Interview mit Viktor Rüegg*, «Chance-21»
mw. Im gemeinsamen Einsatz verschiedener Bürgergruppen für eine direktdemokratische und neutrale Schweiz habe ich mit Freunden zusammen vor etlichen Jahren einige aktive Mitbürger von «Chance-21» kennengelernt, die im Kanton Luzern eine Zeitlang auch kommunale Parlamentssitze innehatten. Vor der eidgenössischen Volksabstimmung über die Begrenzungsinitiative bin ich nun zufällig wieder auf «Chance-21» gestossen: Als eine der wenigen Gruppierungen ausserhalb der SVP und der AUNS (Aktion für eine unabhängige, neutrale Schweiz) empfiehlt sie die Unterstützung der Initiative.
Im folgenden werden die Argumente von «Chance-21» für die Initiative vorgestellt sowie ein Gespräch mit Viktor Rüegg wiedergegeben über die Parteienlandschaft der Schweiz und die Gründe, warum «Chance-21» den Weg einer unabhängigen politischen Bürgergruppe gewählt hat.
Zeit-Fragen: Herr Rüegg, es freut mich sehr, mit Ihnen sprechen zu können. Könnten Sie zuerst erklären, welches die Ziele von «Chance-21» sind?
Viktor Rüegg: Wir verstehen uns nicht als Partei, sondern sind eine Bewegung von Leuten, die zwischen Grünen und SVP positioniert sind. Wir haben auf der einen Seite ökologische und auch soziale Anliegen, auf der anderen Seite aber auch das Anliegen, dass die Eigenständigkeit der Schweiz und die Kleinräumigkeit unserer Entscheidungen gewahrt werden. Es ist einfach nicht beides vereinbar, weder bei der SVP noch bei den Grünen oder bei anderen auf der linken Seite. Deshalb gibt es uns seit 1995, damals haben wir als «Bewegung neutrale Schweiz» an Nationalratswahlen teilgenommen und dann zweimal als «Chance-21». Ab 2003 haben wir je einen Parlamentssitz in der Stadt Luzern und in der Gemeinde Kriens gehabt. Seit 2010 gibt es die politische Bewegung nicht mehr nach aussen, nur noch intern. Viermal jährlich führen wir Diskussionen über Abstimmungsparolen, dazu trifft sich eine Gruppe interessierter Leute zum Austausch.
Heute wären die Voraussetzungen für die «Chance-21» vielleicht besser, wenn wir noch einmal neu starten würden, wahrscheinlich hätten wir mehr Zuspruch. Damals konnten wir drei bis vier Prozent der Stimmen holen, hier in der Stadt Luzern, das hat für einen Sitz gereicht. Heute, mit der Klimaproblematik und mit Corona, wäre vielleicht mehr Bereitschaft dafür da, dass wir mehr auf kleinräumiger Ebene entscheiden und das Grosse, Internationale eher zurückfahren müssen. Aber wenn es etwas Neues geben soll, muss es von unten kommen, von den Zwanzig-, Dreissigjährigen.
Kerndifferenz: Internationale Ausrichtung oder
kleinräumige, direktdemokratische Entscheidungen?
Was Sie über die Parteien gesagt haben, beschäftigt mich und uns bei Zeit-Fragen auch. Sie haben gesagt, das geht nicht zusammen, gewisse Argumente der SVP und der Grünen.
Für uns bei «Chance-21» schon, aber bei den politischen Parteien nicht.
Wenn man aber die Argumente der «Chance-21» für die Begrenzungsinitiative sieht (siehe Kasten), dann sind eine ganze Reihe darunter, die jeder Grüne unterschreiben könnte. Warum ist es nicht möglich, dass man für eine «Begrenzungsinitiative» ein breiteres politisches Komitee oder eine breitere Kampagne zustande bringt?
