Was können die Afghanen nach 40 Jahren Krieg erwarten?

Das Land am Hindukusch nach dem US-Abkommen mit den Taliban und inmitten der direkten innerafghanischen Friedensgespräche

von Matin Baraki*

Nach über einer Dekade geheimer und offizieller Verhandlungen hatten sich am 29. Februar 2020 die Vereinigten Staaten und die Taliban in Doha auf ein «Agreement for Bringing Peace to Afghanistan» geeinigt. In diesem Zusammenhang gaben die US- und die afghanische Regierung am selben Tag eine gemeinsame Erklärung ab. Es handele sich indes noch nicht um ein umfassendes Friedensabkommen, sondern lediglich um eine Art «Türöffner» zum Einstieg in innerafghanische Verhandlungen. Damit war ein erster Schritt hin zu einem möglichen Frieden in Afghanistan getan. Aber der Weg dahin wird lang und steinig sein. Als Barack Obama 2008 zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, signalisierten die Taliban ihre Bereitschaft, den Konflikt am Hindukusch politisch lösen zu wollen. Doch seine Ankündigung, das CIA-Konzentrationslager Guantánamo auf Kuba zu schliessen und aus diesem Grund ab sofort keine Gefangenen mehr zu machen, hatte zur Folge, dass die moderaten und verhandlungsbereiten Taliban-Funktionäre nun per Drohneneinsatz physisch eliminiert wurden. Allein 2013 töteten US-Streitkräfte mehr als 8000 von ihnen.1
  
Nun haben in Doha auch die direkten innerafghanischen Friedensgespräche begonnen. Aber nur freie, demokratische und streng kontrollierte, von unten nach oben durchgeführte Wahlen für eine Verfassungsgebende Versammlung (Loya Jirga) wären die Rettung des geschändeten afghanischen Volkes.

Will man das Abkommen zwischen der US-Administration und den Taliban vom 29. Februar 2020 in Doha, der Hauptstadt vom Golf-Emirat Katar2, in seiner Bedeutung einordnen, fällt einem die Redewendung nach dem römischen Dichter Horaz ein: «Der Berg kreiste und gebar ein Maus». Das Dokument wurde von Mullah Abdul Ghani Baradar, dem Leiter der Taliban-Delegation, sowie dem US-Sonderbeauftragten Zalmay Khalilzad, einem gebürtigen Afghanen, unterzeichnet. US-Präsident Donald Trump, der die Taliban «grosse Kämpfer»3 nannte, schickte seinen Aussenminister Mike Pompeo zur Unterzeichnungszeremonie. Der Taliban-Verhandlungsführer Abbas Stanikzai hob stolz hervor: «Es gibt keinen Zweifel daran, dass wir den Krieg gewonnen haben.»4 Die islamistischen Taliban-Kämpfer sehen sich als die einzige dschihadistische Bewegung, die der Supermacht die Stirn geboten und sie zum Abzug gezwungen hat.
  Pakistan gilt als Hauptunterstützer der Taliban. Daher ist auch ein Erfolg des Abkommens davon abhängig, wie sich die Verhältnisse zwischen den pakistanischen und afghanischen Administrationen gestalten. US-Aussenminister Pompeo hatte im Vorfeld der letzten Runde der Verhandlungen «viel Aufwand betrieben, um die pakistanische Führung für das Abkommen zu gewinnen. Ihre Unterstützung ist jedoch weiterhin fraglich.»5

