Die Landsgemeinde als direktdemokratische Basis für den Ordnungsrahmen im Wirtschaftskanton Glarus

Geschichte als Grundlage für das Verständnis der Gegenwart

von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich

Am 3. Oktober 2020 hat in Elm die wissenschaftliche Konferenz des Forschungsinstituts direkte Demokratie FIDD stattgefunden, das von Dr. René Roca geleitet wird. Die Tagungsbeiträge sind auf der Webseite des FIDD abrufbar. Thema war «Der Kanton Glarus als Förderer der direkten Demokratie».

Ein Teil der Beiträge war der Landsgemeinde selber gewidmet. Von einigen Politologen wird kritisiert, dass bei einer knappen Abstimmung die Stimmen nicht ausgezählt werden, sondern der Landammann (eventuell zusammen mit seinen Kollegen im Regierungsrat) die Mehrheit schätzt. Dieses Vorgehen ist für die Glarner ein Vertrauensbeweis für die gewählte Regierung und gehört seit den Anfängen dazu. Alt Landammann Kaspar Rhyner sagte einmal: «Der Papst und der Glarner Landammann sind unfehlbar. Ihr Entscheid kann nicht angefochten werden!» Ein weiterer Kritikpunkt wird von den Referenten der Tagung angesprochen: Kranke und alte Leute können an der mehrere Stunden dauernden Versammlung nicht teilnehmen. Der Autor vertrat in seinem Vortrag demgegenüber die These, dass die «integrative Kraft» der Landsgemeinde solche Schwächen bei weitem kompensiert. Mehr noch: Diese Kraft bildet von jeher die Basis für den wirtschaftlichen Ordnungsrahmen und erklärt zu einem grossen Teil das für einen Bergkanton ungewöhnliche «Wirtschaftswunder». Der Beweis für diese These liegt in der Geschichte. Dazu der im Kanton Glarus aufgewachsene Historiker Georg Thürer: «Wenn Geschichte bilden soll, dann darf sie nicht in einer Masse von Daten aller Art ersticken. Sondern aus der Fülle, ja Überfülle, muss der Darsteller, auch der Lehrer, das herausgreifen, was die Einsicht in die Zusammenhänge vertieft, welche zur Kultur der Gegenwart führten.» (Thürer 1998, S. 40)
  Die Landsgemeinde in Glarus ist sehr alt, so dass wir die Zeit der Gründung der Eidgenossenschaft im Jahr 1291 mit einbeziehen müssen. Es ging damals nicht nur um Freiheit. Der Bund der drei Urkantone von 1291 hatte schon früh einen wirtschaftlichen Hintergrund. Der Gotthardpass ist die kürzeste Verbindung über die Alpen. Den Römern war es noch nicht gelungen, diesen Weg zu benutzen. Sie querten die Alpen über die Bündner Pässe. Die Schöllenenschlucht vor Andermatt war für sie noch ein unüberwindliches Hindernis. Ungefähr um 1250 gelang die bahnbrechende Tat: Tüchtige Handwerker bauten eine Brücke über die Schöllenen, so dass eine kürzere Handelsroute über den Gotthard nach Süden zur Verfügung stand. Die Bauern in Uri und Schwyz nahmen ihre Chance schnell wahr. