von Karin Leukefeld
Wer etwas über die deutsche und europäische Aussenpolitik in Sachen Syrien erfahren möchte, sollte die Debatten im UN-Sicherheitsrat verfolgen. Der Sicherheitsrat ist das höchste politische Entscheidungsgremium der Vereinten Nationen, in dem fünf Staaten – Russland, China, Frankreich, Grossbritannien, USA – dauerhaft vertreten sind und über ein Veto-Recht verfügen. Weitere zehn Staaten haben jeweils für zwei Jahre einen Sitz als nicht-ständige Mitglieder. Deutschland ist seit 2019 als nicht-ständiges Mitglied noch bis Ende 2020 im Sicherheitsrat vertreten.
Die meisten Mitgliedsstaaten bemühen sich entsprechend der Bedeutung des Sicherheitsrates, ihre Aufgabe ernstzunehmen. Sie verhalten sich respektvoll und appellieren an die Solidarität und Einheit des Sicherheitsrates, um Lösungen für die zahlreichen internationalen Kriege und Krisen zu finden.
Die sogenannten P3 (Permanent 3) Frankreich, Grossbritannien und die USA liefern allerdings immer häufiger ein unwürdiges Schauspiel. Läuft die Debatte nicht so, wie man es sich in den westlichen Hauptstädten vorstellt, treten die Uno-Botschafter mit verteilten Rollen auf, um diejenigen, die andere Positionen vertreten, zu beeinflussen oder offen zu beleidigen. Dann geht es nicht um Inhalte, sondern darum, wie man den anderen demütigen, vorführen, behindern und dessen Anliegen verhindern kann. Seit Jahren und insbesondere seit Beginn des Krieges in Syrien ist das Lieblingsziel der P3 Russland.
«Um den Druck auf Russland zu erhöhen, wenn es das Regime nicht ausliefert, wie wir es erhoffen, sollten wir fortsetzen, was wir bereits tun», heisst es in einem bekannt gewordenen Protokoll der «Kleinen Syrien-Gruppe», die sich auf Einladung von David Satterfield, Staatssekretär für Nahostfragen im US-Aussenministerium, am 11. September 2018 in Washington traf. «Die schreckliche humanitäre Lage und Russlands Mittäterschaft bei der Bombenkampagne auf zivile Ziele hervorheben», notierte der britische Protokollführer.
Der kleinen Syriengruppe gehörten damals die sogenannten P3 USA, Grossbritannien, Frankreich sowie Saudi-Arabien und Jordanien an. Kurz darauf erweiterte sich die Gruppe um Deutschland und Ägypten. Dieser «Ritterschlag» dürfte die Haltung des deutschen UN-Botschafters und seiner Vertreter beim Thema Syrien im UN-Sicherheitsrat erklären. Der «deutsche Mann» bei der Uno heisst Christoph Heusgen und war zwölf Jahre lang der aussenpolitische Berater und internationale Krisenmanager von Angela Merkel im Kanzleramt. 2017 wechselte er als Botschafter zu den Vereinten Nationen in New York. Heusgen und seine Vertreter lassen im UN-Sicherheitsrat keine Gelegenheit aus, «Russlands Mittäterschaft» in Syrien anzuprangern.
Jüngstes Beispiel war die 8764. Sitzung des UN-Sicherheitsrates am 5. Oktober 2020 in New York.
Eine Lektion Diplomatie
Auf der Tagesordnung stand das Thema «Fortschritt bei der Zerstörung der syrischen Chemiewaffenbestände» entsprechend der UN-Sicherheitsratsresolution 2018. Als Berichterstatterin war die UN-Beauftragte für Abrüstung, Frau Izumi Nakamitsu, eingeladen, die ihren Bericht vortrug. Als weiteren Redner hatte die Russische Föderation, die im Oktober den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat hat, den ersten Generaldirektor der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OVCW), José Bustani, eingeladen.
Damit sei man nicht einverstanden, erklärte der britische UN-Botschafter Jonathan Allen in einer Entgegnung. «Zusammen mit Belgien, Estland, Deutschland und den USA erheben wir Einspruch gegen diesen Redner», so Allen. Wer zum Thema der Sitzung «Fortschritte bei der Vernichtung der syrischen Chemiewaffenbestände» reden solle, müsse «eine Bedeutung haben und sich mit dem Thema auskennen». Beides sei bei Bustani nicht der Fall, obwohl er ein herausragender Diplomat sei. Er habe aber schon viele Jahre, bevor das Thema der syrischen Chemiewaffen im Sicherheitsrat behandelt worden sei, die OVCW verlassen und sei nicht in der Lage, «bedeutende, sachkundige Informationen» zum Thema beizutragen. Daher solle über den Vorschlag abgestimmt werden.
