Rahmenabkommen Schweiz-EU: Lieber die Verhandlungen würdig beenden …

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Nach dem 27. September (Ablehnung der Begrenzungsinitiative durch den Souverän) sollte es zügig vorwärtsgehen mit dem auf Eis gelegten Rahmenvertrag. Die Brüsseler Granden applaudierten dem Schweizervolk einen Abend lang für sein «gutes Demokratieverständnis», pochen nun aber bereits wieder ungeduldig auf baldige Unterzeichnung. Die Strategie der EU-Turbos in Bundesbern und anderswo im Land: Zuerst bodigen wir die Initiative, dann ziehen wir den Abschluss des Rahmenvertrags durch. Man verliess sich auf den millionenschweren Informationsteppich gegen die Begrenzungsinitiative: «Nein zum zerstörerischen Angriff auf den bilateralen Weg» und ähnliche ebenso reisserische wie unwahre Sprüche sollten in die Köpfe der Stimmbürger einträufeln und dort mindestens bis zur Ratifizierung des Vertrags mit Brüssel haften bleiben. Denn am Stimmvolk führt kein Weg vorbei. Aber erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt! Was in den letzten zwei, drei Wochen an grundlegender Kritik am «InstA» (Institutionelles Abkommen) geäussert wird, ist überwältigend. Noch erstaunlicher ist, wer sich da alles vernehmen lässt.

Offensichtlich hatte die lange, infolge des Corona-Stillstandes weiter verlängerte Zeit des Schweigens auch ihr Gutes. Man hatte mehr Musse, um das Ganze zu durchdenken. 

Aktuelle Lage

Nach einer «internen Konsultation», die der Bundesrat im Frühjahr 2019 mit den Kantonen, Parteien und Sozialpartnern durchführte, waren einige Punkte klar, auf denen der Bundesrat bestehen muss: Beibehaltung der flankierenden Massnahmen zum Lohnschutz, Ausschluss einiger Regelungen der Unionsbürgerrichtlinie (UBRL) von der «dynamischen Weiterentwicklung» (Einwanderung in die Sozialhilfe, Bleiberecht von Sozialhilfebezügern auch bei längerer Arbeitslosigkeit), Einschränkung des EU-Verbots staatlicher Beihilfen.
  Neuester Plan – der offenbar mit Brüssel bereits ausgejasst wurde – ist die sogenannte «Immunisierung» des Schweizer Lohnschutzes und der Unionsbürgerrichtlinie, das heisst, deren Ausklammerung von der Weiterentwicklung des EU-Rechts. Dazu die SonntagsZeitung: «In der Bundesverwaltung hält man die Immunisierungsstrategie als eleganten Weg, um möglichst viel Souveränität zu bewahren. Das Prinzip der automatischen Rechtsübernahme und des EU-Gerichts als Streitschlichtungsorgan grundsätzlich aus dem Vertrag zu streichen, hält man dagegen für unmöglich. Diese seien Kernelemente des europäischen Marktes.»1 [Hervorhebung mw]
  Immerhin will der Bundesrat eine neue Unterhändlerin nach Brüssel schicken. Der bisherige, Roberto Balzaretti, sei zu nachgiebig, so die SonntagsZeitung. Es brauche jemanden, «der mehr Härte signalisiere» und der «Brüssel klarmache, dass es nicht nur um einige Klärungen, sondern faktisch um Nachverhandlungen gehe.»2 [Hervorhebung mw] Am 14. Oktober hat nun der Bundesrat die heutige Botschafterin in Paris, Livia Leu Agosti, als Nachfolgerin von Balzaretti ernannt. Man wird sehen …

