Zuwanderung in die Schweiz – fremd- oder selbstbestimmt?

Zur Geschichte der traditionell grosszügigen Zuwanderungspolitik der Schweiz

von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich

Am 27. September stimmen wir auf Bundesebene über vier Referenden ab – über den Vaterschaftsurlaub, ein Jagdgesetz (das den Abschuss von Wölfen erleichtert), über die Beschaffung von Kampfflugzeugen und über neue Kinderabzüge in den Bundessteuern. Dazu kommt am selben Tag die Abstimmung über eine Volksinitiative, die die Verfassungsgrundlage schaffen will, um die Zuwanderung wieder eigenständig zu steuern (Begrenzungsinitiative). Dazu die folgenden Überlegungen:

Wie ging die Schweizer Bevölkerung in früheren Zeiten mit der Zuwanderung um? – In den Jahrzehnten vor der Gründung des Bundesstaates im Jahr 1848 war die Schweiz eher ein armes Auswanderungsland, in dem es nach Missernten noch oft zu Hungersnöten kam. Viele der jungen Männer hatten ihr Geld noch bis ins 19. Jahrhundert im Solddienst im Ausland verdient. Wir finden die Spuren der Auswanderer vor allem aus Bergkantonen wie Glarus, Wallis, Graubünden oder Tessin auf der ganzen Welt. Insbesondere im Eisenbahnbau war das Land gegenüber Grossbritannien, Frankreich oder auch Deutschland noch viele Jahre im Rückstand. Das änderte sich.
    Mit der Gründung des Bundesstaates bekam die Industrialisierung einen Schub. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die Schweiz eine Vielzahl von Pionierunternehmen. Sie profitierte von tüchtigen Zuzügern, die Unternehmen gründeten. Dazu gehörten Pioniere wie Henri Nestlé oder der Brite Charles Brown (BBC, heute ABB). Zudem war die Schweiz zu einem Tourismusland geworden.
   Vor dem Ersten Weltkrieg betrug der Ausländeranteil in der Bevölkerung hohe 14,7 % – viel mehr als in anderen europäischen Ländern. Rang 2 in dieser Statistik belegte Belgien mit 3 %. Die Schweizer Grenzen waren weitgehend offen. Jedermann konnte kommen, musste aber für sich selber schauen. Im Ersten Weltkrieg und dann in der Zwischenkriegszeit sank die Zahl der Ausländer wieder – insbesondere in der Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre.

1960er Jahre: stark steigende
Zuwanderung in der Hochkonjunktur

1945 waren nur noch rund 5 % der Bevölkerung Ausländer. Diese Zahl stieg jedoch im Verlauf der Hochkonjunktur der Nachkriegsjahrzehnte markant an und erreichte am Anfang der 1960er Jahre rund 13 %, 1968 15 %. In dieser Statistik sind die Saisonniers nicht enthalten, die jeweils ohne Familiennachzug für einige Monate hier arbeiteten und danach wieder nach Hause reisten (Saisonnier-Statut).
    Viele Probleme der Hochkonjunktur waren ungelöst: Etwa 30 % der Arbeitskräfte stammten aus dem Ausland. Arbeitslose gab es nicht mehr. Wer seine Stelle verlor, fand innert Stunden eine neue. Die ganze Infrastruktur war wegen der heiss gelaufenen Wirtschaft massiv überfordert. Die Schulhäuser waren zu klein, die Kanalisation mangelhaft, moderne Kehrichtverbrennungs- und Kläranlagen fehlten fast vollständig. Die Gewässer- und Umweltverschmutzung war so schlimm, dass man in den meisten Seen nicht mehr baden konnte. Das Strassennetz genügte längst nicht mehr, die Autobahnen waren noch im Bau, der Wohnungsbau war hoffnungslos im Rückstand, und die Mieten und ganz allgemein die Preise stiegen an. Die Ökonomen sprachen nicht mehr von Voll- sondern von Überbeschäftigung.