Es folgten 20 Minuten Schlagabtausch darüber, ob José Bustani sprechen solle oder nicht. Grossbritannien, Frankreich und Deutschland negierten dabei die Position, in der der russische Botschafter Nebenzia die Einladung ausgesprochen hatte. Bustani war vom Vorsitzenden des Sicherheitsrates eingeladen worden, was nach Artikel 39 der provisorischen Geschäftsordnung auch sein Recht ist. Die britisch-französisch-deutsche Ablehnungsfront attackierte hingegen den Vorsitzenden als Vertreter der Russischen Föderation. Nebenzia wechselte bei seinen Entgegnungen wiederholt von seiner Rolle als Vorsitzender des UN-Sicherheitsrates in die Rolle des russischen UN-Botschafters, was von den Botschaftern Grossbritanniens, Frankreichs und Deutschland genüsslich immer weiter provoziert wurde.
Der chinesische UN-Botschafter Geng Shuang verteidigte die Entscheidung des Vorsitzenden als legitim und erklärte, er verstehe den britischen Vorschlag nicht. «Als ehemaliger Direktor der OVCW verfügt Herr Bustani über einen grossen Erfahrungsschatz, einzigartigen Einblick und Kenntnis über die Arbeitsweise und Vorgänge der OVCW.» Zudem habe Herr Bustani Wissen über chemische Waffen und eigne sich daher sehr wohl als Redner zu dem Thema. Der Sicherheitsrat habe schon oft Redner eingeladen, von denen einige bei weitem weniger professionell und erfahren gewesen seien als José Bustani. Das Verhalten Grossbritanniens sei bedauerlich, so Geng Shuang. Er schlug vor, den britischen Vorschlag zur Abstimmung zu stellen.
Grossbritannien wiederum betonte, der Vorsitzende habe den Redner (Bustani) eingeladen und müsse nun darüber abstimmen lassen. Entweder er ziehe seinen Vorschlag zurück oder er brauche neun Stimmen, die sich für den Redner aussprächen.
Der russische Vorsitzende, UN-Botschafter Wassili Nebenzia, schlug vor, über den Satz abzustimmen: «Wer ist dagegen, José Bustani heute sprechen zu lassen?» Der britische Botschafter Allen hielt dagegen. Die Russische Föderation habe den Redner eingeladen und solle darüber abstimmen lassen, wer diese Einladung unterstütze.
Der chinesische Botschafter Geng Shuang kritisierte, dass Grossbritannien und die anderen Vertreter den Vorsitzenden herausforderten. Er habe in seiner Eigenschaft als Präsident des Sicherheitsrates das Recht, einen Redner einzuladen. Wenn abgestimmt werden solle, dann über den Antrag Grossbritanniens.
Der französische UN-Diplomat Nicolas De Riviere verwies auf das «Standardformat» für die Behandlung des Themas. Danach befasse sich der Sicherheitsrat jeden Monat mit den syrischen Chemiewaffen, und alle seien damit zufrieden. Russland habe ja ausserhalb des Sicherheitsrates Arria-Treffen organisiert, wo es seine Gäste ausgewählt habe. Dort könne ja auch Herr Bustani sprechen. Im Sicherheitsrat müsse Russland darüber abstimmen lassen, ob man Bustani hören wolle.
Der deutsche UN-Botschafter Heusgen erinnerte den russischen Vorsitzenden an eine Begebenheit aus dem Jahr 2018. Damals habe Russland ein Treffen des Sicherheitsrates zum Thema «Menschenrechte in Syrien» verhindert, bei dem der Hohe Kommissar für Menschenrechte sprechen sollte. «Ein Skandal» sei das gewesen, so Heusgen. Nun drehe man den Spiess um.
Der chinesische UN-Botschafter schliesslich warf Grossbritannien und den anderen vor, «mit zweierlei Mass» zu messen. «Warum können andere Redner eingeladen werden, nicht aber Herr Bustani?» Grossbritannien und «die anderen Kollegen» wollten offenbar «keine anderen Ansichten hören». «Sie sagen zwar, sie sind objektiv, aber das ist nicht der Fall.»
