von Dr. iur. Marianne Wüthrich
Die messerscharfe Analyse der Sicherheitsrats-Debatte vom 5. Oktober 2020 von Karin Leukefeld1 können wir nicht hoch genug schätzen. Der ernüchternde Bericht und die politische Einordnung dieser Kennerin des Mittleren Ostens ist aber auch eine Einladung an den denkenden Zeitgenossen, sich damit genauer auseinanderzusetzen.
Den Schweizer Lesern stellt sich als nächstes unwillkürlich die Frage: Und in diesem Gremium strebt der Bundesrat einen Sitz für die Schweiz an? Dieses Thema wurde in Zeit-Fragen bereits zweimal durchleuchtet.2 Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga und Bundesrat Ignazio Cassis haben am 30. Oktober die Kandidatur der Schweiz für ein nichtständiges Mandat im Sicherheitsrat 2023/24 den Uno-Delegierten vorgestellt. «Es braucht Mitglieder, die wissen, wie man Brücken bauen kann», so Sommaruga. Gewisse Leute in Bundesbern möchten halt lieber auf dem internationalen Parkett glänzen als den segensreichen, aber kleinschrittigen und anstrengenden Weg der Guten Dienste unter die Füsse zu nehmen.
Um ein genaueres Bild von der Debatte im Sicherheitsrat vom 5. Oktober zu erhalten, habe ich die Empfehlung von Frau Leukefeld befolgt und das ganze Protokoll3 gelesen. Dabei wurde das Ränkespiel, wofür die Nato-Staaten den UN-Sicherheitsrat missbrauchen, immer offensichtlicher. Gleichzeitig kamen viele Fragen auf: Wie würde sich der Schweizer Uno-Botschafter in einer solchen Situation verhalten? Wie könnte er als Vertreter der Schweiz, im Namen der neutralen Schweiz, denn überhaupt handeln? Ein grosser Schaden für die Reputation der Schweiz – mit schwerwiegenden Folgen für das Vertrauen in unser Land – wäre vorprogrammiert.
Wie sich als Neutraler in das Machtgerangel einbringen?
Wie Karin Leukefeld aufzeigte, lieferten die P3 (Frankreich, Grossbritannien, USA), eifrig sekundiert durch die übrigen Vertreter der westlichen Staaten (Deutschland, Belgien, Estland), dem russischen Vorsitzenden die ganze Sitzung hindurch einen Machtkampf. Dieser hatte den ehemaligen Generaldirektor der Organisation für das Verbot chemischer Waffen, Herrn José Bustani, als sachkundigen Referenten zur Sitzung eingeladen. Weil den Nato-Staaten dessen Standpunkt in der Syrien-Frage nicht in den Kram passt, nutzten sie die Gelegenheit, um Russland eins auszuwischen. Der britische Vertreter erhob, auch im Namen der anderen fünf Nato-Staaten, mit fadenscheiniger Begründung gegen den Referenten Einspruch und forderte den Präsidenten auf, «über die Frage des von ihm vorgeschlagenen Referenten eine Verfahrensabstimmung durchzuführen».
Vergeblich machte der Präsident darauf aufmerksam, dass er als Vorsitzender gemäss der Geschäftsordnung das Recht hat, einen Referenten einzuladen, und dass eine Ablehnung durch die anderen Ratsmitglieder kaum je vorkommt. Daraufhin gingen die Vertreter Grossbritanniens, Frankreichs und Deutschlands mit einem absurden Hickhack auf den russischen Vorsitzenden los. Dieser schlug sich mit Würde und ab und zu einer Prise Humor, unterstützt durch den Vertreter Chinas, der mit seinen ruhigen, sachlichen Stellungnahmen beeindruckte. Die anderen Mitglieder des Sicherheitsrates versuchten sich zum Teil mässigend einzubringen, wurden aber von den Grossmächten schlicht übergangen.
Ein potentieller Schweizer Mandatsträger im Sicherheitsrat käme dabei in eine unangenehme Situation. Soll er sich als Vertreter eines Kleinstaates zu Wort melden, auf die Gefahr hin, dass seine Stellungnahme glatt übergangen wird? Soll er als demokratiegewohnter Schweizer den Kollegen sagen, was Sache ist? Nämlich: «Der Vorsitzende hat nach den Regeln der Geschäftsordnung einen Referenten eingeladen, und ich schlage vor, dass wir diesem jetzt zuhören.» Oder soll er lieber schweigen und warten, bis sich die «Grossen» geeinigt haben? Wozu sitzt er dann im Sicherheitsrat?
Der «Bschiss» mit der Abstimmungsfrage
Die Tatsache, dass das Resultat einer Verfahrensabstimmung je nach Formulierung der Abstimmungsfrage verschieden herauskommen würde, war allen Anwesenden klar. Neun (von 15) Stimmen muss ein Vorschlag im Sicherheitsrat erzielen, um angenommen zu sein. Deshalb forderte der Brite den Präsidenten auf, über die Frage abstimmen zu lassen: «Sind Sie damit einverstanden, dass Herr Bustani den Rat informiert?» Seine taktische Überlegung: Ausser Russland und China wird kaum ein Mitglied zustimmen, die sechs Nato-Staaten jedenfalls sicher nicht, und die meisten anderen sind wirtschaftlich/politisch abhängig vom Wohlwollen der Grossmächte und werden sich deshalb lieber nicht in die Nesseln setzen.