Versuche, die Konjunktur zu dämpfen

Im Verlauf der sechziger und siebziger Jahre beschloss das Parlament wiederholt notrechtliche Massnahmen (die sofort in Kraft gesetzt wurden), um die Konjunktur zu dämpfen. Über jeden einzelnen Bundesbeschluss wurde im nachhinein einzeln abgestimmt – insgesamt elfmal. Einer plafonierte zeitweise die Personalbestände in den einzelnen Unternehmen (die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze war verboten), andere sahen Kreditbegrenzungen und Baustopps für luxuriöse Einfamilienhäuser vor, die Preise sollten überwacht werden und manches mehr. Solche rigorose Massnahmen waren nicht speziell gegen Ausländer gerichtet, sondern sie sollten ganz allgemein die überhitzte Konjunktur abkühlen. Das Volk stimmt jedesmal mit Ja (Rhinow 2011, S. 36; Linder 2010).

Erste Initiativen zur Kontrolle der Zuwanderung

Schon bald kamen etliche Vorstösse aus der Bevölkerung, die als Überfremdungsinitiativen in die Geschichte eingingen. Sie verlangten von den Behörden, dass sie die Zuwanderung direkt begrenzen. Die Demokratische Partei des Kantons Zürich sammelte bereits 1965 erfolgreich die Unterschriften für eine eidgenössische Volksinitiative. Sie verlangte eine Beschränkung der ausländischen Niedergelassenen und Aufenthalter auf einen Zehntel der Wohnbevölkerung. Bis dieser Bestand erreicht sei, sollte er jedes Jahr um 5 Prozent abgebaut werden (Hofer 2012, Nr. 89; Linder 2010, S. 303).
    Dazu etwas Parteiengeschichte: Die Demokratische Partei des Kantons Zürich hatte ihre Wurzeln in der FDP (Freisinnig-Demokratische Partei) dieses Kantons. Sie hatte sich 1941 abgespalten und eine eigene Partei gegründet. 1971 kam es wieder zum Zusammenschluss. Im gleichen Jahr gründeten die Bündner und Glarner Demokraten zusammen mit der BGB (Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei) die Schweizerische Volkspartei SVP, heute die grösste Partei der Schweiz.

Überfremdungsinitiativen vom Volk mehrheitlich abgelehnt

Das Schicksal der ersten sogenannten Überfremdungsinitiative war ungewöhnlich. Bundesrat und Parlament lehnten sie ab. Der Bundesrat appellierte an die Initianten, sie zurückzuziehen, weil die Behörden ja für die Wirtschaft eine ganze Reihe von Stabilisierungsmassnahmen ergriffen hätten. Die Personalbestände in den Betrieben würden plafoniert und auch der Gesamtbestand der ausländischen Arbeitskräfte begrenzt. Ein Abstimmungskampf würde die Stimmung nur anheizen, zu unschönen Auseinandersetzungen führen und dem Ansehen der Schweiz Schaden zufügen. Bundesrat Schaffner (FDP) lud das Initiativkomitee zu einem persönlichen Gespräch ein – und hatte Erfolg. Die Demokraten des Kantons Zürich zogen ihre Initiative 1968 zurück (Linder 2010, S. 303).
    1970 Schwarzenbach-Initiative: Die neu gegründete «Nationale Aktion gegen Überfremdung von Volk und Heimat» war gegen diesen Rückzug. Einer ihrer Vertreter, Nationalrat James Schwarzenbach, lancierte deshalb wenig später die zweite Überfremdungsinitiative und gründete eine eigene Partei – die Republikaner. Sie verlangte, dass der Ausländerbestand 10 % der Bevölkerung nicht übersteigen dürfe. 17 Kantone hätten ihre Jahresaufenthalter um mehr als die Hälfte abbauen müssen. Ein Rückzug war diesmal nicht möglich, weil der Text keine Rückzugsklausel enthielt. Im Parlament wurde die Initiative fast einstimmig abgelehnt. Ein heftiger und emotionsgeladener Abstimmungskampf begann. Aus heutiger Sicht wird mancher denken: Was sind schon 10 %, heute haben wir fast 25 % – und die Schweiz ist nicht untergegangen. Die Voraussetzungen damals waren aber ganz andere.
    Für viele Politiker waren die Phänomene der Hochkonjunktur neu und ungewohnt. Sie hatten noch die Bilder der Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre mit der hohen Arbeitslosigkeit im Kopf. Die «Schwarzenbach-Initiative» sollte eine wichtige Abstimmung nach dem Krieg werden. Fast 75 % der Stimmberechtigten gingen am 6.7.1970 an die Urne. 54 % lehnten die Initiative ab – trotz der drängenden Probleme an der Wirtschaftsfront – und zur grossen Erleichterung des Bundesrates und der grossen Mehrheit im Parlament, die für ein Nein gekämpft hatten. Der Ja-Anteil war jedoch hoch. Grosse Kantone wie Bern und Luzern hatten die Initiative angenommen. Die Stimmung blieb angespannt, war doch die nächste Volksinitiative über die Zuwanderung bereits eingereicht. Diese verlangte, dass der Bestand der ausländischen Wohnbevölkerung innerhalb von 10 Jahren auf 12,5 % der schweizerischen Wohnbevölkerung herabgesetzt werden müsse. Eine weitere Volksinitiative verlangte eine Verschärfung der Einbürgerungspraxis (Linder 2010, S. 303, 331, 355).

