«Die Frage ist nicht, ob China oder Amerika, sondern ob die Menschheit gewinnt»

Kishore Mahbubanis neuestes Buch zu den chinesisch-amerikanischen Beziehungen

von Johannes Irsiegler

Der singapurische Politikwissenschaftler und Diplomat Kishore Mahbubani ist durch seine Veröffentlichungen bekannt, in denen er immer wieder mehr Gleichwertigkeit in den Beziehungen des Westens zu den asiatischen Kulturen einfordert. Als einen ersten Schritt sucht er, Interesse an der anderen Kultur zu wecken und Wissen über sie zu vermitteln – ein Anliegen der Völkerverständigung und letztendlich des Friedens. Mahbubani kann dabei auf einen grossen individuellen und kulturellen Erfahrungsschatz zurückgreifen, kennt er doch sowohl die westliche als auch die asiatische Welt. 

Sein neustes, 2020 erschienenes Buch «Has China won? The Chinese Challenge to American Primacy» steht ganz in der Tradition der Völkerverständigung.

Plädoyer für Kooperation 
in Zeiten wachsender Spannungen

Das Buch behandelt die Beziehung zwischen den beiden Grossmächten USA und China. Dies ist für die Leser aller Länder von grosser Wichtigkeit, da es für unser aller Zukunft von immenser Bedeutung ist, ob diese beiden Mächte in den weltweit wichtigen Fragen kooperieren oder aber ob Dominanzstreben und damit die Gefahr eines Krieges Oberhand gewinnen werden.

Letzteres ist eine reale Gefahr. Vor dem Hintergrund gravierender innen- wie aussenpolitischer Probleme stimmt die einst einzige Weltmacht USA einen sehr unversöhnlichen und konfrontativen Ton gegenüber China an, dies, wie Mahbubanibemerkt, über die sonst so unversöhnlichen Parteigrenzen hinweg. Und auch in anderen Ländern des Westens mehren sich die Stimmen, die meinen, es mit einem möglichst konfrontativen Ton gegenüber China den USA gleichtun zu müssen.

Der Titel des Buches kann in die Irre leiten. Es geht Mahbubani nicht darum, den Sieg der einen oder anderen Macht im globalen Wettkampf zu prophezeien. «Die Frage ist nicht, ob China oder ob Amerika gewinnt», so der letzte Satz des Buches, sondern «ob die Menschheit gewinnt».Mahbubani mahnt, dass China und die USA zusammen nur knapp 25 % der Weltbevölkerung ausmachen. Die restlichen sechs Milliarden Menschen dieser Erde erwarten von beiden Mächten, dass sie sich auf «den Schutz unseres Planeten und die Verbesserung der Lebensbedingungen aller, die eigene Bevölkerung eingeschlossen» (S. 282), konzentrieren. Damit dies gelingen kann, muss der jeweils andere in seinem Anliegen realistisch und ohne ideologische Scheuklappen erfasst werden, was auch die Erkenntnis der eigenen Fehlentwicklungen mit einschliesst, die in den falschen Weg der Konfrontation geführt haben. 

Westliche Ignoranz gegenüber 
einer Jahrtausende alten Kultur

Für den Leser aus einem westlichen Staat sind die Beispiele, wie Mahbubani China beschreibt, sehr erhellend. So befindet er gleich zu Beginn seines Buches, es sei ein fundamentaler Irrtum, wenn die chinesische kommunistische Partei KPC vor allem als kommunistisch und nicht als chinesisch wahrgenommen werde. In Ostasien erkenne man zu Recht, dass das Fundament der KPC heute vor allem die chinesische Zivilisation und Kultur sei. Das K stehe eigentlich für chinesische Kultur.Das chinesische Regierungssystem widerspiegle tausende Jahre chinesischer politischer Tradition und Weisheit. Mahbubani erkennt zudem die grosse historische Leistung Chinas der letzten dreissig Jahre an: 1,3 Milliarden Menschen seien aus der Armut befreit worden. Das chinesische Volk geniesse heute mehr persönliche Freiheit als unter jeder anderen früheren chinesischen Regierung.Mahbubani charakterisiert die gebildeten Chinesen als sehr offen und überlegt. «Die meisten chinesischen Führungskräfte […] sind von den Klassikern des chinesischen Denkens durchdrungen. Diese Klassiker wiederum öffnen ihren Geist für die alte chinesische Philosophie – es ist eine bedachtsame Kultur. Daraus verstehen sie, dass der grösste Fehler für jeden chinesischen Führer darin bestünde, starr, ideologisch und doktrinär zu sein. Auch wenn viele chinesische Führer ihr Bekenntnis zu Marxund sogar Maobekräftigen, wissen sie daher auch, dass diese Beispiele flexibel angepasst und umgesetzt werden müssen.»Die chinesische Führung, so Mahbubani, wolle ihre eigene Kultur regenerieren, ohne aber einen missionarischen Impuls in bezug auf die restliche Welt zu haben. Im Gegenteil: «Ein grosses Paradoxon unserer heutigen Welt besteht darin, dass, obwohl China traditionell eine geschlossene Gesellschaft ist, während Amerika vorgibt, eine offene Gesellschaft zu sein, es den chinesischen Führern leichter fällt als den amerikanischen, mit einer vielfältigen Welt umzugehen, da sie nicht erwarten, dass andere Gesellschaften so werden wie sie. Im Gegensatz zu den Amerikanern verstehen sie, dass andere Gesellschaften anders denken und sich anders verhalten.»China sei unter den Grossmächten die wohl «am wenigsten interventionistische Macht».6

