Die kritischen Grenzen unseres Gesundheitssystems werden zwischen dem 8. und 18. November erreicht»

Sehr ernste Lageberichte der Schweizer National Covid-19 Science Task Force

Die Debatte um Covid-19 ist in den letzten Monaten ziemlich entgleist. Wäre sie auf vermehrt sachlicher Grundlage und ohne das völlig unnötige Ausspielen von Wirtschaft versus Gesundheit und anderes erfolgt, hätten wir uns die aktuelle Situation wohl sparen können. Tatsache ist, dass das zynische – und sachlich auch falsche – Gerede darüber, dass «ja ‹nur› die über 80jährigen sterben», nun auf die Mauer der Realität prallt. Auch die Debatten um Freiheit und den  Freiheitsbegriff bewegen sich auf einem Niveau, das eher erschreckend ist. Wenn unser Gesundheitswesen an seine Kapazitätsgrenzen stösst, was sehr bald geschehen kann, dann betrifft das jeden einzelnen – vom Kleinkind bis zum ältesten Menschen, vom aktuell Kerngesunden bis zu denjenigen, die weniger Glück bezüglich Gesundheit hatten. Dann erfolgen «Einschränkungen» ganz anderer, recht existentieller Art – ohne dass wir darauf dann noch Einfluss nehmen könnten. Wenn wir selbst oder ein uns nahestehender Mensch, ein Freund oder Bekannter einen Unfall erleidet oder schwer erkrankt – wohin wenden wir uns dann? Das hat nichts mit Panikmache – auch so ein völlig unpassendes Wort in diesem Zusammenhang –, aber sehr viel mit gesundem Menschenverstand zu tun.
  
Das wussten wir schon im Frühjahr – aber unter all den Debatten ist es offensichtlich in Vergessenheit geraten. Nun stehen wir da, wo wir sind. Es obliegt jedem einzelnen, seine Vernunft walten zu lassen und sich und seinen Mitmenschen diese Entwicklung nach Möglichkeit zu ersparen. Und selbstverständlich ist der Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung die oberste und wichtigste Aufgabe des Staates. Immerhin ist das Recht auf Leben absolute Grundlage aller anderen Rechte – dazu bedarf es nicht allzu viel Einsicht. Und wenn uns in diesen Zeiten – insbesondere den Gesunden unter uns – auch hierzulande wieder deutlicher wurde, welch hohes Gut der Schutz der Gesundheit und eine möglichst gute Pflege der kranken Menschen darstellt, sollten wir das als weiteren Anlass nehmen, über unser Gesundheitswesen nachzudenken und die schon lange währende sogenannte Ökonomisierung dieses existentiellen Lebensbereiches endlich korrigieren. Zeit-Fragen hat dazu wiederholt wertvolle Anregungen publiziert (vgl. Zeit-Fragen vom 6.10.2020, vom 30.6.2020, vom 12.4.2016 oder vom 3.2.2015).
  Die nachfolgenden Auszüge aus den Berichten der wissenschaftlichen Task Force der Schweiz sind klar, für jeden nachvollziehbar und verständlich. Es sind Realitäten – und solche sollten Grundlage unseres Handelns sein, auf individueller wie auf staatlicher oder wirtschaftlicher Ebene.

Erika Vögeli

Aus dem Lagebericht der National Covid-19 Science Task Force (NCS-TF) vom 23. Oktober 2020

Zusammenfassung und Empfehlungen
Die Schweiz ist mit einem exponentiellen Wachstum der SARS-CoV-2 Fallzahlen, der Spitalaufenthalte und der Einweisungen auf Intensivstationen konfrontiert. Dies ist eine Situation von äusserster Dringlichkeit, in der jeder Tag zählt. Wir müssen unverzüglich Massnahmen ergreifen, um eine Überla-stung von Spitälern und Intensivstationen zu verhindern und die Qualität der Gesundheitsversorgung zu erhalten.
  Die wissenschaftliche Task Force empfiehlt eine Reihe von Massnahmen, um die Reproduktionszahl R schnell auf deutlich unter 1,0 zu senken. Diese Massnahmen sollen für die Gesellschaft umsetzbar sein und den Kern der Wirtschaft schützen (mit Kompensationsmassnahmen für besonders betroffene Wirtschaftssektoren). Diese Massnahmen sollten über einen langen Zeitraum nachhaltig sein, der sich realistischerweise bis März/April 2021 erstrecken könnte:

  1. Das Tragen von Masken durch Jugendliche und Erwachsene in allen Innenräumen und in überfüllten Aussenbereichen (Strassenmärkte usw.). 
  2. Telearbeit (Home-Office) für alle Mitarbeitenden, für die dies möglich ist. 
  3. Die Schliessung von Unterhaltungs- und Erholungsstätten in engen und schlecht belüfteten Innenräumen, wo die Bedingungen die Übertragung des Coronavirus 
zwischen Menschen in engem Kontakt erlauben. 
  4. Beschränkung privater Zusammenkünfte, zum Beispiel auf weniger als 10 Personen. 
  5. Beschränkung öffentlicher Versammlungen, zum Beispiel auf weniger als 50 Personen. 
  6. Beschränkung der Öffnungszeiten von Restaurants und Bars, zum Beispiel auf 21.00 Uhr. 
  7. Einstellung von Aktivitäten mit einem hohen Risiko der Übertragung des Coronavirus, zum Beispiel Sportarten mit direktem Kontakt, Gesang oder Konzerte mit Blasinstrumenten. 
  8. Umstellung auf ausschliessliche Online-Bildung in allen sekundären und höheren Bildungseinrichtungen, für die eine solche Bildung möglich ist. 
  9. Erhöhung der Zahl der Coronavirus-Testzentren und der Zahl der Contact-Tracer. 
  10. Regelmässige Tests von Arbeitnehmenden in Hochrisiko-Umgebungen.

Die genauen Schwellenwerte für die Empfehlungen 4, 5 und 6 können je nach Situation angepasst werden.

Die Ziele dieser Interventionen sind

  • das Schweizer Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren und die Qualität der medizinischen Betreuung zu gewährleisten,
  • die Gewährleistung eines kontinuierlichen Zugangs zu Bildung, 
  • die Sicherung der Grundbedürfnisse des sozialen Lebens und die Vermeidung sozialer Isolation, 
  • der Schutz der wirtschaftlichen Aktivität unter den gegebenen Umständen. 

Diese Massnahmen sollen im Herbst und Winter für Stabilität sorgen und Jo-Jo-Effekte so weit wie möglich vermeiden. Ihre Auswirkungen und die Akzeptanz in der Bevölkerung sollten regelmässig überprüft werden. Werden die vorgeschlagenen Massnahmen nicht umgesetzt oder gelingt es nicht, die Ausbreitung des Coronavirus rasch einzudämmen, ist ein nationaler «Lockdown» nicht auszuschliessen, um das Gesundheitssystem vor einem Zusammenbruch zu schützen. Jeder Tag zählt.
  Wir weisen darauf hin, dass Massnahmen mindestens zwei Wochen benötigen, um eine Wirkung auf die Verringerung der Zahl der Einweisungen auf Intensivstationen zu zeigen. Selbst ein vollständiger und sofortiger Lockdown würde immer noch immensen Druck auf das System der Intensivstationen ausüben.

Aus dem Lagebericht der National Covid-19 Science Task Force (NCS-TF) vom 30. Oktober 2020

