsieht. Das Volk könne trotzdem noch abstimmen, heisst es. «Brüssel» behält sich jedoch das Recht vor, mit «ausgleichenden Massnahmen» zu reagieren, falls das Resultat nicht in seinem Sinne ausfällt. – Eine merkwürdige Idee.
Die Schweiz hat ihren Weg gefunden. Ihr Modell gibt dem Volk, jeder Bürgerin und jedem Bürger eine Stimme und zeigt, dass es auch anders geht. Es ist eine Botschaft für den Frieden – auch für die Staatengemeinschaft. Es ist deshalb stossend und unverständlich, dass der Schweizer Diplomat Thomas Greminger (der übrigens über die Zeit des Generalstreiks von 1918 doktoriert hat) kürzlich ohne ersichtlichen Grund als Generalsekretär der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE nicht mehr bestätigt wurde und die Friedensorganisation aktuell gelähmt ist. Die politischen Spannungen auf der Welt sind heute kaum weniger gefährlich als 1918 und nehmen zu.
In wenigen Wochen – am 27. September 2020 – wird in der Schweiz erneut abgestimmt: über die Beschaffung von Kampfflugzeugen, über einen Vaterschaftsurlaub, über Kinderabzüge in den Bundessteuern, über ein Jagdgesetz, das den Abschuss von Wölfen erleichtert, und über eine Volksinitiative, die eine massvolle Zuwanderung verlangt (Begrenzungsinitiative).
Wie spannend kann die Politik doch sein! Wir sollten unseren Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern danken, die das politisch ermöglicht haben. Wir gedenken an unserem Nationalfeiertag am 1. August des Bündnisses der drei Urkantone Uri, Schwyz und Nidwalden im Jahr 1291. Ich denke, das grossartige Aufbauwerk in neuerer Zeit ist ebenfalls eine Erinnerung wert! •
Quellen:
Greminger, Thomas. Ordnungstruppen in Zürich. Der Einsatz von Armee, Polizei und Stadtwehr, Ende November 1918 bis August 1919. Basel/Frankfurt am Main 1990
Linder, Wolf u.a. Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen. Bern 2010
Schoop, Albert. Geschichte des Kantons Thurgau, Band I. Frauenfeld 1987
Winteler, Jakob. Geschichte des Landes Glarus. Glarus 1954
Wüthrich, Werner. Wirtschaft und direkte Demokratie in der Schweiz. Verlag Zeit-Fragen, Zürich 2002, ISBN 978-3-909234-24-0
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