Gedanken zur Demokratiedebatte

Ein Kapitel des Buchs widmet sich der Frage, ob China «demokratisch» werden solle, eine Forderung, die immer wieder vom Westen an China herangetragen wird. Doch dazu bedürfte es zunächst einer Diskussion darüber, was Demokratie wirklich ist. Mahbubani bettet diese Frage in einen grösseren, sozialgeschichtlichen Kontext Chinas ein: «Das chinesische Volk fürchtet Chaos. Es ist diejenige Kraft, die China in der Vergangenheit in die Knie gezwungen und dem chinesischen Volk Elend gebracht hat.»China hat vor allem in seiner jüngeren Geschichte viele Perioden von Chaos und Instabilität erlebt. Deshalb haben stabile politische Verhältnisse erste Priorität. Die chinesische Kultur gibt der sozialen Harmonie im Zweifelsfall den Vorrang. Allerdings gibt es auch das Beispiel einer demokratischen Entwicklung in Taiwan. Für Mahbubani ist der Fortbestand dieses sozialen und politischen Laboratoriums von nationalem Interesse für China, da es hier beobachten kann, wie eine chinesische Gesellschaft auch unter einem anderen politischen System funktionieren kannund dabei von Taiwan lernen könnte, wie ein Teil der chinesischen Gesellschaft mit Demokratie umgeht.Hierzu dürfen aber die Beziehungen nicht von aussen gestört werden. 

Trotz der zunehmenden Gegensätze zwischen den beiden Grossmächten sieht Mahbubani Gründe für vorsichtigen Optimismus. Es liesse sich nämlich kein grundlegender Interessensgegensatz zwischen den beiden Grossmächten ausmachen, wenn man nur mittels der Kräfte der Vernunft ein Verständnis für die wirklichen nationalen Interessen beider Länder entwickeln würde.10 Die Eigeninteressen stünden nicht in einem Gegensatz zueinander, im Gegenteil, Mahbubani spricht sogar von fünf «Nicht-Gegensätzen».11 Wenn sowohl Amerika als auch China ihr Haupt-augenmerk darauf legen würden, die Lebensbedingungen ihrer eigenen Bürger zu verbessern, dann würden sie erkennen, dass es keine fundamentalen Interessensgegensätze gibt.12 Mahbubani sieht die Möglichkeit, dass «der Vormarsch der Vernunft, der im Westen durch die Aufklärung ausgelöst wurde, sich weltweit ausbreitet und in jeder Region zum Aufblühen pragmatischer problemorientierter Kulturen führt und es ermöglicht, die Entstehung einer stabilen und tragfähigen, auf Regeln beruhenden Ordnung ins Auge zu fassen.»13 Die menschheitsumspannenden Ideale der Aufklärung können so in jeder Kultur in eigener Färbung zur Blüte kommen. In diesem Sinne versteht Mahbubani auch ein Zitat des chinesischen Präsidenten Xi Jinping: «Zivilisationen müssen nicht miteinander kollidieren; was wir brauchen, sind Augen, um die Schönheit in allen Zivilisationen zu sehen. Wir sollten die Dynamik unserer eigenen Zivilisation aufrechterhalten und die Voraussetzungen dafür schaffen, dass andere Zivilisationen gedeihen können. Gemeinsam können wir den Garten der Weltzivilisationen bunt und lebendig machen.»14

Die Fähigkeit, eine andere Kultur zu erfassen und von ihr zu lernen, ist für Mahbubani einer der Gründe für den Erfolg der asiatischen Länder: «Ein Grund dafür, dass der Westen die Welt nicht mehr beherrschen kann, ist, dass die anderen so viel vom Westen gelernt haben. Sie haben viele westliche Best Practices in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Technologie aufgenommen.»15 Warum sollte der Westen heute nicht auch in der Lage sein, in einem Prozess des gegenseitigen Verstehens und Voneinander-Lernens gemeinsam die drängenden Probleme, zum Beispiel die Corona-Krise, zu überwinden?

Mahbubanis Ausführungen zur Rolle Europas, zur Frage Hongkongs und Taiwans sind sehr überlegenswert, sie genau darzulegen würde aber den Rahmen dieser Besprechung sprengen. Auch hier plädiert er für mehr Verständigung und weniger konfrontatives Schwarz-Weiss-Denken.

Der einzige «Wermutstropfen» besteht darin, dass das Buch bisher nur in Englisch erschienen ist. Die Lektüre lohnt sich aber allzumal, und es sind diesem wichtigen politischen Buch Übersetzungen in möglichst viele Sprachen zu wünschen, damit der Gedanke der Völkerverständigung und des Friedens weite Verbreitung findet.  

 


Originalzitate:

1 «The final question will therefore not be whether America or China has won. It will be whether humanity has won.» (S. 282)
2  Im englischen Original spricht Mahbubani von der CCP als «Chinese Communist Party» oder als «Chinese Civilization Party» (S. 7).
3 «Indeed, the Chinese people have enjoyed more personal freedom unter the CCP than any other previous Chinese government.» (S. 172)
4 «Most Chinese leaders […] are steeped in the classics of Chinese thought. These classics in turn open their minds to a lot of ancient Chinese philosophy – theirs is a thoughtful culture. From this they understand that the greatest mistake for any Chinese leader would be to be rigid, ideological, and doctrinaire. Hence, even though many Chinese leaders reaffirm their commitment to Marxand evenMao, they also know that these examples must be adapted and implemented in a flexible way.» (S. 171)
5 «One great paradox about our world today is that even though China has traditionally been a closed society, while America purports to be an open society, the Chinese leaders find it easier than American leaders to deal with a diverse world, as they have no expectation that other societies should become like them. They, unlike Americans, understand that other societies think and behave differently.» (S. 254)
6 «[…] China is probably the least interventionist power of all the great powers.» (S. 148)
7 «The Chinese people fear chaos. It is the one force that in the past brought China to its knees and brought misery to the Chinese people.» (S. 15)
8 «[…] it is actually in China’s national interest to allow the continuation of a social and political laboratory to indicate how a Chinese society functions under a different political system.» (S. 99)
9 «China could learn long-term lessons from Taiwan on how Chinese people cope with democracy.» (S. 99
10 «Yet, even though the case for pessimism ist strong, one could also make an equally strong case for optimism. If we could marshal the forces of reason to develop an understanding of the real national interests of both America and China, we would come to the conclusion that there should be no fundamental contradiction between the two powers.» (S. 260)

11«[…] there are actually five noncontradictions be tween America and China.» (S. 260)
12 «If America and China were to focus on their core interests of improving the livelihood and well-being of their citizens, they would come to realize that there are no fundamental contraditions in their long-therm national interests.» (S. 281)
13 «[…] the march of reason, triggered in the West by the Enlightenment, is spreading globally, leading to the emergence of pragmatic problem-solving cultures in every region and making it possible to envisage the emergence of a stable and sustainable rules-based order.» (S. 274)

 

ji. In Singapur als Sohn indischer Eltern geboren und aufgewachsen, fühlt sich Kishore Mahbubani allen asiatischen Kulturen verbunden. Sein Name Mahbubani ist persischen Ursprungs, er kann von sich sagen, «kulturelle Verbindungen mit verschiedenen Gesellschaften in Asien, wo die Hälfte der Menschheit lebt, von Teheran bis Tokio»* zu haben. Seine berufliche Karriere begann 1971 als Diplomat beim Aussenministerium in Singapur. Dort war er bis 2004 tätig, und in dieser Zeit wurde er nach Kambodscha, Malaysia, Washington D. C. und New York entsandt. Er repräsentierte Singapur im Januar 2001 und im Mai 2002 als Botschafter in den Vereinten Nationen und als Präsident des Uno-Sicherheitsrats. Als Gründungsmitglied und erster Dekan war Mahbubani von 2004 bis Ende 2017 an der Lee Kuan Yew School of Public Policy der National University of Singapore (NUS) tätig. 

* «I have cultural connections with diverse societies in Asia, where half of humanity lives, all the way from Tehran to Tokyo.» (S. 12)

 

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