Vereinbarungen zwischen den USA und den Taliban vom Februar 2020

Nach 19 Jahren Krieg, 1968 toten US-amerikanischen Soldaten6 und zwei Billionen US-Dollar, die Washington im Krieg gegen Afghanistan verpulvert hat,7 haben die US-Amerikaner «sich nach Jahren voller Miss-erfolge dazu verpflichtet, ihre Truppen aus dem Staat [Afghanistan] abzuziehen. Angesichts ihrer vollmundigen Ankündigungen im Jahre 2001 kommt dies einer Flucht gleich. Die USA erlebten in Afghanistan ein Mini-Vietnam.»8
  Die Tinte auf dem Papier war noch nicht trocken, als sich prompt der afghanische Präsident Ashraf Ghani am 1. März zu Wort meldete und eine der wichtigen Komponenten der Vereinbarung ablehnte. Danach sollten bis zum 10. März 5000 gefangene Taliban-Kämpfer freigelassen werden. Es gäbe «keine Verpflichtung», betonte Ghani. «Die Vereinigten Staaten vermittelten. Vermitteln heisst nicht, Entscheidungen zu treffen.»9 Die Taliban-Gefangenen sind ein wichtiges strategisches Faustpfand für die Kabuler Administration, die sie als Teil der innerafghanischen Verhandlungen ansah und nicht als Vorbedingung für die Verhandlung akzeptierte. Die Entscheidung über die Freilassung der Taliban-Kämpfer stehe nicht den USA, sondern seiner Regierung zu, hob Ghani hervor. Im Gegenzug müssten 1000 gefangengenommene Regierungskämpfer freigelassen werden. Als Reaktion auf Ghanis Äusserung kündigte ein Taliban-Sprecher, Sabiullah Mudschahid, an, dass die Kampfhandlungen bis zu einer innerafghanischen Einigung fortgeführt würden.

Bis heute tötet der Krieg täglich Menschen in Afghanistan

Durch zwei Anschläge der Taliban in Nordafghanistan wurden mindestens 20 Sicherheitskräfte getötet, 16 Mitglieder der nationalen Sicherheitskräfte kamen bei einem Angriff auf die Militärbasis in der Stadt Kundus ums Leben. Bei einem weiteren wurden vier -Polizisten getötet und einer verletzt.10 «Die Taliban wollen jetzt noch einmal militärische Stärke demonstrieren»,11 stellte der deutsche Kommandeur für Nordafghanistan, Brigadegeneral Jürgen Brötz fest. Sie wollten die Kabuler Administration in die Knie zwingen. Nach Angabe der nationalen Sicherheitsbehörde in Kabul haben die Taliban bis zum 26. April 2020 insgesamt 2804 Operationen durchgeführt. Daraufhin lenkte Ashraf Ghani ein und bot die Freilassung von 1500 Talibankämpfern an. Aber dies wurde von den Taliban umgehend zurückgewiesen, indem ihr politischer Sprecher Suhail Shaheen betonte, dass «5000 Gefangene als vertrauensbildende Massnahme freigelassen werden sollten, und das sollte vor inner-afghanischen Gesprächen sein».12 Die Taliban bestanden also darauf, dass gemäss dem Abkommen mit den USA noch vor Beginn der innerafghanischen Verhandlungen die Gefangenen freigelassen werden müssen. Sie verlangten die Freilassung von namentlich genannten 15 ihrer Funktionsträger. Ansonsten würde es keine Verhandlungen mit der Kabuler Administration geben.13 Bis Mitte April hatten die Taliban insgesamt 6014 und die Regierung ihrerseits bis Anfang Mai 850 Gefangene freigelassen.15
  Die US-Armee nahm die Anschläge der Taliban zum Anlass, unmittelbar am 4. März einen Luftangriff gegen die Taliban-Kämpfer zu fliegen. Im Bezirk Nahr-e-Saraj in der südafghanischen Provinz Helmand, einer Hochburg der Taliban, bombardierte die US-Luftwaffe ihre Kämpfer, wie der US-Militärsprecher, Sonny Leggett, auf Twitter mitteilte.16

