von Winfried Pogorzelski
Gegen Ende und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg leistete die Schweiz für viele Kriegsgeschädigte auf vielfältige Art und Weise Hilfe, um die materiellen und psychischen Folgen für die Betroffenen zu lindern.1 Dem neutralen Land war es wichtig, seine Unabhängigkeit zu wahren und sich nicht dem Hilfswerk der Siegermächte, der sogenannten UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) anzuschliessen, die bereits 1943 von den USA, der Sowjetunion, Grossbritannien und China gegründet worden war und nach Kriegsende von der Uno übernommen wurde.
Der Bundesrat gibt aus Dankbarkeit den Anstoss
So organisierte die Schweiz selbst im kriegsversehrten Europa humanitäre Hilfe und Wiederaufbauhilfe. Im Dezember 1944 gab der Bundesrat mit der Broschüre «Unser Volk will danken» (Auflage: 1,5 Millionen) den Anstoss für den Zusammenschluss verschiedener Hilfswerke zur sogenannten «Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten». Sie sollte als patriotisches Hilfswerk auch die aussenpolitische Isolierung der Schweiz überwinden helfen. Eine Sammelaktion in der Bevölkerung brachte rund 47 Millionen Franken ein, der Bund steuerte mehr als 300 Millionen Franken bei.
In 18 europäischen Ländern wurden – organisiert und durchgeführt vom Roten Kreuz – verschiedene Hilfsaktionen durchgeführt. So brachte man zum Beispiel tuberkulosekranke Kinder aus Wien zur Erholung nach Davos; in Friedrichshafen und Konstanz bzw. Kreuzlingen versorgte die Schweiz Tausende von Kindern mit Kleidern, Schuhen und Nahrung. Hunderte von 4- bis 10jährigen Kindern kamen mit dem Zug aus Hamburg in die Schweiz, wo sie rundum versorgt wurden.
Linderung und Erholung für die Traumatisierten
Eine besondere Aktion bestand in der Bereitschaft der Schweiz, in dem Angebot an die Alliierten, für ein halbes Jahr 2000 Kinder und Jugendliche aus Konzentrationslagern zur Erholung in der Schweiz aufzunehmen.2 Am 25. Juni treffen 374 zwischen 17- und 25jährige junge Erwachsene in Basel ein und nicht die erwarteten Kinder; denn die meisten von ihnen waren von der SS umgebracht worden, da sie nicht als Arbeitskräfte taugten.
Zuvor sind die Jugendlichen von US-Truppen befreit worden. Nach Buchenwald sind sie erst wenige Monate zuvor gelangt: Die SS hatte sie aus den Konzentrationslagern Auschwitz-Birkenau und Gross-Rosen evakuiert und auf den berüchtigten Todesmärschen gen Westen – unter anderem nach Buchenwald – getrieben, um ihre Befreiung durch die Rote Armee zu verhindern.3
Die weiblichen Jugendlichen werden in einem Heim im waadtländischen Vaumarcus untergebracht, die Jugendlichen männlichen Geschlechts auf dem Zugerberg. Dort treffen sie am 14. Juli 1945 mit der Zugerbergbahn ein. Ihr neues Quartier, das Haus Felsenegg, ist in schlechtem Zustand und muss erst hergerichtet werden, hatte es doch während des Krieges Soldaten als Unterkunft gedient.
