In den vorangegangenen vier Teilen dieser Serie wurden strukturelle, institutionelle Themen vorgestellt, Schlaglichter darauf, wie unser Staat organisiert ist und was an verschiedenen Stellen direkter, demokratischer organisiert werden kann. Daneben, aber auch nicht unabhängig davon, gibt es die Ebene des täglichen Lebens abseits der institutionellen Welt. Hat die nichts mit Demokratie zu tun? Mit solidarischem Leben in der menschlichen Gemeinschaft? Davon handelt der fünfte Teil dieser Serie.
Auch in autoritären Staaten können Menschen abseits staatlichen Handelns Gleichwertigkeit leben. Und auch in einer Demokratie können Menschen ihre Gleichwertigkeit «vergessen» und so demokratische Institutionen ihres Sinns entleeren oder Betrügern öffnen. Die Wachsamkeit und Aktivität der Bürger ist immer die Nagelprobe für demokratische Reife. Damit ist nicht gesagt, dass es auf demokratische Institutionen nicht ankäme, sondern im Gegenteil, dass wir ihren Wert erkennen und sie nutzen, gegebenenfalls verbessern sollten. Institutionen allein können demokratisches Leben weder garantieren noch verhindern. Institutionen können Demokratie behindern oder begünstigen, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Dieser «inoffizielle» Blick auf lebendige Demokratie soll am Beispiel eines Menschen illustriert werden, dessen Aktivitäten ich vor fast 40 Jahren eine Zeit lang begleiten durfte. Werner Böwing (1928–2016) war hauptamtlicher Gewerkschafter von seinem 30. bis zum 60. Lebensjahr. Ich habe ihn kennengelernt, als ich selbst Berufsanfänger und Gewerkschaftsmitglied war. Kürzlich habe ich zufällig einen gemeinsamen Kollegen aus dieser Zeit wieder getroffen. Im Gespräch fragte er mich unter anderem: «Kennst Du eigentlich das Buch, das Werner später (1997) geschrieben hat?» Nein, ich kannte es nicht. Der Kollege hat es mir geliehen. Es ist eine uneitle Autobiographie mit dem treffenden Titel «Erinnerungen an den Versuch, mit einer Luftpumpe die Windrichtung zu ändern». Das Buch ist ein Lehrstück für jeden, der es ernst meint – ohne dabei den nötigen Humor zu verlieren.
Werner Böwing wuchs in einer zuerst armen, später etwas besser gestellten Familie auf. Oft musste berufsbedingt die Stadt und damit für Werner auch die Schule gewechselt werden. Nach der Schulzeit begann Werner eine Zimmermannslehre, fühlte sich dann aber mit 16 Jahren (1944) verpflichtet, freiwillig Soldat zu werden. Mit Glück überlebte er, aber er erlebte auch das Grauen des Krieges. Mit 17 Jahren kam er in britische Gefangenschaft und blieb 3 Jahre lang in Schottland und England in Arbeitslagern. Er beschreibt dies als eine beinahe glückliche Zeit: Er hatte überlebt, er hatte zu essen, er durfte arbeiten (in der Landwirtschaft), er traf auf freundliche Menschen, vor allem in Schottland. Er lernte irgendwie etwas Englisch, versuchte zu verstehen, zu lernen, zu leben. Er suchte immer Kontakt mit Menschen, sein Leben lang.
1948 wurde er entlassen und kam zurück nach Deutschland, zunächst zu seiner Familie, die in der sowjetischen Besatzungszone überlebt hatte. Er konnte seine Lehre beenden und als Zimmermann arbeiten. Politisch war er inzwischen klar gegen den Krieg und Autoritäten gegenüber kritisch eingestellt. Er wollte sich nie wieder missbrauchen lassen. So geriet er bald auch in Konflikt mit der Obrigkeit und floh kurz nach Gründung der DDR in den Westen, mit nichts in der Hand als seinem Gesellenbrief und seinem Zimmermannswerkzeug. Er hatte keine Angst vor dem Leben, dazu hatte er mit 21 Jahren bereits zuviel erlebt.