Grundsätzliche Frage der staatlichen Souveränität muss angesprochen werden

Bereits eine Woche vor dem Abstimmungssonntag meldete sich alt Bundesrat Johann Niklaus Schneider-Ammann mit prinzipiellen Einwänden gegen das Rahmenabkommen.3 Dies ist nicht nur deshalb erstaunlich, weil seine Partei, die Wirtschaftspartei FDP, am hartnäckigsten an der raschen Unterzeichnung des Abkommens festhält. Sondern auch, weil Schneider-Ammann von 2010 bis 2018 Mitglied des Bundesrates war und gemäss dem Kollegialitätsprinzip die ganzen Verhandlungen mit der EU mitzutragen hatte.4
  Es reiche nicht, so Schneider-Ammann, wenn die Schweiz die drei genannten Probleme anspreche. «In den (Nach-)Verhandlungen muss unbedingt auch die grundsätzliche Frage der staatlichen Souveränität angesprochen werden. Das in den bilateralen Verträgen gefundene Gleichgewicht zwischen staatlicher Souveränität und Binnenmarktzugang ist im Entwurf des InstA [Rahmenabkommens] auf Kosten der Schweiz verlorengegangen.» Die Schweiz dürfe weder akzeptieren, dass sie zukünftiges, heute noch unbekanntes Recht übernehmen müsste, noch dass die Urteile des EuGH für das Schiedsgericht verbindlich wären. Auch die Erweiterung der Guillotineklausel (bei einer Kündigung des InstA würden die Bilateralen I und alle neuen Marktzugangsabkommen gekündigt) dürfe die Schweiz nicht akzeptieren, denn damit erhielte die EU ein grosses Drohpotential. An die Adresse einiger Akteure der Grosskonzerne fügt der alt Bundesrat hinzu: «Wenn man dem Marktzugang eine viel grössere Bedeutung beimisst als Fragen der staatlichen Souveränität, mag dies aufgehen. Es besteht aber das Risiko, dass das Volk nicht von der Notwendigkeit eines derart einschneidenden Umbaus überzeugt werden kann. Ein Volks-Nein würde niemandem nützen – auch der EU nicht.»

Kein anderes Land ist in Europa besser integriert als die Schweiz

Den Bundesrat fordert Schneider-Ammann auf, sich gegen die Nadelstiche und Drohungen aus Brüssel zur Wehr zu setzen: «Bern darf dies nicht akzeptieren.» Die Schweiz habe diesen «unausgewogenen Entwurf» gar nicht nötig, denn «der Personen- und der Warenverkehr zwischen der EU und der Schweiz ist im internationalen Vergleich eindrücklich und erst noch stark zugunsten der EU. […] Kein anderes europäisches Land, einschliesslich der EU-Mitgliedsstaaten, ist in Europa demographisch und wirtschaftlich besser integriert als die Schweiz.» Schneider-Ammanns Fazit: «Zusammenfassend heisst das: Die Schweiz ist kein Übernahmekandidat. Wir sind wissenschaftlich und wirtschaftlich fit und haben dank guter Beziehungen zwischen den Sozialpartnern einen gesellschaftlichen Frieden. Wir brauchen der EU nicht beizutreten und müssen auch nicht mit einem unausgewogenen InstA darauf vorbereitet werden.»
  In ähnlichem Sinn der Chefökonom des Gewerkschaftsbundes, Daniel Lampart: «Die Realität ist, dass die EU in vielen Fällen von den Verflechtungen mit der Schweiz stärker profitiert bzw. die Schweiz viele Regelungen zugunsten der EU angepasst hat. […] In keinem Land in Europa arbeiten so viele ausländische Dienstleistungserbringer wie in der Schweiz (gemessen an der Wohnbevölkerung). Umgekehrt gibt es kaum Schweizer Firmen, die ins Ausland gehen. […] Sowohl bei den Waren als auch bei den Dienstleistungen (Tourismus, Banken, Versicherungen usw.) hat die Schweiz mit der EU ein Defizit. Dieses Defizit wird mit dem Brexit voraussichtlich noch grösser.»5

