Bündner Alphirtin: «Man macht alles, und doch gibt es immer wieder Risse. Das geht an die Psyche.»

Regelung des Wolfsbestandes durch die betroffenen Bergkantone – Ja zum Jagdgesetz

Interview mit Christian und Evelina Venzin, Bauern in Curaglia, Val Medel, Kanton Graubünden

mf. Christian Venzin betreibt zusammen mit seiner Frau einen Bauernhof. Sie sind an einer Alpkorporation beteiligt, deren Gebiet sich auf 1600 Höhenmeter bis 2500 Höhenmeter über Meer auf der rechten Talseite des Val Medel Richtung Lukmanier-Passhöhe erstreckt. Es handelt sich um 795 Hektar steiles, zum Teil sehr steiles steindurchsetztes Gelände. In der Nähe befindet sich auch das seit kurzem entdeckte Wolfsrudel, «Stagiasrudel» genannt.

Zeit-Fragen: Der Wolf ist ja seit 1995 wieder heimisch in der Schweiz. In den letzten Jahren hat er sich immer mehr verbreitet. Seit wann ist die Präsenz des Wolfes ein Problem für Sie?
Evelina und Christian Venzin: Einen ersten Riss auf der Alp gab es am 9. August 2019, kurz darauf einen zweiten Riss. Man beobachtete aber in der Folge die ganze Zeit Wölfe in der Umgebung. Am 10. Mai 2020 fing es dann an: Auf einer Weide unten im Tal am Rein da Medel wurden zwei Gitzi und zwei Lämmer gerissen sowie ein Gitzi vermisst. Von unserer Herde wurden zwei Lämmer gerissen. Eines war tot, das andere lebte noch, aber es war so stark verwundet, dass man es erlösen musste. Durch dieses Erlebnis stand ich unter Schock. Es war genau der Tag, an dem wir mit den Schafen auf die Alp gingen und wussten, dass dieses Problem dort oben noch viel grösser sein würde. Da ist ein sicheres Einzäunen als Schutz vor dem Wolf nicht überall möglich.

Wie war die Reaktion der Bauern im Tal auf diese Ereignisse, mit denen sie plötzlich konfrontiert waren?
Wir sind ja nicht schuld, dass der Wolf da ist. Aber wir haben vielleicht das Ganze auch einfach etwas verdrängt. Man wusste ja eigentlich von der Präsenz des Wolfes, hoffte aber, man würde von dieser Gefahr verschont. Es ist vielleicht eine Art, mit einem Problem umzugehen, von dem man weiss, dass es nicht wirklich zu lösen ist. Bei der jetzigen Dichte der Wolfspräsenz erst recht nicht mehr. Diese Bedrohung unserer Tiere, unserer Existenz geht an die Psyche, und wir schlafen unruhig. Was zusätzlich noch auf uns zukommt, ist ein enormer Mehraufwand, um unsere Herde genügend vor den Wölfen zu schützen.

