Deutschland, die EU und Russland – eine Kakophonie?

von Karl-Jürgen Müller

Die deutsche Russlandpolitik, aber auch die der EU, ist hin und her getrieben zwischen ureigenen Interessen, traditionellen Bindungen, fremden, vor allem angelsächsischen Ansprüchen und Feindbild-Ideologien. Das zeigt sich immer wieder und immer stärker. Deutschland und die EU verlieren so zunehmend an Glaubwürdigkeit und friedensfördernder Gestaltungskraft. Dies belegen auch die jüngsten Entwicklungen.

Gerhard Schröder hat in seiner Amtszeit als deutscher Bundeskanzler vieles getan, was kritikwürdig ist – so war er im Frühjahr 1999 für die deutsche Beteiligung am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Nato gegen die Bundesrepublik Jugoslawien verantwortlich. Er hat aber auch Widerspruch gegen einen Krieg geäussert – bei seinem Nein zu einer direkten deutschen Beteiligung am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA und ihrer «Koalition der Willigen» gegen den Irak im Frühjahr 2003. Damals versuchte er, zusammen mit dem französischen Staatspräsidenten Jaques Chirac und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, diesen Krieg zu verhindern – man sprach von einer «Achse Paris-Berlin-Moskau»1. Der US-amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld schuf damals die Begriffe «altes» und «neues» Europa und meinte mit dem «alten» die Kriegsgegner und mit dem «neuen» die Kriegsbefürworter.

Gerhard Schröder, der Jugoslawien-Krieg und die Nawalny-Kampagne

Blickt man heute auf die Regierungen der europäischen Nato-Staaten, so sieht man vor allem, dass es kein «altes» Europa mehr gibt. Der ehemalige Bundeskanzler Schröder hat hingegen mit mindestens zwei Anmerkungen einen eigenen Weg beschritten. Im März 2014, als alle Nato-Staaten Russland vorwarfen, die Halbinsel Krim «völkerrechtswidrig» besetzt zu haben, warnte Schröder in einer Veranstaltung der Wochenzeitung Die Zeit2 vor dem erhobenen Zeigefinger. Er selbst habe als deutscher Kanzler bei einem völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien mitgemacht. Schröder hatte Recht damit. Reaktionen darauf gab es nur wenige.
  Nun hat er sich in der Nawalny-Kampagne erneut zu Wort gemeldet, erneut vor voreiligen Schlüssen und Massnahmen gewarnt und gesagt: «Was gegenwärtig gemacht wird, sind ja wesentlich Spekulationen, weil … gesicherte Fakten gibt es ja nicht.»3 Auch damit hat Schröder Recht. Selbst der SPD-Politiker Gernot Erler, der Schröder für seine Äusserungen scharf kritisierte, formulierte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 8. Oktober: «Wenn man rein rechtlich das betrachtet, rein juristisch, ist das zutreffend …», um dann allerdings gleich hinzuzufügen: «… aber natürlich nicht politisch.» Was Erler damit genau gemeint hat, blieb im dunklen. Nur soviel konnte man erahnen: Der russische Präsident Putin soll «politisch» verantwortlich sein, wenn irgend jemand eine giftige Substanz einsetzt, deren Herkunft man staatlichen Stellen in Russland unterstellt. Dabei war schon im Rahmen der Untersuchungen zur Skripal-Kampagne im Jahr 2018 bekannt geworden, dass sehr wahrscheinlich nicht nur die Sowjetunion (und dann Russland) im Besitz von Giften der Nowitschok-Gruppe waren (sind), sondern auch Geheimdienste anderer Staaten.4
  Wie dem auch sei: Sucht man bei Google nach dem, was Gerhard Schröder eigentlich gesagt hat, dann tut man sich schwer damit, fündig zu werden; denn die ersten zehn Google-Seiten (und noch mehr) sind voll von den nach dem 1. Oktober erfolgten, sehr scharfen und polemischen Angriffen auf Altkanzler Schröder («Schröder ist ein Laufbursche Putins, der Mörder beschützt»5) – ein regelrechter «shitstorm».

