16jährige an die Urnen?

Verantwortung der Stimmbürger in der direkten Demokratie nicht unterschätzen!

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Einen erstaunlichen Schnellschuss hat sich der Nationalrat in der Herbstsession geleistet: Nach einer äusserst kurzen Diskussion mit lediglich vier Stellungnahmen stimmte er einer Parlamentarischen Initiative zu, wonach auf Bundesebene das aktive Stimm- und Wahlrecht für 16jährige eingeführt werden soll. Nur gut, dass auch in dieser Frage nichts so heiss gegessen wird, wie es gekocht wurde: Die Ständeräte werden die Sache hoffentlich besser durchdenken, bevor sie ihre Stimme dazu abgeben, und falls nicht, hat das Stimmvolk das letzte Wort.

Die Initiative stammt von der Grünen Sibel Arslan (Baselstadt), der es nach eigenen Worten ein «Herzensanliegen» ist, «den jungen Menschen eine Stimme zu geben».1 Die Staatspolitische Kommission des Nationalrates hatte am 3. Juli den Vorstoss mit 12:12 Stimmen bei einer Enthaltung und Stichentscheid des Präsidenten knapp zur Ablehnung empfohlen.

Schlecht konzipiert …

Dass die Vorlage schlecht aufgegleist ist, musste ausgerechnet der jüngste Nationalrat, der 26jährige Andri Silberschmidt (FDP ZH), seinen Ratskollegen erklären. Aktives und passives Wahlrecht sollten nicht auseinanderklaffen: Wer abstimmen und wählen darf, soll auch selbst kandidieren dürfen. Ausserdem sollen das Stimmrechtsalter und die Mündigkeit (18 Jahre) übereinstimmen.2
   Zu ergänzen ist, dass diese Argumente kein blosser Formalismus sind, sondern dem Verständnis des mündigen und verantwortlichen Bürgers in der direkten Demokratie entsprechen. Das Stimmrecht der Schweizer beinhaltet eben nicht nur das Recht, seine Meinung zu sagen und mitzuentscheiden, wie vielleicht manche Jugendlichen meinen, die gegen den Klimawandel oder gegen die pandemiebedingte Maskenpflicht in Discos und Klubs demonstrieren gehen. Es ist verbunden mit der Verpflichtung, einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten. Dass auch manchen 20- oder 30jährigen die persönliche Reife dafür abgeht, wie die Befürworterinnen des Vorstosses anführten, ist kein Argument für das Stimmrecht für 16jährige.
   Unpassend ist die Initiative aber auch aus föderalistischer Sicht. «Bevor wir hier zentral neue Rechte beschliessen, ist es an den Kantonen, den ersten Schritt zu gehen», so Andri Silberschmidt. Erst ein einziger Kanton (Glarus) hat bisher das Stimmrechtsalter 16 eingeführt, während es in mehreren Kantonen an der Urne abgelehnt wurde. Im Bund sollen sie mitbestimmen, bevor sie an der Gemeindeversammlung teilnehmen und in kantonalen Angelegenheiten mitentscheiden können? Eine verkehrte Welt.

… mit teilweise hanebüchenen Begründungen …

Die Hauptargumente der Befürworterinnen: Die Jungen hätten «auf Grund der Demographpie» zu wenig zu sagen (Sibel Arsan) – oder weniger vornehm ausgedrückt: «Die Demokratie in der Schweiz leidet an Altersschwäche […]» (Tamara Funiciello, SP Bern). Ziemlich happig, nicht wahr?
   Und weil es so viele interessierte 16- und 17jährige gibt, müssen sie subito in der Politik den Ton angeben? Machen wir lieber unsere Jugendlichen darauf aufmerksam, dass sie von ihren demokratieerprobten und lebenserfahrenen älteren Mitbürgern viel lernen können, weil ihnen mit 16 – übrigens auch mit 18 – ganz einfach noch die Erfahrung und das Wissen fehlen.
   «16jährige verfügen über die notwendige politische Bildung, denn diese findet grösstenteils in der obligatorischen Schule statt, also für viele kurz vor dem 16. Geburtstag.» (Sibel Arslan; ähnlich Tamara Funiciello) [Hervorhebung mw]. Eine kühne Behauptung! Im fragwürdigen Lehrplan 21 der Volksschule hat die «politische Bildung» unter den Tausenden von sogenannten Kompetenzen an einem kleinen Ort Platz und sprengt trotzdem mit ihrer inhaltlichen Fülle und in ihrer Abgehobenheit jeden Rahmen (siehe Kasten). Die typische Widersprüchlichkeit des «kompetenz-orientierten» Lernens: Viele hochtrabende Ziele mit wenig dahinter. Vor allem aber sind die Oberstufenschüler zu jung für eine echte «politische Bildung». Sehr viel sinnvoller ist eine realistische Einführung in die Staatsbürgerkunde auf Berufsschulstufe (ab 16 Jahren), wo sie seit jeher Teil des allgemeinbildenden Unterrichts ist, oder im Gymnasium, wo diesbezüglich in manchen Kantonen noch zugelegt werden muss.