Die Kinderhilfe des Roten Kreuzes und die Betreuerinnen vor Ort haben unterschiedliche Vorstellungen vom Erholungsaufenthalt, das heisst davon, wie die Zeit sinnvoll zu verbringen ist, wessen die traumatisierten Jugendlichen am meisten bedürfen. Die Vertreter des Roten Kreuzes halten ein pfadfinderähnliches Programm für das Richtige: Zelten, Lieder singen, Spiele im Freien, Ausflüge usw. Demgegenüber setzen die Betreuerinnen neben liebevoller Zuwendung auf Unterricht und Lernen. Material wie Schulbücher, Stifte und Schreibhefte werden besorgt; Klassen werden gebildet, und ein Stundenplan wird erstellt. Rechnen, Kulturgeschichte, Geographie und Warenkunde stehen u. a. auf dem Stundenplan.4
Mit anrührenden Worten schildert Charlotte Weber, eine der Betreuerinnen, wie sie versucht, den Jugendlichen auch bei der Bewältigung ihrer Alpträume, ihrer Trennung von den Eltern oder sogar deren Verlust beizustehen: «Ich öffne leise die Tür und gehe ans Bett des Jungen, der nun auf einmal ein kleines Kind geworden ist, einsam, verlassen. Ich fahre sacht über sein Haar, suche ein Taschentuch: ‹[...] liebes Kind, weine dich aus›, sage ich leise, oft auch schweige ich und bin bloss da. [...] So gehe ich jeden Abend von Zimmer zu Zimmer, decke einen Schlafenden noch ein wenig besser zu, drücke warme Hände [...]. Es gibt Geplauder, Lachen, ich bekomme Witze zu hören, oft auch ganz traurige Geschichten. Sie nennen mich alle Mutti, spontan und ganz natürlich. Nun habe ich also hundertsieben Kinder!»5
«gezeichnet. Die ‹Buchenwaldkinder› auf dem Zugerberg» – eine Ausstellung
Den Jugendlichen, die dem Konzentrationslager entronnenen waren, bot sich auf dem Zugerberg eine erste Gelegenheit, ihre Erlebnisse dadurch besser zu verkraften oder zu verarbeiten, dass sie darüber sprechen konnten. Die Betreuer ermutigten sie, dies zu tun, und vielen gelangen auch erste Schritte in diese Richtung. Wer nicht sprechen mochte oder konnte, hatte die Möglichkeit zu zeichnen, wovon reger Gebrauch gemacht wurde.
Im Jahr 2018/19 zeigte das Museum Burg Zug – neben persönlichen Gegenständen, Dokumenten, Fotografien, Filmen, Karten usw. – 150 farbige Zeichnungen aus den Nachlässen von Betreuern und Privatpersonen.6 Mit beeindruckender Präzision und Lebendigkeit hielten die jungen Zeichner anschaulich fest, was sie erlebt hatten: Von der Ankunft in Auschwitz, von sportlicher Ertüchtigung im Freien und täglich zu verrichtender harter Zwangsarbeit über die Vergasung von Insassen bis hin zu deren Kremierung. Auch Folterungen und Hinrichtungen wegen Fluchtversuchen wurden detailliert festgehalten. Schliesslich wird auch die Ankunft der Amerikaner und die ersehnte Öffnung von Mauern und Stacheldraht zeichnerisch dargestellt. Die insgesamt 39 Abbildungen umfassende Darstellung des siebzehnjährigen Kalman Landau ist besonders beeindruckend: Sie stellt seinen Weg von der ersten Verhaftung über den Aufenthalt in den verschiedenen Lagern bis hin zur Befreiung und zur Fahrt in unser Land dar: Über grünen Eisenbahnwaggons auf einem Gleis und einer Allee von Laubbäumen prangt der Titel: «Wir fahren nach die Schweiz».