Wie verändert die Tatsache der Wolfspräsenz Ihre Arbeit, die Tierhaltung, die Alp- und Weidehaltung ganz allgemein?
Wir haben um die 1300 Schafe auf der Alp, die Alp war und ist immer behirtet. Es war üblich, dass sich die Tiere auf der Alp frei bewegen konnten. Nur gefährliche Stellen oder Übergänge, wo die Tiere nicht hinwandern sollen, werden mit Zäunen gesichert. Aber seit der Wolf da ist, kann man sie nicht mehr uneingezäunt weiden lassen. Sobald die eine Weide abgefressen ist, muss man sie «umsiedeln», das heisst, ein neues Gebiet einzäunen und die Schafe dort hineintreiben. Das gelingt nicht immer mit der ganzen Herde. Gerade heute habe ich eine Sprachnachricht von der Hirtin bekommen, dass sie hoffe, dass alle Tiere mitkommen. Sie war sehr besorgt. Das ständige Umzäunen können die Hirten nicht mehr alleine bewältigen, das bedeutet, dass wir Landwirte auch vermehrt mithelfen müssen. Das dafür benötigte Zaunmaterial wird auf die Alp geflogen. Für die Alp-korporation Ganaretsch betragen die Mehrkosten Stand heute 30 000 Franken nur wegen der Wölfe, und der Sommer ist noch nicht zu Ende.
    Wir haben auch zwei Herdenschutzhunde auf der Alp, jedoch für etwa 1300 Schafe benötigen wir eigentlich noch mehr Hunde. Ich habe jetzt bei Agridea für unseren Betrieb auch Herdenschutzhunde beantragt. Die Wartezeit für diese Hunde ist sehr lange.
    Die Wanderer machen uns Sorgen, da wir einige Weiden haben, wo Wanderwege mitten durch die Wiese führen. Hier beginnen die Probleme mit den Herdenschutzhunden bereits. Dann haben wir noch Weiden, die an Strassen liegen, die stark befahren werden. Durch das hohe Verkehrsaufkommen entsteht für die Herdenschutzhunde ein extremer Druck.
    Die Alp weiss nicht, wo das Geld hergeholt werden soll. Am Schluss müssen wir es selber berappen, denn bis heute haben wir noch keine Zusicherung für Unterstützung erhalten. Die Alp hat jetzt Kontakt aufgenommen mit verschiedenen Organisationen und Unterstützung beantragt. Vom Bund bekommen wir maximal 2500 Franken, wenn sie unsere Massnahmen akzeptieren. Der Bauernverband Surselva hat gestern Abend in Obersaxen einen Kredit bewilligt, um einen Anwalt zu engagieren, der mit dem Bund klärt, wer für diese Mehrkosten aufkommt.
    Meine Frau und ich überlegen uns, die Schafhaltung aufzugeben und zehn Mutterkühe zusätzlich – wir haben schon zwanzig – anzuschaffen. Die Böden sind zwar geeignet für Schafe, aber die Belastung und der Arbeitsaufwand werden einfach zu gross.
    Es war kein guter Sommer für uns und für die Hirten ebenfalls nicht. Dass sie oben bleiben, ist bewundernswert. Es ist sehr schwierig für sie, all diese schrecklichen Bilder zu verarbeiten. Momentan zelten sie sogar bei den Tieren auf der Weide. Jede Nacht wird eine gewisse Unruhe in der Herde wahrgenommen. Der Direktor des Plantahofs hat sich in einem Interview wie folgt geäussert: «Die Herausforderung ist ohne das Instrument einer wirksamen und gezielten und raschen Regulation nicht zu meistern.» Ein Bauer hat geschrieben: «Wir werden nach Strich und Faden belogen und betrogen in den Medien.» Im «Blick» wurde ein Artikel publiziert mit dem Beispiel einer Alp, wo es mit Herdenschutzhunden funktionieren solle. Die Hirtin ist von Pro Natura. Für 600 Schafe sind vier Hirten im Einsatz. Pro Natura hat die Hirtensaläre mit Spendengeldern finanziert. Bei dieser Alp ist auch David Gerke, Präsident der Gruppe Wolf Schweiz, beteiligt. Glauben Sie, auf einer normalen Alp sei dies möglich? Wir haben doppelt so viele Schafe, wir müssten acht Hirten anstellen. Das kann doch niemand finanzieren. Wir hatten einen guten Hirten aus Deutschland, welcher seit sieben Jahren auf unserer Alp angestellt war. Er gab uns auch für 2020 eine Zusage.
    Im Herbst 2019 kam der Zuständige vom Plantahof für Herdenschutz, Herr Boner, zusammen mit dem Hirten und den Landwirten zusammen, um ein Konzept zu erarbeiten. Kurz vor Alpstart sagte der Hirt ab. Er könne nicht mehr schlafen, denn er wusste wahrscheinlich, was ihm blühte. Nun haben wir eine deutsche Hirtin auf der Alp, welche schon seit Jahren in unserer Umgebung auf Schaf- sowie Kuhalpen hirtete. Der zweite Hirt ist aus Brig, der arbeitete in Norwegen in einer Firma, welche Huskytouren für Touristen anbietet. Wegen Corona verlor er die Arbeitsstelle und kam zurück in die Schweiz.
    Die Hirtin hat sehr grosse Mühe mit den Bildern. Sie sagte immer: «Man macht alles, und doch gibt es immer wieder Risse. Das geht an die Psyche.» Seit einigen Wochen sind die Wölfe permanent präsent. Vor einer Woche sind zwei Schafe ausserhalb des Zauns gewesen, die sind am anderen Morgen entbeint aufgefunden worden. Die Wölfe haben Hunger. Die gehen nicht mehr so schnell weg von hier, bei diesem Angebot an Schafen. Sonst fressen sie ja nur wenig von einem Tier, aber jetzt brauchen sie halt Nahrung für die Welpen.
    Der Plan von Herrn Boner war, dass man die Schafe nur in einen Nachtpferch treibt. Das hat im Frühjahr funktioniert in der Umgebung von Sogn Gions in der Talsohle bis zu den Felsen heran. Sobald sie weiter oben in Munplaun, Muschaneras weideten, war es nicht mehr möglich, denn die Hirten brachten die Schafe nicht in diese Nachtpferche hinein. Die Gründe dafür sind das zum Teil steile, unübersichtliche und weitläufige Gelände.