Ende der Hochkonjunktur – die Schweiz bleibt beliebtes Einwanderungsland

Als die Hochkonjunktur in den 1970er Jahren zu Ende ging, wurden viele Arbeitsplätze wieder abgebaut. Ein grosser Teil der drängenden Hausaufgaben waren jedoch gemacht. Viele Klär- und Abfallverbrennungsanlagen waren gebaut worden. In den Seen konnte man wieder baden. Die Bauwirtschaft hatte sogar zu viele neue Wohnungen gebaut, so dass die Mieten wieder sanken. 1977 wurde am gleichen Tag über die beiden oben genannten Volksinitiativen abgestimmt. Nur noch 45 % der Stimmberechtigten gingen an die Urne. Das Resultat war klar: Eine grosse Mehrheit der Stimmenden und alle Kantone lehnten beide ab. Die Schweiz hatte sich ein Stück weit darauf eingestellt, ein beliebtes Einwanderungsland zu sein, und es war auch gelungen, viele der Zuwanderer gut zu integrieren – damals vor allem aus Ländern wie Italien, Spanien und Portugal. Ohne die tüchtigen Handwerker aus dem Süden hätte die moderne Schweiz gar nicht gebaut werden können. Bereits im 19. Jahrhundert hatten sie einen grossen Beitrag geleistet, zum Beispiel beim Bau des Gotthardtunnels und weiterer kühner Infrastrukturbauten, und später auch der vielen Wasserkraftwerke im ganzen Land und der zahlreichen Staudämme in den Bergen.

1980er Jahre – weitere Volksinitiativen

Als Reaktion auf die sogenannten Überfremdungsinitiativen hatte die katholische Arbeiter- und Angestelltenbewegung 1977 die «Mit-enand-Initiative» lanciert – mit dem Ziel, eine neue «menschliche» Ausländer-politik herbeizuführen. Die soziale Sicherheit und der Familiennachzug sollten besser geregelt und die Arbeitsbewilligung für eine Saison (Saisonnier-Statut) abgeschafft werden. Bundesrat und Parlament empfahlen Ablehnung und verwiesen als Gegenvorschlag auf die laufende Revision des Bundesgesetzes über die Niederlassung und den Aufenthalt von Ausländern (ANAG). Dieses neue Gesetz würde die rechtliche Situation der Ausländer wesentlich verbessern. Das Volk und alle Stände folgten den Behörden und lehnten die Volksinitiative 1981 mit über 85 % klar ab (Linder 2010, S. 400).
    In den 1980er Jahren nahm der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung weiter zu. Daraufhin lancierte die Nationale Aktion erneut eine Volksinitiative. Die Zahl der Einwanderer dürfe während 15 Jahren höchstens zwei Drittel der Auswanderer im Jahr betragen – solange die Wohnbevölkerung 6,2 Millionen überschreitet (heute 8,4 Millionen). 1988 sagten auch diesmal über 70 % der Stimmenden und alle Kantone nein zur zahlenmässigen Beschränkung (Linder 2007, S. 460).

1990er Jahre: Zustrom als Folge der Jugoslawien-Kriege und 18-Prozent-Initiative aus der FDP

Der Ausländeranteil in der Bevölkerung stieg in den neunziger Jahre erneut an. Herkunftsländer waren vor allem Jugoslawien und in neuerer Zeit auch Deutschland. 1991 betrug er 17,1 %, 1994 18,6 %, und erneut wurde eine Volksinitiative eingereicht. Die sogenannte 18-Prozent-Initative kam aus den Reihen der FDP: Nationalrat Philipp Müller (der spätere Parteipräsident der FDP Schweiz) verlangte, dass der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung höchstens 18 % der Gesamtbevölkerung betragen dürfe. Müller folgte mit seiner Volksinitiative der demokratischen Linie innerhalb der FDP. Bundesrat und Parlament lehnten sie ab. Im Unterschied zu früheren Jahren reagierten die Behörden gelassener. Probleme gab es zwar. Viele aus den sechziger und siebziger Jahren war jedoch gelöst oder entschärft. Auch die Integration der vielen Südländer war besser verlaufen, als viele dachten – 64 % der Stimmenden und alle Kantone stimmten auch diesmal mit Nein (Linder 2010, S. 460, 593).