Parteiexponenten der CVP doppeln nach: Lieber ein Ende mit Schrecken …

Die Stellungnahme von alt Bundesrat Schneider-Ammann brachte viele Politiker und Verbandsspitzen zum Reden, die bisher nicht so klar hervorgetreten waren. Bereits am Abend des Abstimmungstages (27. September) musste die Redaktion der «Neuen Zürcher Zeitung» feststellen: «Wie eine Einigung mit Brüssel noch gelingen kann, ist schleierhaft. Parteien, Gewerkschaften und Gewerbe definieren rigorose Bedingungen.»6
  An diesem Abend bezieht Ständerat Pirmin Bischof (CVP Solothurn) Position: «Wir brauchen zusätzlich in den souveränitätspolitisch relevanten Fragen [Rechtsübernahme, Guillotineklausel, EuGH] Verbesserungen, sonst wird der Vertrag spätestens in einer Volksabstimmung scheitern.» Besonders der direkte Einfluss des EuGH auf die Gesetzgebung und Rechtsprechung in der Schweiz sei «mit unserem direktdemokratischen und föderalistischen System schwer zu vereinbaren.» Bischof hat am 25. September bereits eine Interpellation eingereicht mit einer Reihe konkreter Fragen an den Bundesrat (Interpellation 20.4255. «Institutionelles Rahmenabkommen. Jetzt bereinigen»). Zum Beispiel: «Wie ist das Vorgehen, wenn die EU wesentliche schweizerische Begehren ablehnt?» Bischofs eigene Antwort darauf: In diesem Fall sollte der Bundesrat die Verhandlungen besser von sich aus beenden.7
  Am 28. September meldet sich auch CVP-Präsident Gerhard Pfister zu Wort und mahnt unter anderem an, es könne nicht sein, dass ein einseitig europäisches Gericht über das Verhältnis zwischen der EU und einem Nichtmitglied entscheide.8 
  Mit Recht warnt – eine weitere Überraschung! – der Chefredaktor der SonntagsZeitung («Tages-Anzeiger»), Arthur Rutishauser: Wenn die EU sich in den drei zur Frage stehenden Punkten (Lohnschutz, UBRL, staatliche Beihilfen) kompromissbereit zeige, würde «dem Bundesrat eigentlich nicht viel anderes übrigbleiben, als zu unterschreiben.» Es gehe aber auch um die grundsätzlichen Fragen der Streitschlichtung und der Guillotineklausel […]. «Eine solche Klausel zu unterschreiben, das wäre aus Schweizer Sicht schlicht eine Dummheit.»9

SP-Parteispitze: «Die EU-Euphorie ist weitgehend verflogen»

Wenden wir uns den Äusserungen aus der Sozialdemokratischen Partei zu. In ihrem Parteiprogramm steht nach wie vor der Schweizer EU-Beitritt als anzustrebendes Ziel. Deshalb ist es sehr erfreulich, mit welch deutlichen Worten der bisherige Parteipräsident, Ständerat Christian Levrat, und der am 17. Oktober neu angetretene Co-Präsident, Nationalrat Cédric Wermuth, Position beziehen. Cédric Wermuth: «Wir wollen die europäische Integration der Schweiz voranbringen. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, diesen misslungenen Vertrag um jeden Preis zu retten.»10 Christian Levrat wird noch deutlicher: «Ein Abbruch ist auch nicht das Ende der Welt. Man muss in einer Verhandlung immer mit der Option des Scheiterns rechnen.» Levrat setzt hinzu: «Die EU-Euphorie, die zu meinen Anfängen herrschte, ist weitgehend verflogen, auch in der SP. Wir haben ein Interesse an einer starken und erfolgreichen EU. Aber offensichtlich gibt es derzeit keinen Boden für weitere Annäherungsschritte. Das ist auch nachvollziehbar. Die EU ist im sozialen Bereich kaum mehr fortschrittlicher als wir11 [Hervorhebungen mw.]

Schweizerischer Gewerkschaftsbund:
EuGH stellt Freiheit der Konzerne über den Arbeitnehmerschutz

