Wird das Land jetzt freiheitlicher und friedlicher?

Deutschland nach dem 29. August in Berlin

von Karl-Jürgen Müller

Die – durchaus verständliche – Hoffnung, dass sich mit den Demonstrationen und Kundgebungen in Berlin am 29. August in der deutschen Politik etwas hin zum Besseren bewegt, ist sehr wahrscheinlich verfehlt. Eher kann man den Eindruck gewinnen, dass die öffentlichen Auftritte in Berlin nur die Kehrseite einer politischen Medaille sind, der es auf beiden Seiten an Sachlichkeit, Ernsthaftigkeit und Gemeinwohlorientierung mangelt.

In den Ankündigungen zu den für den 29. August 2020 geplanten Veranstaltungen waren grosse Worte gewählt worden. «Millionen Demokraten in Berlin erwartet. Am 29. August lädt die Demokratiebewegung erneut nach Berlin ein, um den umfassendsten Angriff der Menschheitsgeschichte auf die Zivilgesellschaft abzuwehren. Das Fest der Liebe, des Friedens, der Freiheit und der Gleichwertigkeit aller Menschen markiert den vorläufigen Höhepunkt des ‹Sommers der Demokratie› und den Beginn einer längst überfälligen Umwälzung», hiess es in einem der vielen Aufrufe. In einem anderen war zu lesen: «Samstag, 29. August 2020: An diesem historischen Tag wird Berlin das Fest der Freiheit feiern – die Organisatoren von Querdenken 711, die schon die Mega-Demo am 1. August gekonnt in Szene gesetzt haben, gehen von mehreren Millionen Teilnehmern aus! Das wird der wichtigste Tag in der deutschen Geschichte seit 1945! Dieses Ereignis kann die Regierung zum Rücktritt zwingen!»

Berlin, 29. August 2020

Hier ein kurzer Überblick über das, was tatsächlich geschah:

  • Ein Stuttgarter Verein – er nennt sich Querdenken 711 und möchte eine Sammlungsbewegung all derer sein, die in den staatlichen Massnahmen gegen die Corona-Pandemie die Abschaffung der Grundrechte und den Weg in eine Diktatur zu sehen glauben – hatte vier Wochen nach einem ersten Grossauftritt in Deutschlands Hauptstadt erneut mehrere Veranstaltungen in Berlin angemeldet. Im Vorfeld sprachen die Veranstalter davon, man erwarte mehrere Millionen Menschen aus nah und fern – «Berlin invites Europe – Fest für Freiheit und Frieden». Selbst die Präsidenten Trump und Putin hatten eine Einladung erhalten. Ein Protagonist im Nebenfeld hatte in einem Interview davon gesprochen, nur diese beiden könnten Deutschland vor einer Diktatur retten.
  • Die rot-rot-grüne Regierung des Bundeslandes Berlin, der Senat, hatte die geplanten Veranstaltungen wenige Tage vor dem 29. August verbieten wollen. Der Innensenator des Landes, Mitglied der SPD, formulierte: «Ich bin nicht bereit, ein zweites Mal hinzunehmen, dass Berlin als Bühne für Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten missbraucht wird.» Der Mehrheit der Demonstrations- und Kundgebungsteilnehmer wurde er so nicht gerecht.
  • Nicht nur die Veranstalter, sondern auch viele andere, zum Beispiel die in Deutschland weit verbreitete «Bild-Zeitung», der CDU-Politiker Carsten Linnemann und in der Schweiz sogar die «Neue Zürcher Zeitung» kritisierten das Verbot – und sie fügte am 1. September in einem Kommentar hinzu: «Die Demokratie erträgt einige Wirrköpfe.»
  • Die Veranstalter erstritten in zwei Gerichtsinstanzen eine Aufhebung des Verbotes. Nichtsdestoweniger kursierten am Tag vor den geplanten Versammlungen im «Netz» Behauptungen, dass (deutsche?) Panzer auf dem Weg nach Berlin seien – und in Zügen Richtung Berlin seien aussergewöhnlich viele Soldaten gesichtet worden. Tage vorher hatte der Chefredakteur eines Magazins, das die Veranstaltungen in Berlin unterstützt, das Szenario rollender Panzer schon ausgemalt. Immerhin ging es ja um die «Strasse des 17. Juni»1 – die später – so die Veranstalter – einmal in «Strasse des 29. August» umbenannt werden würde.
  • Am Mittag des 29. August hiess es dann, die Demonstration sollte trotz der Gerichtsentscheide von der Polizei aufgelöst werden: wegen mangelnder Einhaltung der Abstandsregeln. Spiegel online meldete schon vorab Vollzug. Die Polizeipräsidentin von Berlin hatte zuvor vor der Gefahr gewalttätiger Auseinandersetzungen gewarnt, sollten die Veranstaltungen stattfinden. Die Veranstalter hatten sich vor und haben sich während der Veranstaltung immer wieder zur Gewaltlosigkeit bekannt.
  • Während an der dann doch noch stattfindenden Kundgebung rund um die «Siegessäule» immer wieder «Frieden» und «Freiheit» skandiert und zur Einhaltung der Abstandsregeln aufgerufen wurde, rannte eine mehr als 100 Köpfe zählende Gruppe einer anderen Kundgebung vor dem Reichstag auf die kaum gesicherte Treppe vor dem Reichstagseingang – unter anderen auch mit schwarz-weiss-roten Fahnen2. Drei Polizisten, die den Eingang zum Reichstag bewachten, stellten sich ihnen entgegen, bis nach wenigen Minuten eine Hundertschaft heranrückte. Nach ihrem Einsatz wurden die drei Polizisten vom Bundespräsidenten empfangen und gewürdigt. Die Schlagzeilen und Politikerreden nach dem 29. August beschränkten sich weitgehend auf die Vorgänge vor dem Reichstag.
  • Ein geplantes zweiwöchiges «Protestcamp» von Querdenken 711 auf der «Strasse des 17. Juni» wurde in der Nacht vom 29. auf den 30. August von der -Polizei geräumt: wegen Nichteinhaltung der Abstandsregeln. Das höchste deutsche Gericht, das Bundesverfassungsgericht, bestätigte das Verbot. Der Plan der Veranstalter war gewesen: Das «Protestcamp» sollte eine neue deutsche Verfassung ausarbeiten.

Kundgebungsbeiträge: Von Hare Krishna bis zur Revolution

Nachdem es am 1. August nicht möglich gewesen war, kamen dieses Mal alle, die singen oder reden sollten/wollten, zu Wort. Die Beiträge reichten von Hare-Krishna-Gesängen, über schmalzige «Liebes»lieder und fragwürdige Kinder- und Elternauftritte, bis hin zu Aufrufen zur «Revolution». Ein Redner, gleichzeitig Mitherausgeber des «alternativen» Massenblattes Demokratischer Widerstand, hatte einen dunklen Anzug angezogen und erklärte, er ziehe seinen Anzug nur zur Hochzeit oder zur Revolution an. An diesem Tag gelte: «Es lebe die Revolution!» Sein Ziel ist ein neuer Staat in Deutschland, die «Freie Bundesrepublik Deutschland». Überhaupt wurde mit grossen Worten nicht gespart: «Liebe», «Freiheit», «Frieden» – wie schon am 1. August. Die Zeit sei «reif für ein neues System». Mehrere Redner versuchten immer wieder, die Teilnehmer der Kundgebung mit laut skandierten Sprüchen in Wallung zu bringen.

Wohl nicht der Erinnerung wert

Muss man sich irgend etwas merken von dem, was am 29. August auf der Bühne gesagt und gesungen wurde? Ich denke, nein. Da wurde kein Satz formuliert, der in die Geschichte eingehen wird. Aber über die Inszenierung als solche sollte man nachdenken. Ein Redner sprach davon, mit der Veranstaltung in Berlin würden auch die «Seelen» der Menschen erreicht. An welche Gefühlsregungen mag er hierbei gedacht haben? Soll dieses postmoderne Potpourri aus Unzufriedenheit, Klagen, Esoterik und lauten Attacken wegweisend sein? Zu viel Lärm verhindert das Denken. Rund um den 29. August hat es sehr viel Lärm gegeben. Kann das eine sinnvolle Alternative zu einer in der Tat in vielerlei Hinsicht fragwürdigen Politik sein? 
    Und was bräuchte es statt dessen wirklich, damit die Kluft zwischen den Regierenden, einer grossen Mehrheit der Bürger, die bis heute auf der Seite der Regierenden steht, und einer ansehnlichen Minderheit, die solchen Veranstaltungen wie in Berlin zujubelt, nicht immer noch grösser wird?