Nach 2000: Personenfreizügigkeit mit der EU

Am 6. Dezember 1992 hat das Volk den EWR mit 50,3 % der Stimmen abgelehnt, nachdem der Bundesrat das Beitrittsgesuch eingereicht hatte. Deutlicher war das Stimmenverhältnis bei den Kantonen: 18 von 26 Voll- und Halbkantonen stimmten dagegen, lediglich acht dafür. Danach hielt der Bundesrat noch bis 2005 am Beitrittsziel fest. Im Jahr 2000 wurde über die Bilateralen I abgestimmt. Dazu gehörte als zentrales Element die Personenfreizügigkeit, die zum Kern der politischen EU gehört. Diese verfolgt seit ihrer Gründung im Jahr 1957 das Ziel, eine immer engere Union zu bilden mit durchlässigen Grenzen und einer «europäischen» Bevölkerung – ähnlich wie in der USA. Dieses Konzept war von Anfang an umstritten. Als Gegenmodell gründete die Schweiz 1960 zusammen mit Grossbritannien und weiteren Ländern die EFTA (European Free Trade Assoziation). Sie wahrt die politische Souveränität ihrer Mitglieder weitgehend und strebt auf diesem Weg eine vertiefte wirtschaftliche Zusammenarbeit an. (Wüthrich 2020, S. 293–318) Grossbritannien ist der EU bzw. der damaligen EG erst 1974 bei- und vor kurzem ausgetreten.
    Das Risiko bestand im Jahr 2000, dass das Volk in der Schweiz das ganze Paket mit den sieben Verträgen wegen der Personenfreizügigkeit und der damit verbundenen politischen Zielsetzung ablehnen würde. Deshalb hatte der Bundesrat die Werbetrommel kräftig gerührt und behauptet, dass netto nicht mehr als 8000 bis 10 000 Personen pro Jahr zuwandern würden. Das ist kein Problem, werden damals viele aus der älteren Generation gedacht haben, wir haben ja schon ganz anderes erlebt. Der Souverän stimmte zu. Aber es war nicht die Realität.

Ein staatspolitisches Problem, das gelöst werden will
(Volksinitiativen 2002, 2014 und 2020)

Es kamen Jahre mit einer Nettoeinwanderung von gegen 90 000 im Jahr – so viele wie einst in der Hochkonjunktur der sechziger Jahre – ungefähr eine Million innerhalb von 13 Jahren. – Im Jahr 2002 sagte das Volk dagegen mit 81 % der Stimmenden und sämtlichen Kantonen sehr deutlich nein zur Volksinitiative «Ja zu Europa», die die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen verlangte. 2014 stimmte das Volk der Masseneinwanderungs-Initiative zu, die eine massvollere Zuwanderung verlangte. Im Unterschied zu früheren Initiativen verlangte sie nicht, den Ausländerbestand von bereits hohen 25 % herabzusetzen. Sondern sie wollte der Schweiz als souveränem Land lediglich wieder das Recht geben, die Zuwanderung selbständig zu steuern – so wie sie es seit Jahrzehnten immer wieder getan hatte. Bundesrat und Parlament weigerten sich unter Druck von Brüssel, das Volksverdikt wirklich umzusetzen.
    Im bewährten «Schweizer Modell» sind die politischen Gewalten getrennt, und die Macht ist geteilt. Zuoberst steht das Volk. Heute werden Teile der Macht vom Volk weg auf die Behörden verlagert (so dass von gelenkter Demokratie die Rede ist). Dass diese sich manchmal nicht mehr an die Verfassung halten, ist bereits in den letzten Jahren als staatspolitisches Problem aufgetreten (zum Beispiel in einzelnen Entscheiden des Bundesgerichts). Es ist bis heute ungelöst und äussert sich auch im Auftreten von Bundesräten im Abstimmungskampf, die die angebrachte Zurückhaltung vermissen lassen. Falls nicht Gegensteuer kommt, wird sich dies mit der politischen Einbindung verstärken, die der geplante Rahmenvertrag mit der EU vorsieht. In «Brüssel» ist das Volk – abgesehen von den Wahlen in das EU-Parlament (das nur wenige Kompetenzen hat) – an der Macht gar nicht beteiligt. Solche Fragen stellen sich in der Schweiz grundsätzlich.
    Falls sich kein anderer Weg ergibt, verlangt die nun vorliegende neue Volksinitiative ausdrücklich, die Personenfreizügigkeit mit der EU zu kündigen. Auch sie verlangt nicht, den hohen Ausländerbestand herabzusetzen, sondern die Schweiz soll als souveränes Land lediglich wieder das Recht erhalten, seine Politik auch in diesem zentralen Gesellschaftsbereich wieder eigenständig zu gestalten – so wie sie es schon oft getan hat – unter Mitsprache des Volkes.