Im Westen gab es genug Arbeit. Er kam ins Rheinland, arbeitete auf verschiedenen Baustellen, engagierte sich in der Gewerkschaft, gründete in Bonn die sozialistische Jugendorganisation Falken, wo er seine Frau kennenlernte, mit der er bald eine Familie gründete und bis ans Lebensende zusammenblieb. Er engagierte sich auch bei den Jungsozialisten und kandidierte 1957 für deren Vorsitz in Wuppertal – konnte sich aber nicht gegen einen gewissen Johannes Rau durchsetzen. Der schrieb 40 Jahre später, inzwischen Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, ein sehr persönliches und würdigendes Vorwort für das hier besprochene Buch. 1958 wurde Werner Böwing zum Geschäftsführer der IG Bau Steine Erden in Solingen gewählt und immer wieder in dieser Funktion bestätigt, bis er 1988, auch gesundheitsbedingt, in den Ruhestand ging, dabei aber auch nicht untätig blieb.
Es geht hier nicht um Werner Böwing allein, sondern um ihn als ein Beispiel dafür, wie sich ein wacher Mensch, ein Handwerksgeselle ohne Abitur und mit einem Jahr Schulung an einer gewerkschaftlichen Akademie, in der Demokratie bewegen und sie mitprägen kann, was er erreichen kann und wie er als Demokrat mit dem «sportlich» umzugehen weiss, was er nicht erreichen konnte. Einem solchen Menschen soll hier, stellvertretend für ungezählte engagierte Bürger, ein kleines Denkmal gesetzt werden.
Schon im Rahmen seiner hauptberuflichen Gewerkschaftsarbeit war Böwing oft genug angeeckt und musste sich überlegen, welche Kompromisse er eingehen müsse, um seine Möglichkeiten als Interessenvertreter der Bauarbeiter nicht zu gefährden. Eine weitere Karriere in der Gewerkschaft wäre ihm bei weitergehenden Kompromissen sicher möglich gewesen, aber da waren ihm seine Überzeugungen als nicht immer «mainstreamgerechter» Kämpfer für soziale Gerechtigkeit und Frieden wichtiger und sein Posten in Solingen genug. Dieser Posten war ihm andererseits nicht genug, aber nicht aus Karrieregründen.
Vor allem ging es ihm um Friedenspolitik. In den fünfziger Jahren hiess das: gegen die Wiederbewaffnung – und zwar, darauf legte er Wert, in beiden deutschen Staaten. Auch damit eckte er bei manchen Mitstreitern dieser Bewegung an. Zum Unwillen seiner Gewerkschaftsvorgesetzten hat er Ostermärsche mitorganisiert. Nachdem die Bundeswehr doch geschaffen war, engagierte er sich in der «Deutschen Friedensgesellschaft» (von Berta von Suttner mitgegründet), in der «Internationale der Kriegsdienstverweigerer» und der «Gruppe der Wehrdienstverweigerer». Er wirkte daran mit, dass die letztgenannten beiden Gruppen sich zum Verband der Kriegsdienstverweigerer (VK) zusammenschlossen, und übernahm dort ehrenamtliche Leitungsfunktionen. Dabei ging es ihm nicht um Ämterhäufung, sondern um praktische Hilfe für Menschen, die – entgegen dem damaligen Zeitgeist – keine Waffe in die Hand nehmen wollten. Und er organisierte praktische Hilfe für französische Deserteure des Algerienkrieges, später für US-Deserteure des Vietnam-Krieges. Das konnte nur sehr lautlos geschehen und erforderte daher manche Kompromisse auf anderen Gebieten.
Auch auf internationaler Ebene war er für die Friedensbewegung und gegen atomare Aufrüstung tätig. Aus dem Vorstand des VK zog er sich allerdings 1968 zurück. Warum? Die Studentenbewegung begann, den VK für ihre Zwecke zu unterwandern, ideologisch zu politisieren, ohne weiteres Engagement für die praktische Hilfsarbeit, die oft hinter den Kulissen stattgefunden hatte. Für Werner Böwing waren das «Theoristen», mit denen er nichts zu tun haben wollte. Es gab ja genug anderes zu tun.
Zum Beispiel Jugoslawien. Werner Böwing war seit Ende der fünfziger Jahre mit seiner Familie zum Camping-Urlaub nach Bosnien gefahren. Trotz Urlaub knüpfte er dort politische Kontakte, weil ihn das jugoslawische Modell interessierte. Bald wurde er dort zu Vorträgen eingeladen und organisierte wechselseitige Begegnungen zum gegenseitigen Voneinander-Lernen. In seinem Buch betont er im Hinblick auf den späteren Krieg, dass ihm keine Feindschaften in dem Vielvölkerstaat aufgefallen seien. «Das hätte ich merken müssen.» Aber er fand später, 1992, einen Weg, zusammen mit anderen Freunden einen Hilfskonvoi zu einer Adriainsel zu organisieren, die im beginnenden Krieg einen entmilitarisierten Status anstrebte – zu dem es dann allerdings nicht gekommen ist. Er hat an diesem nicht ungefährlichen Konvoi persönlich teilgenommen. Beim deutschen Angriff auf Jugoslawien 1999 ist er nach einem halben Jahrhundert Mitgliedschaft aus der SPD ausgetreten und engagierte sich später noch bei der Partei Die Linke, obwohl er immer ein kritisches Verhältnis zur DDR und zur Sowjetunion gehabt hat.