… dafür mit um so durchsichtigeren Hintergedanken

Gemäss Nationalrätin Funiciello soll die Jugend über ihre Zukunft mitbestimmen, denn «sie wird am längsten darin leben müssen». Deshalb sollen die 16jährigen zum Beispiel über Altersrenten, das CO2-Gesetz oder die Arbeitszeit abstimmen können. Sie fügt hinzu: «Die Senkung des aktiven Wahl- und Stimmrechtsalters ist eine Stärkung unserer Demokratie.»
   Eine Stärkung der Demokratie? Oder nicht eher der erhoffte Zustrom von Jugendlichen über die Klima-Demos zu den Grünen und den Sozialdemokraten? Dieser Schuss könnte allerdings auch hintenheraus gehen. Denn die Einstellung vieler junger Leute – jedenfalls derjenigen, die eine Berufslehre absolvieren – ist, wie ich als Berufsschullehrerin immer wieder erlebt habe, eher «konservativ», das heisst, sie wollen Bewährtes nicht vorschnell durch etwas «Moderneres» ersetzen.
   Fazit: Bleiben wir beim aktiven und passiven Stimm- und Wahlrecht ab18 Jahren!   •


1  Parlamentarische Initiative 19.415. Den jungen Menschen eine Stimme geben. Aktives Stimm- und Wahlrecht für 16jährige als erster Schritt ins aktive politische Leben. Eingereicht von Sibel Arslan (GP BS).
2  Parlamentarische Initiative 19.415. Verhandlung im Nationalrat am 10.9.2020

«Politische Bildung» im Lehrplan 21 (Oberstufe, 13 bis 16jährige) – Einladung zur Agitation?

mw. Der Lehrplan 21 enthält unter dem Titel «Demokratie und Menschenrechte verstehen und sich dafür engagieren» ein ganz schön nahrhaftes Programm – für Jugendliche, die ihre Lernzeit in den letzten drei Jahren der Volksschule noch überwiegend für die Abrundung ihrer Grundlagenkenntnisse in vielen anderen Fächern zur Verfügung haben sollten. Die Lehrer haben die Wahl, wie sie die knapp vorhandene Zeit für die Staatskunde nutzen wollen: Entweder lassen sie ihre Schüler einige der «Erklärungen» und «Darlegungen» vom Internet herunterladen, ohne dass viel verstanden wird, oder sie animieren sie zu Klima-Demos und ähnlichem. Jedenfalls bietet die «politische Bildung» gemäss Lehrplan 21 dem Lehrer eine bedenkliche Plattform, falls er bezweckt, die Einstellung seiner mehrheitlich noch sehr beeinflussbaren Schüler zu formen.

Lehrplan 21. Räume, Zeiten, Gesellschaften (mit Geografie, Geschichte).
Teil 8 Demokratie und Menschenrechte verstehen und sich dafür engagieren

«1. Die Schülerinnen und Schüler können die Schweizer Demokratie erklären und mit anderen Systemen vergleichen.

Die Schülerinnen und Schüler …
  a können darlegen, wie Demokratie entstanden ist, wie sie sich weiterentwickelt hat und sich von anderen Regierungsformen unterscheidet. *Demokratie, Volkssouveränität, Machtbegrenzung, Bürgerrecht
  b können die drei Gewalten auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene unterscheiden und aufzeigen, welche Aufgaben sie lösen. *Verfassung, Gewaltenteilung, Regierung, Parlament, Gericht
  c können wichtige Besonderheiten der Schweizer Demokratie sowie die daraus resultierenden Rechte und Pflichten erklären. *Föderalismus, Volk, Gemeinde, direkte Demokratie, Initiative, Referendum, Parteien, Verbände
  d können zu aktuellen Problemen und Kontroversen Stellung beziehen, dabei persönliche Erfahrungen im schulischen und ausserschulischen Alltag einbeziehen und die Positionen begründen (zum Beispiel Verhältnis von Staat und Wirtschaft, Siedlungsraumgestaltung).»

Dazu kommen die Bereiche Menschen- und Kinderrechte («2. Die Schülerinnen und Schüler können die Entwicklung, Bedeutung und Bedrohung der Menschenrechte erklären») sowie die internationalen Beziehungen der Schweiz («3. Die Schülerinnen und Schüler können die Positionierung der Schweiz in Europa und der Welt wahrnehmen und beurteilen»).

***

Für dieses umfangreiche Programm bräuchte man mindestens 80 bis 100 vom Lehrer geführte Lektionen, wenn das Ziel wäre, dass die Schüler die Grundlagen des Schweizer Staatsmodells und ihre direktdemokratischen Rechte und Pflichten kennenlernen.
Anmerkung zu 1 d: Bevor man zu aktuellen Problemen Stellung beziehen kann, muss man sich zuerst über die Argumente und Ziele beider Seiten informieren. Es ist aus ethischen und pädagogischen Gründen unzulässig, den Schülern als Diskussionsgrundlage einseitige und irreführende Schlagworte vorzusetzen wie zum Beispiel «Nein zur schädlichen Kündigungsinitiative» als «Information» zur Initiative «für eine massvolle Steuerung der Zuwanderung».

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