Daniel Lampart, Sekretariatsleiter und Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), erklärt am Beispiel des Schweizer Lohnschutzes, was die Unterstellung der Schweiz unter die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs konkret heissen würde. Müsste die Schweiz nämlich die Entsenderichtlinie der EU übernehmen, dann würde der EuGH beurteilen, ob der Schweizer Lohnschutz im Sinne dieser Richtlinie verhältnismässig ist. Der EuGH, so Daniel Lampart, will aber nicht in erster Linie die Arbeitnehmerinteressen schützen, sondern die «vier Grundfreiheiten» für die Konzerne durchsetzen: «In verschiedenen Urteilen kam der EuGH seit 2007 immer wieder zum Schluss, dass Lohn- und Arbeitnehmerschutzbestimmungen binnenmarktwidrig seien, und er stellte die Freiheit des Unternehmers, seine Dienstleistungen anbieten zu dürfen, regelmässig über den Anspruch der Arbeitnehmenden, in ihren Rechten geschützt zu werden.»12 Und diesem Gericht sollen wir unsere Angelegenheiten unterstellen?
  Der SGB zeigt in derselben Stellungnahme anschaulich auf, dass die Schweizer Art, die Einhaltung der Arbeitsbedingungen und der Löhne durchzusetzen, nicht in das Raster der EU passt. Denn bei uns führen nicht staatliche Stellen, sondern die Sozialpartner selbst die Kontrollen durch – ganz im Sinn und Geist des direktdemokratischen und auf gegenseitigem Vertrauen basierenden Schweizer Staatsgefüges. Für die Brüsseler Bürokratie ist so etwas undenkbar. Die Mindeststandards sind in der Schweiz in den Gesamtarbeitsverträgen festgelegt, so der SGB: «Ihre Einhaltung wird von paritätischen Kommissionen aus Arbeitgebern und Gewerkschaften kontrolliert und über Sanktionen (Konventionalstrafen) durchgesetzt. Diese Art und Weise der Durchsetzung ist europaweit einzigartig. Die Gefahr ist sehr gross, dass die EU-Kommission oder der EuGH der Schweiz dies ganz oder teilweise verbieten würden.»

Sozialpartner treten mit ihrer Kritik am Rahmenabkommen geeint auf

Die Spitze des Wirtschaftsverbands economiesuisse weibelt seit Jahren für die Unterzeichnung des Rahmenabkommens ohne Wenn und Aber, weil es «eine stabile und zukunftsfähige Grundlage» für die Wirtschaftsbeziehungen mit der EU schaffe (economiesuisse.ch: Institutionelles Abkommen Schweiz-EU). Kräftig unterstützt wird economiesuisse vom Think tank Avenir Suisse. Beide haben vor allem die «stabile Grundlage» für die globalisierten Grosskonzerne im Auge und interessieren sich weniger für die Erhaltung des Schweizer Staatsmodells und für die Anliegen der Sozialpartner in den Betrieben. Gemäss Bundesamt für Statistik machen aber die KMU (mit weniger als 250 Beschäftigten) über 99  % der Schweizer Unternehmen aus, nämlich (im Jahre 2018) 591 016 Firmen mit mehr als 3 Millionen Beschäftigten! Um so erfreulicher ist es, dass sich in jüngster Zeit auch andere Exponenten der Schweizer Wirtschaft zu Wort melden.
  Erst kürzlich wurde bekannt, dass sich der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV), der Schweizerische Gewerbeverband (SGV), der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) und der Gewerkschafts-Dachverband Travail.Suisse am 14. August 2020 mit einem gemeinsamen Schreiben an den Bundesrat gewandt haben.13 Die vier gewichtigen Dachverbände der Sozialpartner schlagen verschiedene Lösungen vor. Diese reichen von der blossen Ausklammerung der drei «innenpolitisch als nicht mehrheitsfähig erachteten Elemente» über die Ausklammerung des ganzen Personenfreizügigkeits-Abkommens (das eben noch vor der Abstimmung vom 27. September von den EU-Turbos mit Zähnen und Klauen verteidigt wurde!) bis zu einem Modell mit einem klassisch bilateralen Streitschlichtungsmechanismus (also ohne Entscheidungsgewalt des EUGH).
  Interessant auch die Feststellung, das Rahmenabkommen «dürfte dem obligatorischen Referendum unterstehen und erfordert somit das Volks- und das Ständemehr.» [Hervorhebung mw] Der Bundesrat hat bisher um diese Frage einen grossen Bogen gemacht. Angesichts der Tatsache, dass die ähnlich weit gehende EWR-Vorlage dem obligatorischen Referendum unterstellt wurde, ist die Antwort jedoch staatsrechtlich klar.