Der Vorsitzende Botschafter Nebenzia liess abstimmen: Für die Einladung von Herrn Bustani, dagegen und Enthaltungen. Dabei entschieden sich drei Vertreter für Bustani (Russland, China, Südafrika), sechs waren dagegen (USA, Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Belgien, Estland) und sechs enthielten sich (Dominikanische Republik, Vietnam, Indonesien, Niger, Tunesien, St. Vincent und die Grenadinen). José Bustani war ausgeladen, ein Skandal.
Warum sollte José Bustani im UN-Sicherheitsrat nicht sprechen?
Vermutlich ungewollt hatte der deutsche UN-Botschafter mit seiner Gegnerschaft zu der Einladung des Vorsitzenden einen deutlichen Hinweis auf den Hintergrund der Ablehnungsfront aus P3 + Deutschland + Belgien + Estland geliefert.
Das Treffen im März 2018, auf das Heusgen sich bezog – vermutlich nach Absprache mit Grossbritannien, Frankreich und den USA – war damals von Frankreich und sieben anderen Staaten gefordert worden. Russland hatte eine Abstimmung über die Tagesordnung, nicht über den Hohen Kommissar für Menschenrechte, gefordert. Bei der Abstimmung erhielt Frankreich für seinen Vorschlag nicht die erforderlichen neun, sondern nur acht Stimmen (Frankreich, Kuwait, Niederlande, Peru, Polen, Schweden, UK, USA). Vier Länder stimmten gegen das Treffen (Bolivien, China, Kasachstan, Russische Föderation) und drei Länder enthielten sich (Elfenbeinküste, Äquatorialguinea und Äthiopien).
Ganz im Kontext der kurz zuvor zusammengetroffenen «Kleinen Syriengruppe» wollte Frankreich das Thema «Menschenrechte» im UN-Sicherheitsrat vorbringen, um «die schreckliche humanitäre Lage und Russ-lands Mittäterschaft bei der Bombenkampagne auf zivile Ziele hervorzuheben», wie es laut Protokoll vereinbart worden war. Im März 2018 ging es um die Gebiete östlich von Damaskus. Dort waren die bewaffneten Gruppen (Jaish al Islam, Ahrar al-Sham, Al Rahman Legion, Tahrir al Sham, Free Syrian Army und Jaish al Umma) im östlichen Umland von Damaskus (Ghouta) unter schweren Druck geraten, und ihr Abzug wurde verhandelt. Zivilisten wurden aus Duma und anderen Vororten evakuiert. Nachdem sie dem Abzug nach Idlib, Al Bab und Jarabulus, nördlich von Aleppo an der Grenze zur Türkei, zugestimmt hatten, brach innerhalb von Jaish al Islam angeblich ein Streit aus und erneut wurde Damaskus beschossen.
Da die Autorin zu dem Zeitpunkt selber vor Ort war, erinnert sie sich daran und auch, dass die syrische Armee zurückfeuerte. Die erneuten Gefechte dauerten nur einen Tag. Am nächsten Tag, am 7. April 2018, hiess es seitens der umstrittenen Organisation Weisshelme, die syrische Armee habe Giftgas in Duma eingesetzt.
Syrien wies das zurück und forderte die Entsendung von Inspektoren der OVCW, um die Vorwürfe zu untersuchen. Die USA, Grossbritannien und Frankreich machten umgehend die syrische Armee verantwortlich und bombardierten «aus Vergeltung für den Chemiewaffenangriff auf Duma» Syrien am 14. April 2018. Deutschland begrüsste die Angriffe. Das OVCW-Inspektorenteam war zu diesem Zeitpunkt in Beirut, auf dem Weg nach Damaskus.
Inspektoren aus dem Team berichteten 2019, es habe vermutlich keinen Chemiewaffen-Angriff der syrischen Armee in Duma gegeben. Unter anderem seien die Zylinder, mit denen angeblich das Giftgas transportiert worden sein soll, möglicherweise per Hand dort plaziert worden, wo man sie fand. Sie forderten intern Gehör und eine Auseinandersetzung über ihre Untersuchungen und das, was später in dem bearbeiteten Duma-Abschlussbericht der OVCW zu lesen war. Sie wurden nicht gehört, sondern statt dessen denunziert.
Nachdem ihre Erkenntnisse öffentlich wurden, leitete die OVCW eine Untersuchung gegen sie ein.