US-Interessen

Man ist geneigt zu fragen, ob denn nun alles für die Katz gewesen ist?17 Der US-Vertreter und die Taliban haben zwölf Jahre geheime und zwei Jahre offizielle Gespräche in Katar geführt, um Bedingungen für eine politische Lösung des längsten Krieges der US-Geschichte auszuhandeln. Trump wollte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: zum einen sein Wahlversprechen, die US-Einheiten aus Afghanistan abzuziehen, realisieren und die bevorstehenden Wahlen am 3. November 2020 gewinnen. Zum anderen die Taliban in die kolonial-ähnlichen Strukturen am Hindukusch integrieren und durch Vergabe von ein paar Posten neutralisieren.
  Er bemängelte, dass in dem seit Ende 2001 währenden Krieg hohe Kosten für die US-Truppen, für den amerikanischen Steuerzahler und für das afghanische Volk verursacht worden seien. Dieser Krieg hat nach offiziellen Angaben in den Hochphasen (2002 bis 2014) jede Woche 1,5 Milliarden US-Dollar gekostet. Im Wahlkampf versprach er dem amerikanischen Volk, «dass ich damit beginnen würde, unsere Truppen nach Hause zu bringen und zu versuchen, diesen Krieg zu beenden»18. Kann man dem launigen US-Präsidenten glauben? Würden es die US-Strategen zulassen, die Truppen aus Afghanistan abzuziehen, zumal Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf der Tagung der Verteidigungsminister am 14. Februar 2020 die Volksrepublik China als Gegner – im Kommuniqué diplomatisch als Herausforderung für den Westen verbrämt – eingestuft hatte? Afghanistan hat ganz im Norden eine gemeinsame Grenze mit China. Genau dort befindet sich ein Nato-Stützpunkt. Das Land am Hindukusch ist ein unsinkbarer Flugzeugträger der USA und der Nato. Auch Barack Obama hatte den Abzug der US-Armee versprochen. Doch er reduzierte lediglich die Kampftruppen und afghanisierte somit den Krieg. Seitdem kämpfen überwiegend Afghanen, unter welchen Namen auch immer, gegen Afghanen.

Ein Deal der Versprechungen

Das Abkommen war also lediglich «ein Deal der Versprechungen»19, auf dessen Grundlage noch weitere Massnahmen verhandelt werden sollen. «Wir stehen erst am Anfang»20, sagte Mike Pompeo. Die beabsichtigten innerafghanischen Friedensverhandlungen würden «harte Arbeit und Opfer von allen Seiten»21 erfordern, bemerkte er. Nach der Umsetzung des Abkommens würden die ausländischen Truppen bis Ende April 2021 vollständig abgezogen werden. «Sollten schlimme Dinge passieren, werden wir zurückkehren»,22 drohte der US-Präsident. Die USA könnten den Krieg in Afghanistan gewinnen, dazu müssten sie aber «zehn Millionen Leute töten».23
  Die Kernforderung der Taliban wäre erfüllt, wenn der Abzug der ausländischen «Invasoren» tatsächlich erfolgen würde. Taliban-Chef Hibatullah Akhundzada nannte das Abkommen einen «grossen Sieg» seiner Bewegung. Er meinte, dass das Abkommen «zum Ende der Besatzung»24 Afghanistans führen werde. Die Taliban verpflichteten sich unter anderem dazu, dass von Afghanistan keine Terrorbedrohung gegen die USA und ihre Verbündeten mehr ausgehe. Das ist nichts anderes als ein Alibi-Argument, denn von Afghanistan ist nie eine Terrorgefahr für die USA und ihre Verbündeten ausgegangen.
  Ein weiterer Bestandteil des Abkommens ist die Festlegung, dass die Taliban Verhandlungen mit der Kabuler Administration führen sollen. Das wären dann die eigentlichen Friedensgespräche. Bisher hatten sie sich geweigert, direkt mit der Kabuler Führung zu verhandeln, weil sie die Regierung für eine Marionette der USA halten. Die Unterredungen sollen der Vereinbarung zufolge zu einem dauerhaften Waffenstillstand und einem -politischen Fahrplan für die Zukunft Afghanistans führen. Es besteht die reale Möglichkeit, dass es zu einer erneuten Spaltung der Bewegung der Taliban kommen könnte. Die Spaltergruppe würde sich dann der in Afghanistan operierenden Da’esch «Islamischer Staat» (IS) anschliessen und zu dessen Stärkung beitragen. Dann wäre das Land am Hindukusch vom Regen in die Traufe gekommen.

Wie viele US-Truppen werden tatsächlich abgezogen?