Ein parteiunabhängiges Unternehmer-Netzwerk gegen das Rahmenabkommen – endlich!

Die drei Unternehmer Urs Wietlisbach, Alfred Gantner und Marcel Erni, Inhaber des erfolgreichen Finanzunternehmens Partners Group in Baar (Kanton Zug), sind daran, ein Unternehmernetzwerk mit Hunderten von Unternehmern aufzubauen, die sich dem Rahmenabkommen mit der EU entgegenstellen wollen. Die drei betonen, dass sie nichts mit der SVP zu tun haben. Bedauerlich, dass die Tonlage in der Schweizer Politik oft so scharf ist, dass man sich voneinander abgrenzen muss – aber erfreulich, dass neben der SVP, die sich seit jeher gegen eine engere EU-Einbindung der Schweiz engagiert, auch andere Bürger- und Unternehmergruppen entstehen, welche den freiheitlichen und direktdemokratischen Weg der Schweiz erhalten wollen. Denn in der Schweiz gibt es zahlreiche Unternehmer wie alt Bundesrat Johann Niklaus Schneider-Ammann (der vorher über Jahrzehnte ein Unternehmen der Maschinenindustrie führte), für die die Souveränität der Schweiz an erster Stelle kommt.
  Die Schweiz brauche gute Beziehungen zur EU, finden die Unternehmer der Partners Group. Aber mit der dynamischen Übernahme von EU-Recht «gefährde das Rahmenabkommen den Föderalismus und den Kern der direkten Demokratie». Denn das Initiativ- und Referendumsrecht würden faktisch wegfallen: Wenn künftig jemand das Referendum gegen eine rechtliche Weiterentwicklung der EU ergreifen wolle, «heisse es, das koste zu viel im Rahmen der Retorsionsmass-nahmen der EU».14 Alfred Gantner betont, dass economiesuisse und der Think tank Avenir Suisse «ganz sicher nicht die Anliegen der Schweiz [vertreten], sondern jene der multinationalen Konzerne». Eine Zukunft der Schweiz auf der Grundlage des Rahmenabkommens ist für ihn «nicht die Entwicklung, die ich mir für meine Grosskinder wünsche. Wer automatisch Recht übernimmt, gibt sich als Staat auf.»
  Gantner weist darauf hin, dass es für Linke wie für Rechte gute Gründe gegen das Abkommen gibt. Die Bedenken der Gewerkschaften seien berechtigt: «Übernehmen wir automatisch europäisches Recht, können wir nicht mehr alle neoliberalen Ideen aus Eu-ro-pa im Griff haben. Für das Arbeitsrecht zum Beispiel wäre das gar nicht gut.»