Drei Fragen

Der Leiter des Forschungsressorts Politik am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig, Jan Gerber, hat in einem Beitrag mit dem Titel «Die Populisten sind Prototypen eines neuen Parteiensystems»3 überlegenswerte Gedanken formuliert. Anders als viele andere hat er den Begriff «-Populismus» nicht zu einem politischen Kampfbegriff gemacht, sondern mit interessanten Gedanken analysiert. Zu lesen ist unter anderem: «Populismus ist weniger ein politisches Programm als ein Politikstil. Wo die etablierten Parteien mit Sachzwang argumentieren, setzt er auf Emotionen und Affekte. Stimmungsabhängige Ad-hoc-Entscheidungen treten an die Stelle langwieriger Aushandlungsprozesse, fehlende Programmatik wird durch Improvisation ersetzt.» Und am Ende des Textes ist zu lesen: «Die Parteienlandschaft dürfte sich jedoch früher oder später nach dem Vorbild des Populismus verändern. […] Vielleicht entsteht aus den populistischen Organisationen der Gegenwart die Parteienlandschaft der Zukunft.» In der Tat kann man den Eindruck gewinnen, dass wir in unseren Ländern schon eine grosse Strecke auf diesem Weg zurückgelegt haben.
    Aber wir können uns auch fragen, ob wir Bürger dies so wollen und ob es nicht bessere Alternativen gibt: gemeinwohlorientierte Alternativen, die nicht auf Emotionen und Affekte, stimmungsabhängige Ad-hoc-Entscheidungen und Improvisation setzen, sondern wieder auf Sachlichkeit, Ernsthaftigkeit, Programmatik und langwierige Aushandlungsprozesse.

 


«Ist die Zeit nicht viel zu ernst, um sich Massen-Events wie in Berlin hinzugeben? Was ist das für ein ‹Gemeinschafts›-Erlebnis, wenn ausser viel Lärm und vielen Worthülsen eigentlich gar nichts geboten wird? Wer glaubt wirklich, dass der 29. August ‹der wichtigste Tag in der deutschen Geschichte seit 1945› war oder der ‹Beginn einer längst überfälligen Umwälzung›? Er könnte allerdings dann zu einem wichtigen Tag werden, wenn er zu einem wirklichen Innehalten und Nachdenken anregt.»



Folgende Fragen können vielleicht helfen, zum Weiterdenken anzuregen:

  1. Der deutsche Philosoph und Aufklärer Immanuel Kant hat schon 1784, also fünf Jahre vor der Französischen Revolution, in seiner berühmt gewordenen Schrift «Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?» geschrieben: «Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotismus und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden, ebensowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen grossen Haufens dienen.» Der Verlauf der Französischen Revolution und vieler weiterer Revolutionen hat ihm Recht gegeben. Auch die Bilanz der sogenannten «friedlichen Revolutionen» nach den Vorgaben von Gene Sharp (siehe Kasten) und US-amerikanischer Geheimdienste wirft eher viele Fragen auf. Wo stehen wir gedanklich und gefühlsmässig, aber auch -politisch heute?
  2. Derselbe deutsche Philosoph hat sich auch sehr ausführlich mit der Frage der Freiheit beschäftigt. «Freiheit» war eines der Kernthemen der Aufklärungsphilosophen seiner Zeit. Wer weiss noch, wieviel gemeinschaftliche Mühen, Sorgfalt und Wissen es gekostet hat, die filigranen Ideen einer freiheitlich-demokratischen Ordnung in Verfassungswerke zu giessen und solche Verfassungen dann – bei aller Unvollkommenheit – auch versuchen zu leben? Wer glaubt wirklich, dass die Parolen des 29. August geschichtsmächtig werden können im Sinne eines gemeinwohlorientierten Fortschrittes in Deutschland?
  3. Ist die Zeit nicht viel zu ernst, um sich Massen-Events wie in Berlin hinzugeben? Was ist das für ein «Gemeinschafts»-Erlebnis, wenn ausser viel Lärm und vielen Worthülsen eigentlich gar nichts geboten wird? Wer glaubt wirklich, dass der 29. August «der wichtigste Tag in der deutschen Geschichte seit 1945» war oder der «Beginn einer längst überfälligen Umwälzung»? Er könnte allerdings dann zu einem wichtigen Tag werden, wenn er zu einem wirklichen Innehalten und Nachdenken anregt.    •