«Schön war draussen …» – das Beispiel von Max Perkal
Einer der Jugendlichen, Max Perkal, wurde 1926 in Polen geboren. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen wird er zusammen mit anderen tausenden Juden in einem Ghetto interniert, bevor er nach Auschwitz deportiert wird. Über das Konzentrationslager Buchenwald führt sein Weg auf den Zugerberg, wo er Charlotte Weber begegnet. In drei blaue Schulhefte schreibt er in einer Mischung aus Jiddisch (seine Muttersprache) und Deutsch und ohne einheitliche Rechtschreibung seine Erlebnisse unter dem Titel «Schön war draussen …» nieder. Am Ende seines Aufenthaltes auf dem Zugerberg übergibt er die Hefte Charlotte Weber, die sich bewusst ist, dass an eine Veröffentlichung erst mal nicht zu denken ist: Verdrängen des Vergangenen, «hinüberzuwechseln aufs andere Ufer durch Verharmlosen, Leugnen».7 – So skizziert sie aus ihrer Sicht die Gemütsverfassung, in der wohl viele waren, die der Hölle entronnen waren. Die beiden treffen sich Anfang der sechziger Jahre in Zürich, 1970 in Jerusalem und 1994 wieder in Zürich, als Charlotte Weber ihr Buch mit dem Titel «Gegen den Strom der Finsternis»8 präsentiert. Zum ersten Mal seit der Niederschrift nimmt Perkal seine Hefte wieder zu Hand.
Er stimmt der Veröffentlichung zu in der Überzeugung, dass er als einer der wenigen Überlebenden, der während des Krieges seine ganze Familie verliert, Zeugnis von den Ereignissen ablegen muss. Der Text schildert die Zeitspanne von der Deportation nach Auschwitz 1943, über den Aufenthalt im Konzentrationslager Birkenau bis zu dem strapaziösen Marsch – einer der berüchtigten Todesmärsche – im Januar 1945 über das Riesengebirge (Polen/Tschechien) ins Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar. Die knappen und zugleich plastischen Schilderungen des Alltags in einem Konzentrationslager enthalten nahezu alles, was an Erniedrigungen, Grausamkeiten und blanker Not zum unerbittlichen Alltag gehörte; sie lassen den Leser nicht so schnell wieder los, zumal immer gegenwärtig ist, dass es sich um die Erlebnisse eines Jugendlichen handelt. Im Titel «Schön war draussen …» spiegelt sich zweierlei: Einmal die Tatsache, dass der Verfasser das Erleben von Naturschönheiten als erquickend empfindet, und zum zweiten, dass ihm die Tatsache sehr nahegeht, dass es den meisten – in erster Linie den jungen Insassen – verwehrt ist, solche Erlebnisse auch in Zukunft immer wieder geniessen zu können: «Schau wie schön es ist draussen, schaut mal, wie schön der Schnee blanckt unter die Sonnenstralen. Werden wir noch wan betreten lebenderheid diesen Boden? Werden wir noch mit unsere Kreften von diese Wangongs aussteigen, oder wird man uns inuntertragen in dem aussehen von Leichen.»9
Die unstillbare Sehnsucht nach Naturerlebnissen, nach den Schönheiten dieser Erde ist es auch, aus der der Autor seinen Überlebenswillen schöpft: «Und dan am Frühling, wan der Schnee wird in Wasser verwandelt werden, sollten meine Knochen für Hunde oder Vogel als Schpeise dinen. Nein, ich will noch Leben, ich mechte noch einmal, wenn der Krieg zu ende sein wird, nach meiner Heimatstadt ungericht [unerwartet] kommen, und meine Feinde, welche denken, das ich schon lengst Tod bin, zeigen, das ich noch lebe.»10 Und er schmiedet Pläne für das Leben nach dem Krieg, nach dem Lager: In seinem Mithäftling Izrael Lewkowicz hat er wieder «einen Bruder» gefunden, mit dem zusammen er das Leben in die Hand nehmen will.11
Erinnerung wachhalten im Dienste des «Nie wieder!»