Die Schweiz hält an der traditionell grosszügigen Zuwanderungspolitik fest – auch in schwierigen Zeiten

In den letzten fünfzig Jahren – seit 1970 – hat eine Vielzahl von Volksabstimmungen über die Zuwanderung und über damit zusammenhängende Fragen stattgefunden. Manchmal gingen die Wellen hoch. Zu nennen sind Abstimmungen über Massnahmen zur Linderung der Wohnungsnot, zur Verbesserung des Mieterschutzes, für eine bessere Integration der Zuwanderer, für einen sorgsamen Umgang mit dem begrenzten Raum, für den Schutz der Umwelt und manches mehr.
    Die zahlreichen Abstimmungen haben in ihrem Ergebnis die traditionell grosszügige Zuwanderungspolitik bestätigt und zu einer politischen Kultur beigetragen, in der die Bürgerinnen und Bürger auch in schwierigen Zeiten sich ernst genommen fühlen, eine Stimme haben und sich äussern können und so zur Lösung beitragen. (Wüthrich 2020, S. 335–345) Ich denke, das ist ein Hauptgrund für die Stabilität, den sozialen Frieden, den Wohlstand und für die lebendige Politik, die wir heute haben. – Wollen wir die Entscheidungshoheit in einem noch stärkeren Masse nach Brüssel delegieren – mit Folgen, die einem Paradigmenwechsel gleichkommen und nicht absehbar sind?

Direkte Demokratie als Kitt, der das Ganze zusammenhält

Die Schweiz ist mit ihren vier Sprachregionen und Kulturen ein vielfältiges Land: Der Ausländeranteil im Inland beträgt heute rekordhohe 25 %. 300 000 Grenzgänger haben hier einen Arbeitsplatz gefunden. Heute leben über 700 000 Schweizer im Ausland. Schweizer Unternehmen haben im Ausland gegen drei Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Viel ausländisches Kapital ist in der Schweiz. Das Land ist damit weltoffener und liberaler als viele andere Länder und nach wie vor ein beliebtes Einwanderungsland. Die immer wieder eingebrachten Volksinitiativen, die die Zuwanderung mit ihren Folgen auf diese oder eine andere Weise steuern wollen, sind mehr eine Reaktion auf diese Offenheit und manchmal auch ein Überdruckventil für Konflikte und Themen, die Bundesrat und Parlament nicht anpacken – aber keinesfalls ein Zeichen von Abschottung oder gar von Ausländerfeindlichkeit, wie manchmal behauptet wird. Sondern sie sind wichtig für den Zusammenhalt.

Offen für künftige Herausforderungen

Die Einwohnerzahl der Schweiz hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg verdoppelt, und sie wird weiter zunehmen. Bereits ist von der «10-Millionen Schweiz» die Rede. Ich denke, es wäre fahrlässig, nach den positiven Erfahrungen der letzten fünfzig Jahre auf die Souveränität und die direkte Mitsprache des Volkes in einem so zentralen Gesellschaftsbereich zu verzichten. Zudem hat die wechselvolle Geschichte der letzten Jahrzehnte gezeigt, dass sich die Welt immer wieder verändert. Auch heute: Niemand weiss, was als Folge der aktuellen Krisen noch auf uns zukommt. Die EU verändert sich. Grossbritannien ist ausgetreten und gestaltet seine Beziehung zur EU neu – ohne Personenfreizügigkeit. Die EU hat erste Schritte in Richtung einer Fiskal- und Schuldenunion beschlossen … Das Volks-Ja zur Masseneinwanderungsinitiative im Jahr 2014 war ein Fingerzeig in Richtung einer Politik, die den Handlungsspielraum offen lässt, flexibel auf die kommenden, auch neuartigen Herausforderungen zu reagieren – und zwar auf die gewohnte und vielfach bewährte direktdemokratische Art und Weise, die zur politischen Kultur der Schweiz und zum Kern des Erfolgsmodells gehört.