Zusammenschau

Wenn wir die Stellungnahmen aus den verschiedenen politischen Blickwinkeln und von den Sozialpartnern beider Seiten lesen und zusammendenken, können wir uns nur darüber freuen: über die Bodenhaftung, das Demokratiebewusstsein, die Selbstverständlichkeit, dass unser Staatsverständnis für die Schweizer Bevölkerung nicht zur Disposition steht. Die Berner Unterhändler, aber auch die Behörden selbst, dürften ruhig etwas selbstbewusster auftreten. Statt sich von den Brüsseler Bürokraten einschüchtern zu lassen oder sich bei ihnen anzubiedern, könnten sie auch versuchen, ihnen das Schweizer Staatsverständnis näherzubringen.
  Zum Schluss drei Schweizer, die von ihrem ganz eigenen Standpunkt aus den Bogen zum Ganzen schlagen.
  Carl Baudenbacher, ehemaliger Präsident des Efta-Gerichtshofs: «Seit rund zwanzig Jahren besteht zwischen der Schweiz und der EU ein Netz von bilateralen Abkommen, die durch Gemischte Ausschüsse administriert werden. Im Konfliktfall setzt man sich zusammen und versucht eine Verhandlungslösung zu finden. Dass diese Kooperation sehr erfolgreich ist, ist beidseits unbestritten. Trotzdem versucht die EU, das Gleichgewicht, welches das bilaterale Verhältnis nach der Auffassung beider Seiten bisher gekennzeichnet hat, zu ihren Gunsten zu verschieben. […] Die Verweigerung der Börsenäquivalenz im Sommer 2019 war diskriminierend, und die ständigen Drohungen mit wirtschaftlichen und politischen Nachteilen für den Fall der Nichtunterzeichnung des InstA sind nicht akzeptabel.»15
  SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi: «Die Rechtssicherheit wird abnehmen, weil wir unser Recht nicht mehr allein festlegen können. Wir wissen nicht, auf welche Regulierungsideen die EU kommen wird – und verpflichten uns trotzdem, dass wir alles übernehmen. Das ist absurd.» «Wir können mit unserem volksnahen Politiksystem wesentlich klüger regulieren als ein Koloss wie die EU mit ihren Hinterzimmerabsprachen. Abgesehen davon geht es allein mit der Freizügigkeit um sehr sensitive Bereiche wie die Regulierung des Arbeitsmarkts oder den Zugang zu den Sozialversicherungen. Es wäre absolut fahrlässig, hier die EU zum Gesetzgeber zu machen.»16
  Pierre-Yves Maillard, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds: «Für uns Gewerkschaften ist entscheidend, dass wir beim Lohnschutz und beim Service public verbindliche Ausnahmen haben. Aber politisch bleibt natürlich das Problem bestehen: In den anderen betroffenen Bereichen würde sich die Schweiz dazu verpflichten, grundsätzlich immer das Recht der EU zu übernehmen. Es geht hier nicht um ‹fremde Richter›, sondern um Demokratie. Ein solches Konstrukt wird es in einer Volksabstimmung sehr schwer haben, zumal auch das Ständemehr notwendig wäre. Die Stimmungslage in der Bevölkerung wird in diplomatischen Kreisen falsch eingeschätzt. Die Leute wollen grundsätzlich mehr demokratischen Einfluss auf ihre Zukunft, nicht weniger.»17   •



1 von Burg, Denis. «Rahmenabkommen mit der EU. Der Bundesrat will einen neuen Unterhändler nach Brüssel schicken», in: SonntagsZeitung vom 11.10.2020
2 von Burg, Denis; Aebi, Mischa. «Beziehung Schweiz-EU. Immunisierung: So soll der Rahmenvertrag gerettet werden», in: SonntagsZeitung vom 3.10.2020
3 siehe zum Folgenden: Schneider-Ammann, Johann Niklaus (Gastkommentar). «Rahmenabkommen: Drei Klarstellungen reichen nicht aus. Die Souveränitätsfrage muss angesprochen werden», in: Neue Zürcher Zeitung vom 19.9.2020
4 «Der Bundesrat ist eine Kollegialbehörde, was bedeutet, dass sämtliche Mitglieder des Bundesrates seine Beschlüsse nach aussen zu vertreten haben, selbst dann, wenn sie persönlich anderer Meinung sind.» (eda.admin.ch. Bundesrat)
5 Lampart, Daniel. Sekretariatsleiter und Chefökonom SGB. «Professionelles Verhandlungspowerplay der EU beim Rahmenabkommen – die Schweiz muss hier noch stark zulegen» vom 3.10.2020
6 Schäfer, Fabian. «Die Bilateralen sind vorerst gerettet, aber für den Rahmenvertrag sieht es schlechter aus denn je», NZZ online vom 27.9.2020
7 Schäfer, Fabian. «Die Bilateralen sind vorerst gerettet, aber für den Rahmenvertrag sieht es schlechter aus denn je», NZZ online vom 27.9.2020
8 Birrer, Raphaela; Fellmann, Fabian. Interview mit Gerhard Pfister. «Gopfriedstutz, dafür sind die Bundesräte doch gewählt!», in: Tages-Anzeiger vom 28.9.2020
9 Rutishauser, Arthur. «Streit ums Rahmenabkommen. Der Bundesrat sitzt in der Europafalle», in: SonntagsZeitung vom 4.10.2020
10 Schäfer, Fabian. «Die Bilateralen sind vorerst gerettet, aber für den Rahmenvertrag sieht es schlechter aus denn je», NZZ online vom 27.9.2020
11 Friedli, Daniel; Kučera, Andrea. «Christian Levrat: ‹Die EU-Euphorie ist weitgehend verflogen, auch in der SP›», in: NZZ am Sonntag vom 4.10.2020
12 «Rahmenabkommen und Flam: Die Position des SGB» vom 23. September 2020. «Das vorliegende Rahmenabkommen ist eine Gefahr für Löhne und Arbeitsplätze»
13 sgv(f)usam 6BIUSS - RTR
14 von Matt, Othmar. «Neue Attacke gegen das Rahmenabkommen: Milliardenschwere Unternehmer nehmen den Kampf auf», in: Luzerner Zeitung vom 7.10.2020
15 Andenas, Mads; Baudenbacher, Carl. «Das InstA – ein ‹EWR des armen Mannes›». Gastkommentar in: Neue Zürcher Zeitung vom 12.10.2020
16 Interview von Fabian Schäfer mit SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi. «Vermutlich wird die EU uns mit schwammigen Zusatzerklärungen abspeisen», in: Neue Zürcher Zeitung vom 14.10.2020
17 Interview von Fabian Schäfer mit Pierre-Yves Maillard, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. «Es geht hier um Demokratie», in: Neue Zürcher Zeitung vom 14.10.2020