Bei den Meldungen der Risse des Amts für Jagd und Fischerei des Kantons Graubünden fällt auf, dass es 2020 plötzlich viel mehr Meldungen über Risse gibt als noch 2019. Hat das mit einem neuen Erfassungssystem der Nutztierrisse zu tun?

Nein, es ist kein neues Erfassungssystem. Es ist eine Tatsache, dass die Nutztierrisse im Jahr 2020 sprunghaft angestiegen sind, wo noch im Jahr 2019 ganz wenig passierte. Das heisst, dass die Wolfspräsenz sehr hoch ist.

Auch fällt bei den Meldungen des Amts für Jagd und Fischerei des Kantons Graubünden auf, dass sich gerissene Schafe immer wieder ausserhalb des Zauns aufgehalten haben, was hat es damit auf sich?
Wenn es ein so grosses Gebiet ist wie unsere Alp und die Zäune nicht überall stabil aufgestellt werden können, weil dies auf Grund der Charakteristik des Geländes nicht möglich ist, entweichen sie, deswegen die Meldungen, dass sich die gerissenen Tiere ausserhalb des Zauns aufgehalten hätten. Je länger der Zaun ist, desto schwieriger ist es, die Stromspannung aufrechtzuerhalten, jeder Grashalm, der drankommt, zieht Strom ab, es ist nicht verlässlich handhabbar. Dass Tiere sich ausserhalb der Gehege aufhalten, passiert immer wieder auch auf den Weiden unten im Tal. Manchmal springen sie auch drüber.
    Wenn der Zaun nach aussen geklappt ist, dann sind die Schafe ausgebrochen. Wenn der Zaun ins Gehege hinein geklappt ist, dann ist jemand von aussen eingedrungen. Es passiert auch, dass Wölfe Wild in den Zaun hineintreiben, dieser fällt dann nach innen um, und der Wolf hat kein Hindernis mehr, das ihn von den Schafen trennt. Im übrigen ist es nur eine Frage der Zeit, dass die Wölfe über den Zaun springen, sagen die Hirten.

Welche Auswirkungen hat die angepasste Tierhaltung auf die Gesundheit der Tiere?
Durch das engere und vermehrte Einzäunen sind sie näher beieinander, und das kann zu mehr Parasitenbefall, Lungen- und Magenwürmern, auch Bandwürmern führen, weil das Gras vermehrt verschmutzt wird. Klauen-entzündungen usw. gibt es auch vermehrt.

Funktioniert die finanzielle Entschädigung der Risse durch den Bund?
Wir werden vom Amt für Jagd und Fischerei des Kantons entschädigt. Dies funktioniert zügig. Wir hatten zwei Risse im Frühjahr, diese sind ordentlich bezahlt worden, es waren zwei Lämmer. Aber das kann es nicht sein! Denn wenn der Wolf Schafe reisst und man sie nicht findet, oder diejenigen, die im Herbst einfach nicht von der Alp zurückkommen, das wird alles nicht entschädigt. Ein uns bekannter Bauer, der etwa 80 Geissen im Rahmen eines Projekts in Surses Radons alpte, um den Waldbewuchs einzudämmen, dem wurden 13 hochträchtige Geissen gerissen, nach Tagen wurden sie gefunden, und einige lebten noch. Er sagte, dass er das Milchgeld jetzt natürlich nicht habe, das er noch gehabt hätte über den Winter von diesen Geissen, und das ersetzt ihm niemand. Die weggelaufenen Tiere, die vermissten, ersetzt auch niemand.
    Letztes Jahr hatten sie auf einer Alp im Kanton Graubünden mit 400 Schafen grosse Verluste, am Schluss fehlten etwa 60 Schafe. Aber entschädigt werden nur die durch den Wildhüter bestätigten Fälle. Das ist ja schon okay. Auch in normalen Jahren gibt es immer Verluste, auch im Stall. Aber wenn man die Behauptungen der Gegner hört, wie viele Tiere abstürzen, weil niemand auf sie schaue, das entspricht nicht der Realität. Wir haben schon viele Jahre zwei Hirten, unsere Alp war nie unbehirtet.