Bustani: In Sorge über die OVCW
Genau darüber, über die OVCW-Untersuchung in Duma und den offiziellen Abschlussbericht, wollte José Bustani sprechen. Der erste Generaldirektor der OVCW, und in gewisser Weise auch ihr Architekt, war von 1997–2002 im Amt. Kurz vor dem Einmarsch der USA und ihrer Alliierten in den Irak (2003) wurde Bustani «nach einer von den USA initiierten Kampagne im Jahr 2002» seines Amtes enthoben, erläutert er in der Stellungnahme an den UN-Sicherheitsrat: «Ironischerweise, weil ich versucht hatte, das Chemiewaffenübereinkommen durchzusetzen.»
Er sei «sehr stolz auf die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Professionalität ihrer Inspektoren» gewesen, so Bustani über die OVCW. «Kein Vertragsstaat sollte als über den anderen stehend betrachtet werden. Das Markenzeichen der Arbeit der Organisation war die Gleichbehandlung aller Mitgliedsstaaten unabhängig von ihrer Grösse, ihrer politischen Macht oder ihrem wirtschaftlichen Einfluss.»
Nun allerdings gebe es Hinweise, dass gerade das «nachhaltig beeinträchtigt» worden sei, «möglicherweise unter dem Druck einiger Mitgliedsstaaten». Die Umstände, «unter denen die OVCW die Untersuchung des angeblichen Chemiewaffenangriffs in Duma, Syrien, am 7. April 2018 durchgeführt hat», seien für ihn als ehemaligen Generaldirektor beunruhigend. «Diese Besorgnis kommt aus dem Innersten der Organisation, von den Wissenschaftlern und Ingenieuren, die an der Untersuchung in Duma beteiligt waren.» Er sei im Herbst 2019 zu einem Treffen mit einem der beteiligten Inspektoren eingeladen worden, wo Zeugenaussagen und Beweise vorgelegt worden seien. Was er gesehen und gehört habe, sei so beunruhigend gewesen, dass er bereits damals eine öffentliche Erklärung abgegeben habe, sagte Bustani in seiner ungehaltenen Rede vor dem UN-Sicherheitsrat. Mit anderen Persönlichkeiten aus aller Welt habe er sich für die Anhörung der Inspektoren zur Duma-Untersuchung eingesetzt. Die OVCW habe auf die wachsende Kontroverse um den Duma-Abschlussbericht nicht reagiert. «Hinter einer unüberwindbaren Mauer aus Schweigen und Intransparenz» habe die Organisation sich verschanzt, Dialog sei nicht möglich gewesen.
Die Arbeit der OVCW aber müsse transparent sein, so Bustani. «Ohne Transparenz gibt es kein Vertrauen, und Vertrauen ist das, was die OVCW zusammenhält.» Persönlich wandte sich der brasilianische Diplomat dann an seinen Nachfolger, Generaldirektor Fernando Arias:
«Die Inspekteure gehören zu den wertvollsten Gütern der Organisation. Als Wissenschaftler und Ingenieure sind ihre Fachkenntnisse und ihre Beiträge für eine gute Entscheidungsfindung unerlässlich. Am wichtigsten ist jedoch, dass ihre Ansichten nicht von der Politik oder nationalen Interessen beeinflusst werden. Sie verlassen sich nur auf die Wissenschaft. Die Inspektoren der Duma-Untersuchung haben eine einfache Bitte: Sie wollen die Möglichkeit erhalten, sich mit Ihnen zu treffen, um Ihnen ihre Bedenken persönlich in einer sowohl transparenten als auch verantwortlichen Weise mitzuteilen.»
Das sei das Minimum, das sie auch erwarten könnten, so Bustani.
«Unter grossem Risiko für sie selbst haben sie es gewagt, sich gegen mögliches irreguläres Verhalten in Ihrer Organisation auszusprechen. Und es liegt zweifellos in Ihrem, im Interesse der Organisation und im Interesse der Welt, dass Sie sie anhören.»
Die Inspektoren behaupteten nicht, Recht zu haben, sie wollten eine faire Anhörung.
«Von Generaldirektor zu Generaldirektor bitte ich Sie höflichst, ihnen diese Möglichkeit einzuräumen. Wenn die OVCW Vertrauen in die Verlässlichkeit ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu Duma und in die Integrität der Untersuchung hat, dann hat sie bei der Anhörung ihrer Inspektoren wenig zu befürchten. Wenn jedoch die Behauptungen der Zensur von Beweisen, der selektiven Verwendung von Daten und des Ausschlusses wichtiger Ermittler, neben anderen Behauptungen, nicht unbegründet sind, dann ist es um so dringender erforderlich, dass die Angelegenheit offen und prioritär behandelt wird.»