Die USA sichern zu, die Zahl ihrer Soldaten binnen 135 Tagen von rund 13 000 auf 8600 zu verringern. Die Stärke der internationalen Truppen soll proportional sinken. Nur fünf von 16 grossen und zwölf kleinere US-Militär-Basen müssten demnach in diesem Zeitraum geschlossen werden. Sollte das Abkommen halten, würden innerhalb von 14 Monaten – also bis Ende April 2021 – alle ausländischen Truppen abziehen. In der gemeinsamen Erklärung Washingtons und Kabuls vom 28. Februar 2020 heisst es dazu einschränkend: «Gemäss der gemeinsamen Einschätzung und Entscheidung der USA und Afghanistans» sowie «in Abhängigkeit von der Erfüllung ihrer im Abkommen mit den USA übernommenen Verpflichtungen durch die Taliban».25 In einer Erläuterung des US State Departments zu dem Doha-Abkommen wird hervorgehoben, der Abzug der US-Truppen sei «Conditions based» (bedingt) und «wird davon abhängen, wie gut die Taliban sich an ihre Verpflichtungen halten».26 Beurteilt wurden die Erklärungen noch von keiner internationalen Instanz, sondern ausschliesslich von der US-Administration in Absprache mit der Kabuler Führung. Es wäre ein Wunder, wenn Trump wirklich die Absicht hätte, seine Truppen aus dem längsten Krieg in der Geschichte der Vereinigten Staaten herauszuholen. Aber es ist eher wahrscheinlich, dass er nach dem Motto des deutschen Altkanzlers Konrad Adenauer handeln wird: «Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern.» Falls er am 3. November für eine zweite Amtszeit gewählt werden sollte, könnte er ganz anders über einen US-Militär-Abzug entscheiden. Ausserdem kann er sich auf das 2012 abgeschlossene «Strategic Partnership Agreement» berufen, das den USA erlaubt, bis 2024 Truppen in Afghanistan zu stationieren. Darüber hinaus gibt es ein geheimes Abkommen von 2002 zwischen der Kabuler Administration unter Hamid Karzai und den USA, wonach die US-Einheiten für 99 Jahre in Afghanistan bleiben dürfen. Es gibt also viele Imponderabilien, wodurch die ganze Geschichte ad absurdum geführt werden könnte.

Erst bringt man den Krieg, dann zieht man sich zurück?

Im Zusammenhang mit dem IS-Anschlag am 6. März 2020 in der afghanischen Hauptstadt Kabul, in dessen Folge mehr als 30 Menschen ums Leben kamen, wurde Trump darauf angesprochen, wie die USA künftig für die Sicherheit Afghanistans sorgen wollen, da die afghanische Regierung nach einem Abzug der US-Truppen nicht mehr auf militärische Unterstützung der USA zur Abwehr der Taliban bzw. des IS bauen könne. «Irgendwann müssen Länder für sich selber sorgen», sagte Trump am 6. März im Weissen Haus auf die Frage eines Reporters, ob er eine Machtübernahme der Taliban nach dem geplanten Abzug befürchte. «Irgendwann werden sie sich selber schützen müssen.»27 Die US-Soldaten seien inzwischen seit fast zwei Jahrzehnten in Afghanistan im Einsatz. Es wurden 2000 US-Soldaten getötet28 und mehr als 20 000 verletzt. «Wir können nicht die nächsten 20 Jahre dort sein.»29 Ergänzend stellte Zalmay Khalilzad Anfang März fest, dass die USA niemanden um Erlaubnis gebeten hätten, als sie nach Afghanistan einmarschierten. Sie werden dies auch nicht tun, wenn sie abziehen wollen.