An George Friedman erinnern

Pro memoria: George Friedman, der ehemalige Direktor des US-amerikanischen privaten Geheimdienstes Stratfor, hatte bei einem Vortrag im Februar 2015 beim Chicago Council on Global Affairs gesagt: «Das Hauptinteresse der US-Aussenpolitik während des letzten Jahrhunderts, im Ersten und Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg, waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland; denn vereint sind sie die einzige Macht, die uns bedrohen kann. Unser Hauptinteresse war, sicherzustellen, dass dieser Fall nicht eintritt.»6 Da stört eine Stimme wie die von Gerhard Schröder. Die Vortragspassagen von George Friedman sind weithin bekannt, sie sollten aber immer mal wieder in Erinnerung gerufen werden.
  Immer wieder wird bis heute versucht, die deutsche Politik an das «Hauptinteresse der US-Aussenpolitik» anzupassen. Zeitungsartikel wie der in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 8. Oktober 2020 mit dem Titel «Die deutsche Russlandpolitik auf dem Prüfstand» haben nicht zuletzt die Aufgabe, genau in diese Richtung zu arbeiten. So, wenn es heisst: «Diplomaten in Berlin erklären im Vertrauen, dass die Bundeskanzlerin nun nach 15 Jahren ‹vor dem Scherbenhaufen einer zu vertrauensseligen deutschen Russland-Politik› stehe. Bei der Präsentation einer Studie der Münchner Sicherheitskonferenz wurde unlängst die Forderung laut, Deutschland müsse sich endlich von den ‹Lebenslügen› seiner Aussenpolitik verabschieden und zu einer eindeutigeren und kohärenteren Russlandpolitik finden.» So sollen Fakten geschaffen werden.

Wie hoch soll die neue Mauer werden?

Deutschland soll seine Beziehungen zum Nachbarn Russland verschlechtern, soll rund 30 Milliarden Euro mehr jährlich für die Rüstung ausgeben (schon heute sind es mehr als 45 Milliarden Euro), der Druck wird stärker, zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für das Militär auszugeben. Seit nunmehr 20 Jahren wird Schritt für Schritt daran gearbeitet, erneut eine undurchlässige Mauer zwischen West und Ost zu errichten. Der Plan wurde Ende April 2000 in der slowakischen Hauptstadt Bratislawa formuliert.7
  Am 12. Oktober 2020 hat der Rat der EU-Aussenminister wegen des Falles Nawalny neue Sanktionen gegen Russland, wie es heisst, «auf den Weg gebracht». Der Rat sei Vorschlägen des französischen und des deutschen Aussenministers gefolgt. Diese beiden Politiker begründeten den Schritt damit, so hiess es am 12. Oktober bei der öffentlich-rechtlichen tagesschau.de, «dass Russland Aufforderungen zu einer lückenlosen Aufklärung der Tat bislang nicht nachgekommen sei. Bislang sei von Russland keine glaubhafte Erklärung zu dem grausamen Mordversuch geliefert worden […]. Daher sei man der Ansicht, ‹dass es keine andere plausible Erklärung für die Vergiftung von Herrn Nawalny gibt als eine russische Beteiligung und Verantwortung›». Das ist eine aus rechtsstaatlicher Sicht skandalöse Begründung.

Sanktionszirkus

Interessant ist indes, dass dies allein den Formulierungen aus dem deutschen und dem französischen Aussenministeriums entspricht. Das offizielle Beschlussdokument des Rates der EU-Aussenminister vom 12. Oktober formulierte lediglich knapp: «Es gab auch politische Übereinstimmung darin, die [deutsch-französische] Initiative voranzubringen, die Sanktionen gegen diejenigen vorschlägt, die mit dem Mordversuch an Alexej Nawalny in Verbindung stehen.» Etwas anders als tagesschau.de klang am 12. Oktober die öffentlich-rechtliche Deutsche Welle. Dort hiess es nämlich: «Deutsche EU-Diplomaten hoffen, dass mit dem jüngsten Beschluss [der EU-Aussenminister] auch der Druck auf die Bundesregierung nachlässt, das deutsch-russische Pipelineprojekt Nord Stream 2 in der Ostsee zu stoppen.» Die Bundesregierung halte nämlich «an ihrer Auffassung fest, dass dieses Wirtschaftsprojekt nichts mit der Vergiftung eines Oppositionellen zu tun habe». Der EU-Aussenbeauftragte Joseph Borell wird mit den Worten zitiert, man könne «nicht die ganze Weltsicht auf dieses unglückliche Ereignis mit Alexej Nawalny reduzieren». Dann wird Borell noch in indirekter Rede zitiert: «Die EU werde weiter mit Russland zusammenarbeiten müssen, weil Moskau in vielen Konflikten eine wichtige Rolle spiele.»
  Nichtsdestoweniger hat die EU am 14. Oktober ihre Sanktionspläne gegen Russland konkretisiert. Ein paar wenige Russen, vor allem Mitarbeiter des Sicherheitsapparates, sollen mit Einreiseverboten in die EU und Vermögenssperren belegt werden. Ausserdem soll das staatliche russische Forschungsinstitut für organische Chemie und Technologie sanktioniert werden. Von ihm, so wird behauptet, soll das bei Nawalny festgestellte Gift stammen. Erneut heisst es aber auch, dieses Mal bei tagesschau.de: «Vor allem die Bundesregierung hat bei dem Sanktionsbeschluss auf das Tempo gedrückt, nicht zuletzt, weil sie sich davon ein Ende der Debatte um die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2 erhofft.»
Der russische Aussenminister Sergej Lawrow, so hiess es dort ebenso, habe Gegensanktionen zu denen der EU angekündigt. Dies sei Praxis in der Diplomatie, sagte Lawrow. Lawrow warf den deutschen Behörden erneut vor, keine Beweise für eine Vergiftung Nawalnys vorgelegt zu haben. Damit verstosse das Land gegen internationale Rechtsvorschriften. Zuvor hatte Lawrow die EU bereits vor einer zeitweiligen Beendigung des Dialogs gewarnt. Die für die Aussenpolitik in der EU verantwortlichen Amtsträger verstünden nicht die Notwendigkeit eines von gegenseitiger Wertschätzung geprägten Gesprächs. «Vielleicht sollten wir für eine Zeit einfach aufhören, mit ihnen zu sprechen», so Lawrow.  •