Auch mit dänischen Bauarbeitern pflegte er Kontakte, die durch seine internationale Friedensarbeit entstanden waren. Er organisierte jedes Jahr über das Himmelfahrtswochenende Treffen mit etwa 40 bis 60 deutschen und dänischen Kollegen, abwechselnd in Deutschland und in Dänemark, bei denen fachlicher Austausch und menschliche Begegnung im Mittelpunkt standen. Ich konnte einige Male an diesen Treffen teilnehmen und erinnere mich gerne an die entspannte, aber auch ernsthaft solidarische Atmosphäre und den fachlichen Austausch.
Das sind nur zwei Beispiele für Werners oft geäusserte Überzeugung: «Solange wir miteinander reden, schiessen wir nicht aufeinander.» Auch den Prager Frühling und die polnische Solidarność-Bewegung hat Werner mit aktivem Interesse verfolgt. Für Flüchtlinge aus der chilenischen Diktatur hat er praktische Hilfe ebenso organisiert wie für Aufbauprojekte in Nicaragua. In Solingen hat er, selbst nicht sehr christlich geprägt, mit einem Pater Willy zusammengearbeitet, wenn es darum ging, für die jeweiligen «Schutzbefohlenen» Hilfe zu finden, für die der jeweils andere Partner besser geeignet war. Werner Böwing hat bei aller Ernsthaftigkeit seiner Anliegen immer genügend Humor und Schlitzohrigkeit mitgebracht und mich manchmal an den Soldaten Schwejk, manchmal an Don Camillo erinnert.
Im Solinger Spar- und Bauverein, einer sehr aktiven Baugenossenschaft, arbeitete er in leitender Position mit und setzte sich für eine Stärkung des Genossenschaftswesens und für eine engere Zusammenarbeit Gewerkschaften – Genossenschaften ein. Die zusätzlichen persönlichen Einnahmen aus diesen Tätigkeiten verwendete er für seine zahlreichen «ausserdienstlichen» Reisen, wenn er sie nicht direkt für Hilfsprojekte spendete. Im Rahmen dieser Funktion und im Rahmen einer Städtepartnerschaft hat er auch Hilfen für Bauprojekte in Nicaragua organisiert.
Was hat das alles mit Demokratie zu tun? Gar mit direkter? Werner Böwing hat keine politischen Ämter bekleidet. Er hat haupt- und nebenberuflich und privat Menschen geholfen, Netzwerke aufgebaut und gepflegt, Begegnungen und Bildungsarbeit ermöglicht, politische und berufsständische Mandatsträger aktiviert, mal mit, mal ohne Erfolg. Er hat es zu schätzen gewusst, dass es in unserer Demokratie möglich ist, für ein menschenwürdiges Leben, für gerechtere Verhältnisse zu streiten, auch wenn es keine Erfolgsgarantie gibt. Aber es geht eben einfacher als in den Diktaturen, die er auch kennengelernt hat. Der Satz «Demokratie ist schön, macht aber viel Arbeit» hätte ihm gefallen. Nicht gefallen haben ihm «Theoristen», die beweisen können, dass Demokratie erst nach Abschaffung des Kapitalismus möglich und vorher nur Aufklärung im Sinne dieser schlechten Nachricht angesagt ist.
Wo Menschen wie Werner Böwing wirken – es gibt viele, schaut Euch um! – lebt Demokratie. Sie lebt um so besser, je direktere Strukturen, also je mehr Freiheiten es für die Beteiligung der Bürger am öffentlichen Leben gibt. Für demokratische Strukturen lohnt es deshalb ebenso zu streiten wie für politische Ziele, deren Inhalte ja nicht immer einfach «für das Volk» oder «gegen das Volk» gewertet werden können. Nicht jeder verfolgt dieselben Ziele und darf das auch. Aber jeder muss die Möglichkeit haben, seine Anliegen zu vertreten und in der Öffentlichkeit dafür zu werben. Und: Er muss es eben auch tun. •
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