Die OVCW habe die Möglichkeit, sich selbst zu korrigieren, so Bustani abschliessend.
«Die Welt braucht einen glaubwürdigen Kontrolleur für chemische Waffen. Wir hatten einen, und ich bin zuversichtlich, Herr Arias, dass Sie dafür sorgen werden, dass wir wieder einen haben werden.»
Soweit die Rede von José Bustani. Warum aber wollten Grossbritannien, Frankreich, die USA und Deutschland das nicht hören? Weil Aussagen der Inspektoren darauf hindeuten, dass es mindestens einer dieser Staaten war, der sogar durch die Entsendung einer Delegation an den OVCW-Sitz in Den Haag direkt bedrohlichen Druck auf die Inspektoren ausübte. «Sie stellten sich nicht vor, sondern warfen eine Broschüre auf den Tisch und sagten: Das ist der Duma-Bericht, so war es», erinnerte sich «Alex», einer der Inspektoren bei einem Treffen im Oktober 2019, an dem die Autorin teilnahm.
Deutschland ist der drittgrösste Geldgeber der OVCW und noch bis 2021 Mitglied im Exekutivrat. Das Verhalten und der Druck gegenüber den Inspektoren des Duma-Teams dürfte Deutschland nicht entgangen sein. Dennoch hält es – wider besseren Wissens, könnte man unterstellen – den «Permanent 3» die Treue. Warum?
Die Heuchelei
Noch einmal zurück zur deutschen Diplomatie im Sicherheitsrat. Nach dem Bericht der Abrüstungsbeauftragten Izumi Nakamitsu nutzte der Vorsitzende Botschafter Nebenzia – in seiner nationalen Eigenschaft als russischer UN-Botschafter – die Aussprache über den Bericht dafür, den Beitrag von José Bustani vollständig zu verlesen.
Der britische UN-Botschafter Allen beschwerte sich. Der Präsident habe den Mitgliedern des Sicherheitsrates seine Verachtung gezeigt. Er habe einen Redner eingeladen, der bei der Abstimmung keine Mehrheit erhalten habe. Dennoch habe er (der Präsident) die Entscheidung des Sicherheitsrates ignoriert. Es sei aber «vielleicht keine Überraschung, dass Russland die Regeln ignoriert, von denen es will, dass andere sie einhalten».
Auch Frankreich und die USA kritisierten den russischen UN-Botschafter Nebenzia in gewohnter, harter Weise, bevor sie sich zu dem Sachstandsbericht der Abrüstungsbeauftragten Izumi Nakamitsu äusserten. Dann meldete sich der deutsche UN-Botschafter Heusgen zu Wort und sprach den vorsitzenden russischen Botschafter direkt an.
«In Ihrer Einführung und dem langen Zitat sagten Sie, diejenigen, die die Anwesenheit von Herrn Bustani in Frage stellten, brächten ‹Schmach und Schande über den Sicherheitsrat›»,
eröffnete der Botschafter seine Attacke, die hier vollständig in Übersetzung wiedergegeben werden soll:
«Lassen Sie mich fragen, wer hat Schmach und Schande über den Sicherheitsrat gebracht? Waren es die zwölf Staaten, die nicht mit Ihnen stimmten und versuchten, einen ehemaligen OVCW-Beamten zu verhindern, der nicht in der Lage war, relevante Informationen zu liefern? Oder waren es Russland und China? […] Russland und China verhinderten, dass [der Hohe Kommissar für Menschenrechte] Zeid Al Hussein im Sicherheitsrat sprechen konnte, das brachte Schmach und Schande über den Sicherheitsrat.
Wer brachte Schmach und Schande über den Sicherheitsrat? Waren es die 13 Länder am Tisch, die sich im Juli für die Öffnung von drei grenzüberschreitenden Öffnungen in Nordsyrien aussprachen, um humanitäre Hilfe in das Land zu bringen? Oder waren es China und Russland, die dagegen ihr Veto einlegten und, nach Angaben von Unicef, 500 000 Menschenleben damit in Gefahr brachten, einschliesslich das vieler Kinder?