1  Am 17. Juni 1953 wurde ein Aufstand in der DDR mit sowjetischen Panzern niedergeschlagen. Die Bundesrepublik Deutschland erklärte daraufhin den 17. Juni zum Nationalfeiertag.
2  Die Flagge mit drei waagerechten, gleich breiten Streifen in den Farben Schwarz-Weiss-Rot war von 1867 bis 1871 die Flagge für Kriegsschiffe und Handelsschiffe des Norddeutschen Bundes, von 1871 bis 1919 die Flagge des Deutschen Reichs und von 1933 bis 1935 übergangsweise zusätzlich die Flagge des «Dritten Reichs», ehe die Hakenkreuzflagge als alleinige Nationalflagge eingeführt wurde. Die Farbgebung war aber auch hier schwarz-weiss-rot.
3  Neue Zürcher Zeitung vom 29.8.2020, Seite 36

Gene Sharp und die «gewaltfreie Aktion»

km. Bei Wikipedia erfährt der Leser, dass der 2018 verstorbene Gene Sharp ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler war, Gründer der Albert Einstein Institution, die sich mit Studien zur und der Verbreitung von gewaltfreien Aktionen beschäftigt. Sein bekanntestes Buch «The Politics of Nonviolent Action» (1973) liefert einen handlungsorientierten Ansatz zu gewaltfreier Aktion. Sharp hat ihre Methoden in folgende Untergruppen klassifiziert: gewaltfreier Protest und Überzeugung, soziale Nichtzusammenarbeit, wirtschaftliche Boykottaktionen, Streikaktionen, politische Nichtzusammenarbeit, gewaltfreie Intervention. Petra Kelly hatte «The Politics of Nonviolent Action» in die DDR geschmuggelt und dem Bürgerrechtler Gerd Poppe übergeben. Der Band II wurde Anfang 1989 in der Demokratischen Initiative in Leipzig rezipiert. Konkreten Einfluss versuchte Sharp in Myanmar zu nehmen, wo 1992 seine Handlungsanweisungen für Befreiungsbewegungen «From Dictatorship to Democracy» verteilt wurden, die inzwischen in über 30 Sprachen übersetzt worden sind und 2012 in der 4. Auflage erschienen. Sharps Theorien beeinflussten mehrere Befreiungsbewegungen in Osteuropa: Otpor in Serbien, Kmara in Georgien, Pora! in der Ukraine, KelKel in Kirgisistan und Subr in Belarus. Als sein Verbindungsmann zu diesen Bewegungen gilt der US-Oberst a. D. Robert Helvey. Auch die Initiatoren der Revolution in Ägypten 2011, die im Februar 2011 zum Rücktritt von Präsident Hosni Mubarak führte, beriefen sich auf ihn. Eine der mit je 50 000 Euro dotierten Auszeichnungen des Alternativen Nobelpreises ging 2012 an Sharp. In der Begründung hiess es, seine Studien zum gewaltfreien Widerstand seien im Dschungel von Burma genauso angewandt worden wie auf dem Kairoer Tahrir-Platz. Er hat auch Regierungen darüber beraten, wie man gewaltlosen Widerstand bei einer militärischen Invasion organisieren könnte.
    Hinzufügen muss man, dass die «gewaltfreien Aktionen» in der Realität oftmals mit Gewalt verbunden waren.

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