Wird ein Ja zur Initiative die bilateralen Beziehungen gefährden?

Nach einem Ja des Volkes hat der Bundesrat ein Jahr Zeit, um die Zuwanderung neu auszuhandeln – ohne Freizügigkeit. Falls Brüssel nicht darauf eingeht, muss der Bundesrat das Abkommen mit der Personenfreizügigkeit kündigen. Damit würden auf Grund der Guillotine-Klausel auch die anderen Abkommen der Bilateralen I ausser Kraft gesetzt. Die Chancen für Lösungen sind jedoch gut, auch wenn heutige Statements von einzelnen Kommissaren aus Brüssel manchmal anders tönen. Beide Seiten sind daran interessiert. Die EU wird auf jeden Fall am Transitabkommen festhalten, weil die Nord-Süd-Verbindung für Lastwagen (und auch für Strom) zu den heutigen Bedingungen für sie von strategischer Bedeutung ist. Der Schweizer Beitrag in den Kohäsionsfonds ist Teil einer einvernehmlichen Lösung.

Breiter Konsens

Grundlage für die Wirtschaftsbeziehungen der Schweiz zur EU ist das Freihandelsabkommen von 1972 der EFTA-Länder mit der damaligen EG, dem alle Kantone und 72,5 % der Stimmenden zugestimmt haben. Das Abkommen ist seither mit über hundert Zusatzverträgen ergänzt und verfeinert worden. Diese Verträge können erneut weiterentwickelt werden. Diese Abkommen sind für beide Seiten von Vorteil und verlangen keine politische Ein- oder Anbindung, so dass breiter Konsens besteht. Soll man von diesem Weg noch mehr abweichen, nur um noch den einen oder anderen wirtschaftlichen Vorteil zu erlangen? – Die Schweiz importiert aus den EU-Ländern mehr als sie exportiert. Als drittwichtigster Handelspartner ist sie ein guter und verlässlicher Geschäftspartner, den man nicht vor den Kopf stösst wegen einer staatspolitischen Frage, die über die reinen Wirtschaftsbeziehungen hinausgeht und die eigentlich jedes souveräne Land selbständig regelt.

Epilog

Jakob Kellenberger hat vor gut 20 Jahren mit der EU die Bilateralen I mit der Personenfreizügigkeit ausgehandelt. Danach war er Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz IKRK. 2014 hat er das Buch «Wo liegt die Schweiz? Gedanken zum Verhältnis Schweiz – EU» geschrieben. Er macht sich darin auch Gedanken zur politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in den Jahren nach «seinem» Vertrag und kommt zum Schluss:
    «Die Rückkehr zum Freihandelskonzept von 1972 ist vielleicht tatsächlich der naheliegende Weg für ein Land, das mit den Voraussetzungen für einen gelingenden Post-92-Bilateralismus Mühe und keine politischen Ambitionen hat, die nur mit einem EU-Beitritt verwirklicht werden können.» (Kellenberger 2014, S. 186)        •


Quellen:

Hofer, Bruno. Volksinitiativen der Schweiz – laufend aktualisiert. Dokumentation aller lancierten Volksinitiativen auf Bundesebene von 1891 bis heute, Dietikon 2013
Kellenberger, Jakob. Wo liegt die Schweiz? Gedanken zum Verhältnis Schweiz – EU, Zürich 2014
Linder, Wolf; Bolliger, Christian; Rielle, Yvan. Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848–2007, Bern 2010
Rhinow, R.; Schmid, G.; Biaggini, G.; Uhlmann, F. Öffentliches Wirtschaftsrecht, Basel 2011
Wüthrich, Werner. Wirtschaft und direkte Demokratie in der Schweiz, Zürich 2020

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