Das ist wahrscheinlich deshalb schwierig, weil die Abgrenzung gegenüber der SVP dermassen krampfhaft vertreten wird. In den letzten zwanzig, dreissig Jahren hat es eine Verbindung gegeben zwischen FDP, Mitte und Links, die sich einig sind, dass international gewirkt und entschieden werden soll. Das ist bei uns die grosse politische Knacknuss. Bei «Chance-21» sind wir der Meinung, es gibt schon Fragen, die international geregelt werden müssen, zum Beispiel in bezug auf den Luftraum. Aber die meisten Entscheidungen sind nach unserem Empfinden auf lokaler oder nationaler Ebene besser verankert und auch direktdemokratisch möglich, als wenn man das irgendwie international regelt, wo die direkte Demokratie ausgeschlossen ist.
Das ist die Kerndifferenz. Die Leute der FDP, CVP sind aus wirtschaftlichen Gründen, wegen der Grosskonzerne, für die internationale Ebene, und die Linken sind aus sogenannt «solidarischen» Gründen, die Internationale der Linken, für diese Ebene. Sie haben sich gemeinsam gefunden gegen die «Rechtsnationalen», die stärker nationale und kleinräumige Standpunkte vertreten. Dies ist der Hauptkampf der letzten dreissig Jahre.
Und die Frage der EU-Anbindung.
Die EU ist natürlich ein schönes Beispiel für die internationale, undemokratische Ebene. Da sind alle dafür, mit Ausnahme der SVP. Es geht weiter bis zur Uno-Ebene, wo einige Bereiche betroffen sind. Und für uns bei «Chance-21» ist die Kernfrage: Wollen wir direktdemokratische, kleinräumige, selbstbestimmte Entscheidungen, oder geben wir das auf und sagen, irgendwelche Delegierte sollen für die Menschheit entscheiden, ob in Brüssel oder in der Uno oder wo auch immer. Das ist für uns die Kernfrage.
Sie erklären einleuchtend, warum viele gegen die SVP sind, aber gilt das nicht auch umgekehrt, dass die SVP sich auch gegen die anderen abgrenzt?
Ja, die SVP hat natürlich auch ihre Berührungsängste, im sozialen und ökologischen Bereich. So hat sie lange bestritten, dass der Klimawandel stattfindet. Heute sagt sie, er finde zwar statt, aber das sei normal, das habe es immer gegeben. Aber das ist zum Beispiel ein Thema, das mit unserer Lebensweise zusammenhängt, wie verheerend es ist, sei einmal dahingestellt. Von einer Partei wie der SVP kann erwartet werden, dass sie sich dazu äussert, wie man das Problem angehen will. Das ist ein Beispiel, wo die SVP ernsthafte Anliegen der anderen Seite auch nicht aufnimmt. Deshalb sind wir auch nicht bei der SVP dabei, ich bin in keiner Partei.
«Uns interessiert es nicht, welche Partei hinter einer Parole steht»
Die Argumente von «Chance-21» sind zum Teil die gleichen wie die der SVP, und einige wären, wie schon gesagt, eigentlich auch Anliegen der Grünen.
Ja, wir haben keine Berührungsängste, wenn wir etwas Vernünftiges finden. Uns interessiert es nicht, welche Partei hinter einer Parole steht. Wir sind eine eigenständige Bewegung, die selbst denkt und diskutiert und entscheidet. Ich schaue immer die Gründe und Argumente beider Seiten an, und von der Analyse kommt man zum Ergebnis. Wir empfehlen ein Ja zur Initiative für eine massvolle Zuwanderung, aber dafür aktiv zu kämpfen, ist schwierig.
Ich glaube, dass die gegenseitige Abgrenzung der Parteien in den nächsten Jahren so bleiben wird. Es muss etwas Neues kommen, vielleicht irgendwann, wir lassen uns überraschen.
Als damals in Zürich die GLP [Grünliberale Partei, die sich von der Zürcher Grünen Partei abgespalten hat, mw] entstanden ist, etwa zur selben Zeit wie «Chance-21» 1995, 1996, haben wir mit ihnen Kontakt aufgenommen, ob man allenfalls in Luzern eine Niederlassung machen könnte. Aber wir haben schnell gemerkt: In der ganzen Frage der globalen Konzerne, des internationalen Wirtschaftens, da sind sie auf derselben Ebene wie die FDP. Sie wollen den internationalen Konzernen möglichst gute Bedingungen schaffen, auch im Inland. Das geht zulasten der KMU, und wir sind eher auf der Seite der kleinen Strukturen. Bei den KMU ist die Wirtschaft direkter bestimmt, demokratischer und kontrollierbarer als bei den Grossunternehmungen.