Es ist das Verdienst von Max Perkal und von Charlotte Weber, dass sie stellvertretend für unzählige andere Flüchtlinge und Flüchtlingshelfer sich bemühten, dass die Erinnerung an das Unrecht, das unzähligen Menschen im Zweiten Weltkrieg und insbesondere in den Konzentrationslagern angetan wurde, nicht vergessen geht. Und sie zeigen eindrucksvoll, dass diesem Unrecht etwas entgegengesetzt werden kann. Auch am Institut Montana (Internationale Schule mit bilingualer Primar- und Sekundarschule, Schweizer Gymnasium sowie International School mit Internat für Mädchen und Jungen), an dem ich viele Jahre als Deutsch- und Geschichtslehrer des Schweizer Gymnasiums tätig war, wird die Erinnerung an diesen Teil seiner Geschichte aufrechterhalten. So kam Max Perkal, der heute in den USA lebt, im Jahre 2008 auf dem Zugerberg auf besondere Weise zu Wort: Im Rahmen einer Veranstaltung des Zuger Kulturvereins Zuger Privileg fand vor Schülern und Lehrern im Felsenegg in der Aula, die damals als Speisesaal diente, eine Lesung mit seinen Aufzeichnungen statt.12
Bis heute fühlt sich die internationale Schule dem Erbe ihres Gründers Max Husmann verpflichtet, der unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs einen Beitrag zum Frieden leisten wollte und unter dessen Mithilfe auch der Aufenthalt der «Buchenwaldkinder» auf dem Zugerberg möglich wurde: Schüler aus vielen Ländern der Erde lernen und leben miteinander und demonstrieren auf diese Weise, dass Völkerverständigung möglich ist und nicht Utopie bleiben muss. •
1 Die Ausführungen zu den Hilfsaktionen der Schweiz stützen sich auf folgende Quellen:
Hug, Peter. «Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten», in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 28.10.2011, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/043513/2011-10-28/; HelveticArchives – die Archivdatenbank der Schweizerischen Nationalbibliothek, Schweizerische Eidgenossenschaft, Stichwort: Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten: Dankesurkunden (1944–1948), https://www.helveticarchives.ch/detail.aspx?ID=222319
2 vgl. Veröffentlichungen des Archivs für Zeitgeschichte ETH Zürich, Band 5, Chronos Verlag, Zürich 2010: Lerf, Madeleine. «Buchenwaldkinder» – eine Schweizer Hilfsaktion. Humanitäres Engagement, politisches Kalkül und individuelle Erfahrung, https://www.afz.ethz.ch/publikationen/schriftenreihe/buchenwaldkinder
3 vgl. Schmutz, Barbara. «Was man erlebt hat, bleibt im Kopf drin», in: Zuger Neujahrsblatt 2008, hrsg. von der Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons Zug, Zug 2008, S. 73, http://www.zugerneujahrsblatt.ch/_uploads/Archiv_ZNJB/Zuger_Neujahrsblatt_2008.pdf
4 vgl. ebd. S. 77
5 ebd.
6 vgl. hierzu den Beitrag von: Schweizer Kulturfernsehen im Netz: Museum Burg Zug, Gezeichneter Holocaust, publiziert am 16. Januar 2019, https://www.arttv.ch/mehr/museum-burg-zug-gezeichneter-holocaust
7 Weber, Charlotte. Die Hefte von Max Perkal. in: Perkal, Max: Schön war draussen … Aufzeichnungen eines 19jährigen Juden aus dem Jahr 1945, Zürich 1995 (Chronos Verlag), S. 66
8 Weber, Charlotte. Gegen den Strom der Finsternis. Als Betreuerin in Schweizer Flüchtlingsheimen 1942–1945, Zürich 1994 (Chronos Verlag)
9 Perkal, Max. Schön war draussen … Aufzeichnungen eines 19jährigen Juden aus dem Jahr 1945, Zürich 1995 (Chronos Verlag), S. 51, Rechtschreibung und Wortschatz des Originals
10 ebd. S. 50
11 ebd. S. 39
12 vgl. Pogorzelski, Winfried. Aus der Hölle Buchenwald auf den Zugerberg, Lesung aus den Aufzeichnungen des 19jährigen Juden Max Perkal in der Aula, in: Montana Blatt Nr. 179, Zugerberg 2008, S. 8
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