Präsidentenfarce in Afghanistan

Nach langer Wartezeit hatten sich auf dem Gelände des Präsidentenpalastes in Kabul die politischen Rivalen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah am 9. März 2020 in getrennten Zeremonien zum Präsidenten Afghanistans erklärt. Der US-Sondergesandte Khalilzad hatte nur an der Vereidigung Ghanis teilgenommen, damit wurde signalisiert, dass die US-Administration ihn im Machtkampf gegen Abdullah stützen wird.
  Während der Vereidigungszeremonien mit hunderten Gästen waren in der afghanischen Hauptstadt zwei Explosionen zu hören. Mehrere Gäste flüchteten. Ghani nutzte das zu einer Kampfansage. Unter dem Geheul von Alarmsirenen sagte er vor den verbliebenen Gästen, er trage keine schusssichere Weste. «Ich werde bleiben, selbst wenn ich dafür meinen Kopf opfern muss.»30 Ghani war Mitte Februar, fünf Monate nach der von Betrugsvorwürfen überschatteten Präsidentenwahl, zum Wahlsieger erklärt worden. Sein unterlegener Kontrahent, Regierungschef Abdullah, erkannte das Wahlergebnis nicht an und rief eine Gegenregierung aus. Der Streit der Rivalen nährt die Angst vor einer abermaligen politischen Krise in Afghanistan und überschattet zusätzlich das Ende Februar unterzeichnete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban. Schon bei der vorangegangenen Präsidentenwahl vor fünf Jahren hatten sich sowohl Ghani als auch Abdullah zum Sieger erklärt. Erst durch Vermittlung des damaligen US-amerikanischen Aussenministers John Kerry, der die Kontrahenten in der Kabuler US-Botschaft eingesperrt hatte, einigten sich die beiden auf einen Kompromiss: Ghani wurde Staatschef und Abdullah Regierungschef,31 obwohl der Posten eines Regierungschefs in der afghanischen Verfassung nicht vorgesehen ist.
  Im März hatte der Streit eine neue Stufe erreicht. Zwei Tage nach seinem Amtsantritt hatte Präsident Ghani am 11. März seinen Regierungsgeschäftsführer und Wahlrivalen Abdullah Abdullah abgesetzt. Das Büro des Regierungsgeschäftsführers existiere nicht mehr in der Struktur der afghanischen Regierung, sagte Ghanis Sprecher Sediq Sediqqi während einer Pressekonferenz am 11. März.32 Abdullah erklärte daraufhin auf seiner offiziellen Facebookseite, dass Ghani nicht länger Präsident sei und seine Dekrete keine Gültigkeit mehr hätten. «Wir fordern zivile und militärische Mitarbeiter der früheren Regierung auf, ihre täglichen Aufgaben und Verantwortungen wie früher fortzusetzen», schrieb Abdullah.

Einigung auf afghanisch

Nichtsdestoweniger hatten sich Ghani und Abdullah am 17. Mai geeinigt, das Land künftig gemeinsam zu regieren.33 Dies war jedoch nur auf Grund des massiven Drucks der USA zustandegekommen. Für die Taliban änderte das nichts daran, dass sie aus der zwischen den beiden Kontrahenten ausgetragenen Auseinandersetzung für die beabsichtigten innerafghanischen Gespräche, mit denen eine politische Lösung des Konflikts erreicht werden soll, einen strategischen Pluspunkt für sich verbuchen konnten. Über einen so zerstrittenen Haufen können sie sich nur freuen. Den Verhandlungen mit einer derartigen Kabuler Administration konnten die Taliban ganz entspannt entgegensehen.34 Die USA sehen in der Unfähigkeit Ghanis und Abdullahs zusammenzuarbeiten eine «direkte Bedrohung»35 der US-Interessen am Hindukusch. Am 23. März 2020 ist Mike Pompeo nach Kabul gereist. Dort begegnete er zwei «Präsidenten»: Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah. Der US-Aussenminister war nach seinen Gesprächen mit den beiden «Präsidenten» so verärgert, dass die USA ihre Finanzhilfe um eine Milliarde US-Dollar kürzen wollten. Die US-Administration sei auch zu weiteren Einschnitten bereit, so Pompeo. Ghani und sein Kontrahent Abdullah sollten sich «am Riemen reissen»36, dann würden die Einschnitte möglicherweise nicht nötig sein, drohte Pompeo vor seiner Abreise. Die US-Administration befürchtete, dass der eingeleitete Friedensprozess am Hindukusch dadurch scheitern könnte.