Damals dachte man, die Grünliberalen seien eine Chance, um die verschiedenen Standpunkte zu vereinen.
Das haben wir auch gehofft, aber wir wussten schon nach dem ersten Briefwechsel: Das ist aussichtslos. Also sind wir beim Weg einer unabhängigen Bürgerbewegung geblieben.
Vielen Dank, Herr Rüegg, für das aufschlussreiche und anregende Gespräch. •
(Interview Marianne Wüthrich)
* lic. iur. Viktor Rüegg ist Rechtsanwalt in Kriens, Kanton Luzern. Von 2004 bis 2009 sass er für die Chance 21 im Parlament der Stadt Luzern. Aktuell präsidiert er ein Komitee «Weniger ist mehr», das den Bau einer Gross-Sporthalle mit 4000 Besucherplätzen in Kriens als völlig übertrieben bekämpft (siehe SRF News vom 22.7.2020)
Deshalb sagt Chance-21 zur Begrenzungs-Initiative ja
Wir empfehlen die Unterstützung der «Initiative für eine massvolle Zuwanderung», weil
Der Erfolg dieser Initiative ist viel wichtiger, als vordergründig angenommen wird!
Dies kann insbesondere auch aus dem finanziellen Engagement verschiedener Grosskonzerne (Beispiel Coca-Cola) abgeleitet werden. Dass sich internationale Konzerne und Think tanks in den Abstimmungskampf einmischen, sollte zu denken geben.
Oder glauben Sie allen Ernstes, dass diesen neolibaralen Multis und Organisationen das Wohl der Schweizerbevölkerung am Herzen liegt?
Ihre Stimme ist wichtig!
Quelle: www.chance-21.ch/2020/08/17/deshalb-sagt-chance-21-zur-begrenzungs-initiative-ja/ vom 17.8.2020
mw. Die Begrenzungsinitiative will die negativen Auswirkungen einer zu hohen Zuwanderung mildern. Nun stellt sich die Frage, wie es denn mit den positiven Effekten der Personenfreizügigkeit steht. Dazu die bemerkenswerten Aussagen zweier renommierter Schweizer Ökonomen zur Frage: Hat die Personenfreizügigkeit die Löhne und das Wirtschaftswachstum beflügelt – auch pro Kopf?
Dazu Reiner Eichenberger, Professor für Wirtschafts- und Finanzpolitik an der Universität Freiburg: «Nein, natürlich nicht. Die Zuwanderung bedeutet grosses und schnelles Bevölkerungswachstum. Das bringt nur eine Aufblähung der Gesamtwirtschaft, aber mit der Zeit zunehmende Überfüllungseffekte: Land, Infrastruktur, Umweltgüter usw. werden knapper und teurer, was das reale Pro-Kopf-Einkommen – richtig berechnet – natürlich senkt. Die Normalbürger sind die Verlierer. Gewinner sind diejenigen, die kurzfristig von der Aufblähung der Wirtschaft, den Staatsbudgets und den Problemen profitieren: Regierungen, regulierungsfreudige Politiker, Spitzenverbände, Grossgrundbesitzer und manche Manager.»
Professor Christoph Schaltegger, Professor für Politische Ökonomie an der Universität Luzern, beantwortet die Frage so: «Der kausale Effekt der Personenfreizügigkeit auf Löhne, Wirtschaftswachstum und Produktivität ist kaum präzise zu ermitteln. […] Die Personenfreizügigkeit hat mutmasslich vor allem einen Mengeneffekt zur Folge gehabt: Mehr Menschen haben in der Schweiz mehr Güter und Dienstleistungen produziert und konsumiert.»
Quelle: Kälin, Karl und Altermatt, Sven. «Wie viel wert sind die bilateralen Verträge?», in: St. Galler Tagblatt vom 1.9.2020
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