Allgemeiner Überblick über die Situation; Prognosen darüber, wann Kapazitätsgrenzen im Gesundheitssystem erreicht werden dürften:
Seit Anfang Oktober 2020 verdoppelt sich die tägliche Zahl der positiven SARS-CoV-2-Tests, der Spitaleinweisungen, der Einweisungen auf Intensivstationen sowie der Todesfälle etwa wöchentlich.
Gemäss den Vorhersagen vom 29. Oktober erwarten wir infolgedessen, dass die kritischen Grenzen unseres Gesundheitssystems zwischen dem 8. und 18. November erreicht werden. Im folgenden gehen wir auf die Kapazitätsgrenzen von Krankenhausstationen und Intensivstationen auf der Grundlage der verfügbaren Daten ein.
  Krankenhausbetten: Wie aus dem Informations- und Einsatz-System (IES) des Koordinierten Sanitätsdienstes hervorgeht, stehen in der Schweiz über 24 300 Spitalbetten zur Verfügung, wovon derzeit rund 6000 Betten frei sind. Sollte die Zahl der Spitaleinweisungen weiterhin steigen, wie es heute der Fall ist, dürften die Kapazitätsgrenzen bald erreicht werden.
  Gemäss den Prognosen vom 29. Oktober besteht daher ein hohes Risiko, dass die Schweiz zwischen dem 8. und 18. November die Kapazität der Krankenhaus- und Intensivbetten erreichen und dann überschreiten wird. Eine solche Situation würde die Versorgung sowohl von Covid-19- als auch von Nicht-Covid-19-Patienten beeinträchtigen. Wie weiter unten erörtert, erwarten wir zwar, dass die im Oktober 2020 auf kantonaler und Bundesebene getroffenen Massnahmen die Situation verbessern werden, aber es besteht eine beträchtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich ihre Wirkung erst dann zeigt, wenn die Grenzen des Gesundheitssystems erreicht oder überschritten sind.
  Auch wenn das Risiko des Erreichens und Überschreitens der Grenzen des Gesundheitssystems unmittelbar bevorsteht, bleibt es selbstverständlich äusserst wichtig, das Ausmass und die Dauer dieser Kapazitätsüberschreitung zu reduzieren. Eine solche Verringerung bedeutet, dass weniger Patienten sich in einer Situation wiederfinden, in der die Standardversorgung nicht aufrechterhalten werden kann.
  Es ist wichtig festzuhalten, dass diese Situation – eine Überlastung der Kapazitäten des Gesundheitssystems – grundsätzlich nur gelöst werden kann, indem die Übertragung von SARS-CoV-2 stark reduziert und damit die Zahl der Covid-19-Patienten verringert wird. Eine Erhöhung der Kapazität des Gesundheitssystems kann die Situation kurzfristig entschärfen, bietet aber keine nachhaltige Lösung. Denn ohne die Ausbreitung von SARS-CoV-2 zu stoppen, würde jede Kapazitätssteigerung rasch durch einen Anstieg der Fallzahlen ausgeschöpft. Wäre es beispielsweise möglich, die Bettenkapazität auf der Intensivstation um 200 voll ausgerüstete Betten aufzustocken, dann würde dies – bei einer Verdoppelungszeit von einer Woche – den Zeitpunkt, an dem die Kapazitätsgrenzen erreicht sind, um weniger als zwei Tage verzögern.

Was ist zu tun, damit die Massnahmen greifen? Im Oktober 2020 wurde eine Reihe von nationalen und kantonalen Massnahmen ergriffen. Ziel dieser Massnahmen ist es, den oben beschriebenen Trend umzukehren und eine Reduktion der Fallzahlen, der Spitaleinweisungen sowie der Todesfälle zu erreichen. Hier gehen wir auf die Faktoren, die die Wirksamkeit dieser Massnahmen bestimmen, ein:
  Die Hauptbestimmungsfaktoren für eine hohe Wirksamkeit des ergriffenen Massnahmenpakets sind sowohl der Zeitpunkt als auch:

  • die Einhaltung durch alle Akteure sowie durch die Anbieter von Gesundheits- und Sozialdiensten,
  • die Befolgung der Massnahmen durch die Bevölkerung, Entscheidungsträger und aller Akteure, im Namen der Solidarität und der gemeinsamen Verantwortung. In einer Situation, in der die Massnahmen darauf abzielen, das Gesundheitssystem zu schützen, ist dies besonders wichtig, denn nur so können die Wirtschaft, das soziale Leben, die Freiheit und der Zugang zu Bildung gleichzeitig geschützt werden.