Innerafghanischer Dialog

Die Tinte auf dem Papier, auf dem das Abkommen zwischen dem US- und dem Taliban-Vertreter unterzeichnet wurde, war noch nicht trocken, da setzten die Taliban ihre Angriffe auf die afghanischen Sicherheitskräfte in verstärktem Masse fort. Es gab «innerhalb einer Woche in 32 der 34 Provinzen insgesamt 422 Angriffe der militant-islamischen Taliban. Dabei seien 291 Soldaten und andere Sicherheitskräfte getötet und 550 verletzt worden»37, meldete die Deutsche Presseagentur (dpa). Damit wollten die Taliban ihre unangefochtene Stärke demonstrieren und aus dieser Position heraus mit der Kabuler Administration in die innerafghanischen Verhandlungen gehen. Darüber hinaus wollten sie die vollständige Freilassung ihrer noch in Haft befindlichen Mitglieder erzwingen. Die afghanische Administration weigerte sich zunächst, die 400 als besonders gefährlich geltenden Gefangenen freizulassen. Darunter waren 156 Taliban, die wegen «ihrer Verbrechen eigentlich zum Tode verurteilt waren, weitere 105 wegen eines Mordvorwurfs in Haft seien und 51 wegen Drogenschmuggels»38, lautete die Begründung von Sediq Sediqqi, des Sprechers des afghanischen Präsidenten. Auch die Regierungen Frankreichs, Australiens und der Vereinigten Staaten haben sich gegen die Freilassung derjenigen Taliban ausgesprochen, die an der Tötung ihrer Soldaten beteiligt waren.39 Nun befand sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani in einer Zwickmühle. Mit einem geschickten Schachzug hat Ghani die Verantwortung an die Repräsentanten der afghanischen Völkerschaften übertragen. Er berief am 7. August 2020 die traditionelle Ratsversammlung, die Loya Jirga ein, die über die Freilassung der als gefährlich eingestuften Taliban entscheiden sollte. Wie erwartet sprachen sich fast alle 3400 Delegierten für die Freilassung der noch in Haft befindlichen Taliban-Kämpfer aus.40 Die Abgeordnete Belqis Roschan sah die Zustimmung als «nationalen Verrat» an. Dafür wurde sie von der Abgeordneten Schekeba Safi zu Boden geworfen. Mit der Zustimmung der Loya Jirga zu der Freilassung der Taliban-Gefangenen wurde der Weg frei für die sehnsüchtig erwarteten innerafghanischen Friedensverhandlungen. Innerhalb von einer Woche sind wir bereit für einen Dialog, verkündete der Sprecher des politischen Büros der Taliban, Suhail Schahin.41 Am 12. August trafen die Abordnungen der Taliban und der afghanischen Administration in Katars Hauptstadt Doha ein. In den Medien wird fälschlicherweise von einer Verhandlung der Taliban mit der afghanischen Regierung gesprochen. Da die Taliban die Regierung in Kabul nicht anerkennen und sie als Marionette der USA einstufen, besteht die Delegation aus Kabul nicht aus Regierungsmitgliedern, sondern aus Parlamentariern, der Entourage der Warlords, der sogenannten Zivilgesellschaft usw. Den Vorsitz hat Präsident Ghani seinem Rivalen Abdullah übertragen. Sollten die als gefährlich eingestuften Taliban wieder in den Dschihad ziehen, wird man die Loya Jirga als dafür verantwortlich benennen. Im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen mit den Taliban wird Abdullah als gescheiterer Politiker diskreditiert sein.
  «Die Forderung der Loya Jirga nach einer Waffenruhe»42 lehnten die Taliban umgehend ab. Seit dem Abkommen am 29. Februar 2020 zwischen den Taliban und den Vereinigten Staaten sind «mehr als 10 000 Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte getötet oder verletzt worden».43 Im Juli 2020 haben die Aufständischen sogar das Büro des afghanischen Vizepräsidenten Amrullah Saleh angegriffen und am 9. September haben sie ein Attentat auf seine Autokolonne verübt. Bei dem ersteren wurden 24 und bei dem letzteren zehn Menschen getötet.44 Da Saleh in der Regierungszeit von Hamed Karsai Geheimdienstchef war und als einer von den gnadenlosen Folterern auch der Taliban galt, ist er Zielscheibe der Angriffe der Aufständischen.
  Die Taliban bekräftigten ihre Forderungen, zunächst über die eigentlichen Gründe des Krieges gegen Afghanistan zu sprechen. Danach könnte man eine Waffenruhe in Erwägung ziehen. Als wichtigstes Ziel nannte der Sprecher ihrer Delegation, Mohammad Naeem Wardag, «die Beendigung der ‹Besatzung› Afghanistans und die Errichtung eines ‹wahren islamischen Systems›»45 am Hindukusch. Darüber hinaus wollen die Taliban im Falle einer Regierungsbeteiligung die Leitung der Schlüssel-Ministerien innehaben.
  Da die Verhandlungen zwischen den Taliban und den USA über mehr als eine Dekade beanspruchten, kann man davon ausgehen, dass die innerafghanischen Gespräche einer Arbeit ähneln, die Sisyphos aufgebürdet war.

Abzug oder Wahltaktik?