Der Vorsitzende dagegen wollte über die Frage abstimmen lassen: «Wer ist gegen ein Referat von Herrn José Bustani an der heutigen Sitzung?» Vermutlich hätten dieser Frage nur die sechs Nato-Staaten zugestimmt, jedenfalls hätten sie die neun Stimmen nicht zusammengebracht. Dann hätte José Bustani seine wichtigen Informationen einbringen können.
Nach dem Sprichwort: «De Gschiider git noh, de Esel bliibt schtoh» (Der Gescheitere gibt nach, der Esel bleibt stehen) liess der Präsident nach längerem Seilziehen über die Version des Briten abstimmen. Wie wir von Frau Leukefeld erfahren haben, stimmten nur drei Mitglieder für das Referat von José Bustani. Der russische Vorsitzende behielt trotzdem auf gewitzte Art die Oberhand, indem er Bustanis Referat selbst vorlas – zur ohnmächtigen Entrüstung seiner Gegner.
Wie hätte der Vertreter der Schweiz abgestimmt? Hätte er den Mut gehabt, seine Stimme für das Referat von José Bustani abzugeben, weil dies auf der Grundlage des Völkerrechts die einzig richtige Antwort ist? Der Vertreter Südafrikas, Herr Van Schalkwyk, hatte diesen Mut (siehe Kasten unten). Oder hätte sich der Schweizer der Stimme enthalten? Zusammen mit den Staaten, die abhängig sind von der Gunst der «Grossen» und die glauben, sie hätten «sowieso nichts zu sagen»? Oder noch schlimmer: Hätte er nein gestimmt und damit demonstriert, dass Teile der Schweizer Elite am liebsten ganz zur Nato gehören möchten? Dies wohlgemerkt entgegen dem Willen des Volkes, das in Umfragen regelmässig mit 90 oder mehr Prozent für die Erhaltung der Neutralität der Schweiz Stellung nimmt.
Der UN-Sicherheitsrat – kein Ort für die neutrale Schweiz
Zusammenfassend muss festgehalten werden: Für die Schweiz wäre ein Sitz im Sicherheitsrat nicht zu verantworten. Denn als neutraler Kleinstaat hat sich die Schweiz freiwillig dazu verpflichtet, jedes Mittun auf der Welt strengen Kriterien zu unterziehen: Wie kann unser Land, wie können wir privilegierten Schweizer dazu beitragen, dass die Welt etwas friedlicher wird? Wer möchte auf unsere sehr geschätzten Guten Dienste zurückgreifen? Wo können wir dringend benötigte humanitäre Hilfe bringen? Welchen Streitparteien können wir einen sicheren Ort und unsere erfahrenen Diplomaten für heikle Gespräche anbieten?
Mit einem Sitz im Sicherheitsrat wäre die Schweiz dagegen mitverantwortlich für die Entscheide, die dort gefällt werden – auch wenn sie keinen Mucks tut und sich der Stimme enthält. In diesem Sinne schreibt der scheidende NZZ-Redaktor Michael Schoenenberger: «Die Schweiz als Mitglied des Uno-Sicherheitsrats? Das wird schwierige bis unlösbare Fragen aufwerfen, zumindest jedoch sehr unangenehme Positionsbezüge nach sich ziehen, die mit dem bisherigen Neutralitätsverständnis kaum zu vereinbaren sein werden.»4
Die Leute in der Bundesverwaltung versuchen solche Bedenken zu beschwichtigen: In den zwei Jahren, welche die Schweiz im Sicherheitsrat wäre, ginge es kaum je um «wichtige» Entscheidungen. Vielmehr würden dort meistens nur «technische Fragen» abgehandelt.
War denn die Abstimmung über einen Referenten, der den Nato-Grossmächten die Stirn bietet, keine «wichtige» Entscheidung? Hätte der Schweizer, der daran beteiligt gewesen wäre, etwas beitragen können zu mehr Ehrlichkeit und Mitmenschlichkeit im Umgang der Staaten untereinander? Aber es stimmt: Natürlich gibt es viel wichtigere Fragen, die der Sicherheitsrat wälzen muss: Entscheidungen über Krieg und Frieden oder über wirtschaftliche Sanktionen gegenüber einem Staat, oder besser gesagt, zum Schaden seiner Bevölkerung. Würde die Schweiz sich trauen, nein zu sagen? Oder würde sie «neutral» bleiben und sich der Stimme enthalten? Wie auch immer sie sich einbringen oder nicht einbringen würde – ein Sitz im Sicherheitsrat würde der Reputation der Schweiz grossen Schaden zuführen.
Wie hat doch der Schutzpatron der Schweiz, Niklaus von Flüe vor 600 Jahren den Eidgenossen geraten: «Machet den zun nyt zuo wyt!» (Macht den Zaun nicht zu weit!) und «Mischt euch nicht in fremde Händel!» •
1 «Bei Syrien zeigt sich die Möchtegern-Grossmacht Deutschland», in: Zeit-Fragen vom 20.10.2020
2 Wüthrich, Marianne. «Uno-Sicherheitsrat: Kein Ort für die neutrale Schweiz». in: Zeit-Fragen vom 11.3.2013, und «Aussenpolitisches Programm des Bundesrates mit Fragezeichen. Was hat die neutrale Schweiz im Uno-Sicherheitsrat zu suchen?», in: Zeit-Fragen vom 14.7.2020. Siehe auch die dort zitierten Stellungnahmen des langjährigen Schweizer Botschafters Dr. phil. Paul Widmer.
3 United Nations Security Council. Seventy-fifth year. 8764th meeting. S/PV.8764. Monday, 5 October 2020, New York
4 Schoenenberger, Michael. «Kleinstaat am Scheideweg», in: Neue Zürcher Zeitung vom 29.10.2020
mw. Seit 30 Jahren führt die ETH Zürich jährliche Umfragen durch zur Einstellung der Bevölkerung zur Aussen- und Sicherheitspolitik der Schweiz. Der neueste Bericht von 2019 hält fest: «Das Prinzip der Neutralität geniesst seit Messbeginn eine äusserst hohe Zustimmung in der Bevölkerung, die in den letzten Jahren tendenziell zugenommen hat.» [Hervorhebung mw.]
Auf die Frage «Wie kann die Schweiz Ihrer Meinung nach am besten ihre Interessen wahren und gleichzeitig zur -Sicherheit in der Welt beitragen?» antworten 96 % (!): «Die Schweiz sollte ihre Neutralität beibehalten.» Das Forschungsteam erläutert: «Die sehr hohe Zustimmung zur Beibehaltung der Neutralität ist unabhängig von dem Alter, dem Bildungsniveau, der Sprachregion und dem Geschlecht der Befragten.» (Sicherheit 2019, S. 120)
Zur Frage «Welchen der folgenden Aussagen würden Sie zustimmen?» antworten 94 % der Teilnehmer: «Dank der Neutralität kann die Schweiz in Konflikten vermitteln und international Gute Dienste leisten» und 85 %: «Die Neutralität ist untrennbar mit unserem Staatsgedanken verbunden.» (Sicherheit 2019, S. 123)
Ein Sitz im Uno-Sicherheitsrat steht definitiv im Widerspruch zu diesem seit 30 Jahren bekräftigten Willen der Schweizerinnen und Schweizer.
Quelle: Szvircsev Tresch, Tibor und Wenger, Andreas. «Sicherheit 2019 –
Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitische Meinungsbildung im Trend.
Militärakademie (MILAK) an der ETH Zürich und
Center for Security Studies, ETH Zürich. (www.css.ethz.ch)
«Ich werde mich nicht allzu lange mit der Abstimmung aufhalten, die wir heute durchführen mussten. Es ist bedauerlich, dass wir über einen Referenten abstimmen mussten. Meine Delegation wäre die letzte, die irgendeine Art von Ansicht, die dem Rat vorgelegt werden sollte oder muss, oder von der andere meinen, dass sie dem Rat vorgelegt werden sollte, unterdrücken würde, solange sie relevant ist. Und wir glauben, dass Herr Bustani als ehemaliger Generaldirektor der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) die Verfahren der Organisation hervorragend versteht – wie sie arbeitet und wie man mit früheren und gegenwärtigen Chemiewaffenstaaten umgeht. Deshalb waren wir nicht bereit, die Unterdrückung irgendeiner Art von Ansicht zu unterstützen, ob wir ihr zustimmen oder nicht. Wir wären nicht unbedingt mit seinen Ansichten einverstanden gewesen, aber wir hätten sie gerne gehört.
[…] Wie wir bei mehreren Gelegenheiten zu verstehen gegeben haben, wird sich Südafrika weiterhin für die Entpolitisierung der relevanten Verwaltungs- und Entscheidungsstrukturen des Chemiewaffenübereinkommens einsetzen und auch darauf hinwirken, dass die Vertragsstaaten für alle Verletzungen ihrer Verpflichtungen auf der Grundlage glaubwürdiger, unparteiischer und unwiderlegbarer Beweise zur Rechenschaft gezogen werden.
Abschliessend ist Südafrika der festen Überzeugung, dass wir uns bemühen sollten, die Lage in Syrien ganzheitlich anzugehen, so dass die politischen, humanitären und Chemiewaffen-Spuren alle in einen einzigen einheitlichen Weg münden – zu langfristigem Frieden, Sicherheit und Stabilität für Syrien. Die einzige nachhaltige Lösung der syrischen Frage bleibt das Erreichen einer politischen Lösung durch einen umfassenden Dialog unter syrischer Führung, der auf eine politische Lösung abzielt, die den Willen des syrischen Volkes widerspiegelt.»
Quelle: www.un.org
(Übersetzung Zeit-Fragen)
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