Alternativen zum Rahmenabkommen

  • Verhandlungen aussetzen bis zum Ende der Brexit-Verhandlungen: «Negative Reaktionen durch die EU sind absehbar», so Ständerat Pirmin Bischof. Aber schon aus rein wirtschaftlichen Interessen dürfte sie an stabilen Verhältnissen mit der Schweiz interessiert sein. «Nach den Brexit-Verhandlungen kann die EU mit uns wohl wieder offener, sachbezogener und unideologischer reden.» (CVP-Ständerat Pirmin Bischof)
  • Interimsabkommen: «Darin würde die Schweiz ihren Willen bekräftigen, die EU mit einem grosszügigen Beitrag zur Kohäsion zu unterstützen, und Bern und Brüssel würden im Rahmen des Courant normal das Aufdatieren der Verträge weiterführen.» (alt Bundesrat Johann Niklaus Schneider-Ammann)
  • «Der Plan B wäre wohl die Rückkehr zur alten Situation: Man entwickelt einzelne bilaterale Verträge dort, wo gegenseitiges Interesse besteht. Das ist nicht optimal, und es ist nicht mein Wunschszenario. Aber es wäre auch kein Drama.» (abgetretener SP-Präsident Christian Levrat)
  • Grosszügige Kohäsionszahlungen für den Verzicht auf Nadelstiche: Die Schweiz könnte sich mit «mit einem Beitrag, der deutlich über ihre bisherigen Kohäsionszahlungen hinausginge, am Corona-Wiederaufbaufonds der EU beteiligen. Im Gegenzug müsste die EU darauf verzichten, die Schweiz wegen des Scheiterns des Rahmenvertrags mit Nadelstichen zu bestrafen.» (SP-Co-Präsident Cédric Wermuth)
  • «Eigentlich haben wir gar keine Probleme mit der EU, die Schweiz setzt viele Vorgaben aus Brüssel pflichtbewusster um als mancher Mitgliedsstaat. Falls uns die EU nach dem Scheitern der Verhandlungen trotzdem wie angedroht piesackt, wäre das ein Verstoss gegen den völkerrechtlich verankerten Grundsatz von Treu und Glauben in den Bilateralen I. Aber es wäre auszuhalten. Ich weiss aus guter Quelle, dass der Bund auch auf einen solchen Fall vorbereitet ist. Mehrere Departemente haben eine Liste mit Gegenmassnahmen erstellt, welche die Schweiz ergreifen könnte.» (SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi)
  • Schweiz als echter, solidarischer Partner der EU: «Sie soll ihre finanziellen Beiträge und die Kohäsionszahlungen leisten. Nicht, weil man uns abstraft. Sondern weil wir ein echter, solidarischer Partner der EU sein wollen […]. Aber wir wollen nicht automatisch EU-Recht übernehmen.» (UnternehmerInitiative der Partners Group)

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