Während US-Verteidigungsminister Mark Esper am 8. August 2020 bei dem US-Sender Fox News von einer Reduzierung der US-Armee von derzeit 8600 auf 5000 bis Ende November sprach,46 hat US-Präsident Donald Trump am 7. Oktober 2020 angekündigt, die «tapferen Männer und Frauen, die noch in Afghanistan dienen»,47 bis Weihnachten vom Hindukusch abzuziehen. In dem Abkommen vom Februar 2020 zwischen den USA und den Taliban war von einem vollständigen Abzug erst im Jahre 2021 die Rede. Ob dies wieder eine von seinen 20 000 Lügen, also «fake news», ist, die die «New York Times»48 und «Washington Post»49 gezählt haben, oder eher seine Wahltaktik darstellt, wird die Zukunft zeigen. Er hatte schon früher seinen Wählern versprochen, die US-Armee aus Afghanistan abzuziehen. Da seine Umfragewerte nicht gut aussehen, versucht er es mit neuen drastischen Ankündigungen.
  Die Taliban haben diese jedenfalls mit Genugtuung und als willkommen zur Kenntnis genommen. Am 8. Oktober 2020 begrüsste der Sprecher der Taliban, Sabihullah Mujahed, Trumps Erklärung «als positiven Schritt für die Umsetzung des Friedensabkommens zwischen den USA und den Taliban. Die Taliban fühlten sich dem Abkommen verpflichtet und hofften auf Beziehungen zu allen Staaten, einschliesslich den USA.»50 Abdullah, der als Vorsitzender des Hohen Rates für Versöhnung und als Delegationsleiter bei den Verhandlungen in Doha fungiert, sagte nüchtern: «Es wird ein bisschen dauern, bis wir das verdaut haben.»51
  Würde es tatsächlich zu einem Abzug der US-Einheiten kommen, könnte es sein, dass die Taliban durch ihre militärische Stärke motiviert werden, die Regierung in Kabul zu stürzen. Das wäre dann die nächste Runde eines innerafghanischen Krieges. Denn die Warlords werden nicht zulassen, dass man ihnen die Butter von Brot nimmt.   •