Wer bringt Schmach und Schande über den Sicherheitsrat? Sind es die Mitglieder, die sich an die Chemiewaffenkonvention halten, oder ist es Russland, das 2018 einen Cyber-Angriff auf die OVCW in Den Haag durchführte?
Wer bringt Schmach und Schande über den Sicherheitsrat? Sind es die Mitglieder der internationalen Gemeinschaft, die die Chemiewaffenkonvention verteidigen und den Einsatz von chemischen Waffen verhindern? Oder ist es Russland, das chemische Waffen sogar gegen die eigenen Bürger einsetzt – gegen Herrn Nawalny, gegen Herrn Litvinenko, gegen Herrn Skripal und seine Tochter?
Wann werden wir jemals von Ihnen, in Ihrer russischen Kapazität, ein Wort der Trauer über die Opfer von Chemiewaffenangriffen auf die syrische Bevölkerung hören? Mehr als 1000 Menschen starben. Wann werden wir ein Wort der Trauer über die Opfer des Assad-Regimes hören, über die, die Zeugen im Verfahren in Koblenz beschrieben haben – Tausende und Abertausende Menschen wurden in den Gefängnissen von Assad ermordet und in Massengräbern beerdigt. Wann werden wir ein Wort der Trauer von Ihnen darüber hören? Wann werden Sie endlich unterstützen, dass das syrische Regime für diese Verbrechen zur Verantwortung gezogen wird und dadurch die Versöhnung stattfinden kann, die wir dringend brauchen?»
Voller Eifer, Russland und China an den Pranger zu stellen und wegen allen Übels in Syrien anzuklagen, vergass der deutsche Botschafter allerdings, warum er eigentlich an diesem Tag im Sicherheitsrat sass. Den Bericht der UN-Abrüstungsbeauftragten Izumi Nakamitsu erwähnte Heusgen mit keinem Wort.
Darauf wies der chinesische Botschafter Geng Shuang hin. Er bedauere sehr, dass Herr Bustani daran gehindert worden sei, im Sicherheitsrat zu reden und dass verschiedene Länder, auch Deutschland, ihn blockiert hätten, so der Vertreter Chinas. Das mache die ganze Heuchelei dieser Länder deutlich, die nur hören wollten, was sie selber zu sagen hätten.
«Gerade eben hat der deutsche Vertreter nicht einmal die Frage der chemischen Waffen in Syrien erwähnt»,
so Geng Shuang weiter. Die Erklärung habe
«ausschliesslich aus Angriffen gegen andere Mitglieder des Sicherheitsrates bestanden».
Der deutsche Vertreter habe den Sicherheitsrat wie eine Bühne benutzt, um seine Stimmungen und Unzufriedenheit vorzutragen. So ein Verhalten sei nicht konstruktiv.
«Der britische Vertreter hat zwar seinen Unmut zum Ausdruck gebracht, anschliessend aber seine Position zum Bericht über den Stand der chemischen Waffen in Syrien vorgetragen. Wenn aber in Zukunft die Mitglieder des Sicherheitsrates herkommen, nicht um zu diskutieren, sondern um andere Länder anzugreifen, wie sollen wir dann noch über Solidarität und Arbeit im Sicherheitsrat sprechen?» •
Erstveröffentlichung: www.nachdenkseiten.de vom 10.10.2020, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Nachdenkseiten.
ef. Die freie Journalistin Karin Leukefeld wurde 1954 in Stuttgart geboren und studierte Ethnologie, Islam- und Politikwissenschaften. Seit dem Jahr 2000 berichtet sie aus dem Nahen und Mittleren Osten für Tages- und Wochenzeitungen sowie für den ARD-Hörfunk. 2010 wurde sie in Syrien akkreditiert und informiert seither von vor Ort über den Syrien-Konflikt. Seit Beginn des Krieges 2011 pendelt sie zwischen Damaskus, Beirut und anderen Orten in der arabischen Welt und ihrem Wohnort Bonn. Sie hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, u. a.: «Syrien zwischen Schatten und Licht – Geschichte und Geschichten von 1916–2016. Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land» (2016, Rotpunkt Verlag Zürich); «Flächenbrand Syrien, Irak, die Arabische Welt und der Islamische Staat» (2015, 3. überarbeitete Auflage 2017, PapyRossa Verlag Köln). In Kürze erscheint von ihr «Im Auge des Orkans: Syrien, der Nahe Osten und die Entstehung einer neuen Weltordnung» (2020, PapyRossa Verlag Köln).
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