1 Drei Jahre später hiess es dann über die neue Kanzlerin Angela Merkel: «Kanzlerin will keine Achse Paris-Berlin-Moskau» (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.9.2006)
2 vgl. https://www.youtube.com/watch?v=ydLINQBOF1U

3  Nachzuhören in einem rund 25 Minuten langen Podcast vom 1. Oktober 2020; https://www.a-b-c-communication.de/podcasts/
4  vgl. zum Beispiel https://www.heise.de/tp/features/Wusste-die-Bundesregierung-dass-es-Nowitschok-in-Labors-von-Nato-Laendern-gab-4060347.html
5 So die Schlagzeile, mit der die deutsche Bild-Zeitung am 7. Oktober 2020 eine Interviewäusserung Alexej Nawalnys wiedergibt.
6 Auszüge aus dieser Rede sind zu lesen bei https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2017/nr-21-29-august-2017/us-hauptziel-ist-ein-buendnis-zwischen-russland-und-deutschland-zu-verhindern.html

7 vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bratislava-Konferenz

Krieg und Frieden – aus der neuen Enzyklika von Papst Franziskus

km. 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat Papst Franziskus in seiner am 3. Oktober 2020 veröffentlichten neuen Sozialenzyklika mit dem Titel «Fratelli Tutti» vor der Kriegsgefahr gewarnt und für den Frieden gesprochen. Er schreibt in seiner Enzyklika:

«Krieg ist kein Gespenst der Vergangenheit, sondern ist zu einer ständigen Bedrohung geworden. Die Welt tut sich immer schwerer auf dem langsamen Weg zum Frieden, den sie [nach 1945] eingeschlagen hatte und der allmählich Früchte zu tragen begann. […]
  So entscheidet man sich dann leicht zum Krieg unter allen möglichen angeblich humanitären, defensiven oder präventiven Vorwänden, einschliesslich der Manipulation von Informationen. […]
  Da die Voraussetzungen für die Verbreitung von Kriegen wieder wachsen, erinnere ich daran, dass ‹der Krieg […] die Negierung aller Rechte und ein dramatischer Angriff auf die Umwelt [ist]›. […]
  Der springende Punkt ist, dass durch die Entwicklung nuklearer, chemischer und biologischer Waffen und durch die enormen und wachsenden Möglichkeiten der neuen Technologien, der Krieg eine ausser Kontrolle geratene Zerstörungskraft erreicht hat, die viele unschuldige Zivilisten trifft. […] Deshalb können wir den Krieg nicht mehr als Lösung betrachten, denn die Risiken werden wahrscheinlich immer den hypothetischen Nutzen, der ihm zugeschrieben wurde, überwiegen. Angesichts dieser Tatsache ist es heute sehr schwierig, sich auf die in vergangenen Jahrhunderten gereiften rationalen Kriterien zu stützen, um von einem eventuell ‹gerechten Krieg› zu sprechen. […]
  Jeder Krieg hinterlässt die Welt schlechter, als er sie vorgefunden hat. Krieg ist ein Versagen der Politik und der Menschheit, eine beschämende Kapitulation, eine Niederlage gegenüber den Mächten des Bösen. […]
  Fragen wir die Opfer, […] und es wird uns nicht stören, als naiv betrachtet zu werden, weil wir uns für den Frieden entschieden haben.»

Krieg und Hunger in der Welt

In Anbetracht der Verleihung des diesjährigen Friedensnobelpreises an das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen – einer Uno-Organisation, die seit 2015 mit einem wieder zunehmenden Hungerproblem in der Welt zu tun hat und deren Mittel bei weitem nicht ausreichen, so dass ihre Nahrungsmittelrationen in den vergangenen Wochen gekürzt werden mussten – sei ein letztes Zitat aus der Enzyklika hinzugefügt:

«Und mit dem Geld, das für Waffen und andere Militärausgaben verwendet wird, richten wir einen Weltfonds ein, um dem Hunger ein für alle Mal ein Ende zu setzen und die Entwicklung der ärmsten Länder zu fördern, damit ihre Bewohner nicht zu gewaltsamen oder trügerischen Lösungen greifen oder ihre Länder verlassen müssen, um ein menschenwürdigeres Leben zu suchen.»

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