1  vgl. Ettmayer, Wendelin. «Weltweite Übermacht der USA?», in: International, Wien, I/2020, S. 7
2  vgl. Misteli, Samuel. «Die Taliban haben die besten Karten», in: Neue Zürcher Zeitung vom 29.2.2020, S. 11
3  Meier, Christian/Sattar, Majid. «Die Taliban sind grosse Kämpfer», in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.3.2020, S. 5
4  Meier, Christian/Sattar, Majid. «Streit über Afghanistan-Vereinbarung», in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.3.2020, S. 1
5  Glatz, Rainer L./Kaim, Markus. «Mandat verlängern – Abzug vorbereiten», in: SWP-Aktuell, Berlin, Nr. 18 vom März 2020, S. 2
6  vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2006/umfrage/gefallene-oder-verunglueckte-soldaten-der-westlichen-koalition-in-afghanistan/. Im Rahmen der «Operation Enduring Freedom (2001 bis 2020) sind 2400 US-Soldaten gefallen, vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/72801/umfrage/kriege-der-usa-nach-anzahl-der-soldaten-und-toten/. Zwischen den Jahren 2001 bis zum 22.1.2020 kamen insgesamt 3587 Soldaten der westlichen Allianz in Afghanistan ums Leben, vgl. de.statista.com/statistik/daten/studie/2006/umfrage/gefallene-oder-verunglueckte-soldaten-der-westlichen-koalition-in-afghanistan/
7  Die Bundesrepublik Deutschland hat insgesamt 58 Tote und mehr als 100 Verletzte zu beklagen. Etwa 90 000 Soldaten der Bundeswehr waren seit Januar 2002 am Hindukusch eingesetzt. 2014 waren es fast 5000 Soldaten, bis heute blieben 1234 dort. Der Einsatz hat die deutschen Steuerzahler bis jetzt über sechs Milliarden Euro gekostet. Vgl. Carstens, Peter. «Verteidigung am Hindukusch», in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.3.2020, S. 10
8  In: Moskowskij Komsomolets, Moskau, vom 2.3.2020
9  Meier, Christian/Sattar, Majid. «Die Taliban sind grosse Kämpfer», a.a.O., S. 5
10  Vgl. «Anschlag in Nordafghanistan: Taliban töten trotz Abkommen weiter», dpa vom 4.3.2020
11  Käppner, Joachim. «Die Kämpfe sind intensiver geworden» (Interview), in: Süddeutsche Zeitung vom 16.4.2020, S. 5
12  «Taliban weisen Angebot aus Kabul zurück», AFP vom 11.3.2020
13  vgl. «Taliban widersprechen Ghani», in: Süddeutsche Zeitung vom 3.3.2020, S. 7
14  vgl. «Taliban lassen weitere Gefangene frei», in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.4.2020, S. 6
15  vgl. «Afghanische Regierung liess weitere 300 Taliban frei», in: Salzburger Nachrichten vom 5.5.2020
16  vgl. «USA fliegen Angriff auf Taliban», dpa vom 4.3.2020
17  vgl. Matern, Tobias. «Friedensabkommen zwischen USA und Taliban wackelt», in: Süddeutsche Zeitung vom 2.3.2020, S. 1
18  «Trump: USA und Taliban unterzeichnen Abkommen», dpa vom 27.2.2020
19  Meier, Christian. «Ende eines endlosen Kriegs?», in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.3.2020, S. 1
20  Meier, Christian/Sattar, Majid. «Die Taliban sind grosse Kämpfer», a.a.O., S. 5
21  ebenda
22  ebenda
23  ebenda
24  ebenda
25  Mellenthin, Knut. «Bedingt bereit», in: Junge Welt vom 2.3.2020, S. 8
26  ebenda
27  «Trump: Machtübernahme der Taliban in Afghanistan möglich», AFP vom 6.3.2020
28  vgl. «Bislang 2000 US-Soldaten in Afghanistan getötet», dapd/AP vom 30.9.2012
29  «Trump: Machtübernahme der Taliban in Afghanistan möglich», dpa vom 6.3.2020
30  «Zwei Vereidigungen in Kabul», AFP vom 9.3.2020
31  vgl. «Zwei Vereidigungen in Kabul», AFP vom 9.3.2020
32  vgl. «Afghanistans Präsident setzt Wahlrivalen ab», dpa vom 11.3.2020
33  vgl. «Rivalen in Afghanistan raufen sich zusammen», AFP/dpa vom 17.5.2020
34  vgl. Matern, Tobias. «Alles läuft für die Taliban», in: Tages-Anzeiger vom 2.3.2020, S. 2
35  Matern, Tobias. «Vermittlungen gescheitert», in: Süddeutsche Zeitung vom 25.3.2020, S. 7
36  ebenda
37  dpa vom 22.6.2020; «Fast 300 Tote in einer Woche», in: Süddeutsche Zeitung vom 23.6.2020, S. 6
38  Matern, Tobias. «Taliban erzwingen Amnestie», in: Süddeutsche Zeitung vom 10.8.2020, S. 7
39  Meier, Christian. «Kabul stoppt Gefangenaustausch», in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.8.2020, S. 6
40  vgl. Meier, Christian. «Die schwierigen Fragen kommen noch», in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.8.2020, S. 8
41  vgl. Matern, Tobias. «Taliban bereit für Dialog», in: Süddeutsche Zeitung vom 12.8.2020, S. 7
42  Meier, Christian. «Die schwierigen Fragen kommen noch», in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.8.2020, S. 8
43  ebenda
44  vgl. Meier, Christian. «Attentat in Kabul», in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.9.2020, S. 5
45  Meier, Christian. «Noch keine Einigung auf Waffenruhe», in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.9.2020, S. 5
46  vgl. Matern, Tobias. «Taliban erzwingen Amnestie», in: Süddeutsche Zeitung vom 10.8.2020, S. 7
47  dpa vom 8.10.2020; «Zufriedene Taliban», in: Süddeutsche Zeitung vom 9.10.2020, S. 6
48  vgl. https://www.jetzt.de/netzteil/new-york-times-veroeffentlicht-liste-mit-allen-luegen-von-donald-trump

49  vgl. «Trump lügt im Schnitt zwölf Mal am Tag», in: The Washington Post; zitiert nach: https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/usa/id_85665402/trump-luegt-im-schnitt-zwoelf-mal-am-tag-10-000-luegen-seit-amtsantritt-.html
50  ebenda
51  ebenda

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