Wie sehen Sie die Zukunft bei Annahme des Jagdgesetzes, wie bei einer Ablehnung?
Diese Frage sollten Sie Herrn Arquint, dem Leiter des Amts für Jagd und Fischerei des Kantons Graubünden, stellen. Es gibt viele, die sagen, es ändere sich wenig. Es ist schwierig zu sagen, was sich ändert nach der Abstimmung: Was, wenn wir gewinnen, was, wenn wir nicht gewinnen? Eines ist sicher: Diese Wölfe bei uns sind da, die haben Blut gerochen, die werden bleiben. Es ist ein Rudel, das bleibt, ein Einzelwolf wandert weiter, beispielsweise derjenige, der 2019 auf unserer Alp riss, wurde im Kanton Thurgau im Januar 2020 abgeschossen. Er war krank, hatte Räude. Aber er war ein Einzelgänger.

Wir sehen dann, wie die Wölfe im Winter Wild reissen werden, die brauchen Fleisch. Was passiert im Herbst, wenn es oben keine Tiere mehr hat, kommen sie dann runter zu unseren Schafen ins Tal?
Mit den Wölfen, die jetzt da sind, blicke ich in eine düstere und ungewisse Zukunft. Plötzlich springen sie über die Zäune, und dann ist es sowieso vorbei.
    Bei uns funktionierte es zuvor super. Wir haben gute Weiden, wir hätten genügend Platz, und plötzlich kommen die Wölfe und stellen alles auf den Kopf. Ich persönlich sage: Einen zweiten Sommer so mache ich nicht mit. Wir haben hier unsere Arbeit, dann hast du immer im Kopf: «Wann müssen wir wieder hoch zum Auf- und Abzäunen?» Wir haben jetzt sehr gute Hirten, vielleicht bleiben sie bis am Schluss. Gibt es anschliessend jemand, der das noch machen möchte? Wir haben sie auch sehr gut unterstützt. Ohne die Hilfe von uns Landwirten wäre das nie möglich gewesen, obwohl die zwei hart im Nehmen sind. Auf einer Alp in Vals konnte eine Hirtin mit diesem Druck nicht mehr umgehen und hat die Alp vorzeitig verlassen.
    Ein weiteres Problem ist, dass, wenn die Alp in Zukunft nicht mehr bewirtschaftet werden sollte, dann gibt es vermehrt Lawinen, wenn das Gras hoch ist und das «Terrassieren» auf Grund des Beschreitens der Schafe wegfällt; davon spricht niemand, daran denkt niemand.
    Auf Grund des diesjährigen Sommers, wo mehr Schweizer in die Berge kamen, hatten wir auch Gelegenheit, mit einigen zu reden, und haben festgestellt, dass die Leute keine Ahnung haben, was hier passiert. Sie lesen schnell etwas durch, aber wissen deswegen nicht mehr. Es ist auch gar nicht so einfach dies jemandem zu erklären, was Sache ist. Man kann nicht mit zwei Worten sagen: «Der Wolf macht alles kaputt.» Und die Gegner sind sehr aktiv. Pro Natura, WWF und jetzt noch das Bergwaldprojekt. Das Bergwaldprojekt wird von ein paar Gemeinden nicht mehr unterstützt wegen dessen Position zum Thema Wolf.
    Von unseren Gemeindebehörden hören wir keine Stellungnahme. Auf der Liste der Bündner Tourismusgemeinden, die sich jetzt hinter das Gesetz stellen, ist unsere Gemeinde auch nicht aufgelistet, was wir äusserst schade finden.

Vielen Dank für das Gespräch.     •

(Interview Monika Fry)

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