Folglich muss die Umsetzung der Massnahmen von der gesamten Bevölkerung gut verstanden werden. Eine klare Kommunikation ist entscheidend.

Schutz des Gesundheitssystems: Welche Parameter sind zu beachten und welche Entscheidungen stehen an?
[…] Die Hauptfrage ist, ob die Massnahmen in der Schweiz erfolgreich darin sind, die Zahl der neuen positiven Tests, der Spitaleinweisungen, der Einweisungen auf die Intensivstationen sowie der Todesfälle pro Tag zu reduzieren. Es gibt indirekte Indikatoren, die erste Einblicke in die Wirkung der Massnahmen auf Reisen, Mobilität, Home-Office-Aktivitäten und mehr geben können. Diese Indikatoren sind wertvoll und können potenziell fast ohne Zeitverzögerung aufzeigen, ob implementierte Massnahmen eine Wirkung entfalten. Da es sich jedoch um indirekte Mass-nahmen handelt, muss noch festgestellt werden, wie zuverlässig diese Indikatoren vorhersagen können, ob eine Verringerung der Fallzahlen erreicht wird. Dazu muss die Entwicklung von positiven Tests, Krankenhausaufenthalten, Einweisungen auf Intensivstationen sowie von Todesfällen verfolgt werden.
  Massnahmen, die heute umgesetzt werden und somit die Übertragung heute reduzieren, werden sich […] erst mit einer erheblichen Zeitverzögerung manifestieren. Die mittleren Zeitverzögerungen sind:

  1. 8 Tage von der Ansteckung bis zur Bestätigung eines Falles (genauer gesagt unter der Annahme eines Mittelwertes von fünf Tagen bis zum Einsetzen der Symptome, und eines Mittelwertes von 3 Tagen von den Symptomen bis zu einem positiven Test),
  2. 9,5 Tage von der Ansteckung bis zum Krankenhausaufenthalt,
  3. 12 Tage von der Ansteckung bis zur Intensivstation und
  4. 17 Tage von der Ansteckung bis zum Tod. […]

Für die am 29. Oktober auf nationaler Ebene verhängten Massnahmen erwarten wir daher, ihre Wirkung am 17. November einigermassen sicher erkennen zu können. Einzelne Kantone haben bereits zu einem früheren Zeitpunkt vergleichbare Massnahmen ergriffen. Der Kanton Wallis hat solche Massnahmen am 21. Oktober getroffen, und wir gehen davon aus, dass wir ihre Wirkung mit einiger Sicherheit um den 9. November beurteilen können.
  Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass zusätzliche Massnahmen, die zu diesen Zeitpunkten ergriffen würden (zum Beispiel am 9. oder 17. November), wiederum 12 Tage benötigen würden, bevor sich ihre Auswirkung auf die Reduktion der Zahl der Patienten auf der Intensivstation feststellen lässt.
  Bei der aktuellen Belegung der Intensivstationen (227 Fälle gemäss Datenbankabfrage vom 28.10.2020 um 17.26 Uhr) und der aktuellen Verdoppelungszeit (7 Tage) liegt die erwartete Zahl der Patienten, die auf der Intensivstation stationär und unter Beibehaltung der derzeit hohen Qualität der Pflege behandelt werden müssen, in zwei Wochen (am 12. November) bei rund 1450 und damit bereits über der geschätzten Bettenkapazität (1400 Betten). Bei einer Spanne der Verdoppelungszeiten von 5–10 Tagen wird diese Grenze von 1400 Betten auf der Intensivstation voraussichtlich zwischen dem 7. und 17. November erreicht werden. Darüber hinaus zeigt sich, dass in letzter Zeit die Wahl-eingriffe bereits zurückgegangen sind, was darauf hinweist, dass bereits heute die Zunahme der Covid-19-Patienten auf der Intensivstation die Gesundheitsversorgung in der Schweiz beeinträchtigt.  •


Quelle: National COVID-19 Science Task Force Lagebericht am 23. und 30.10.2020 (Auszüge) 

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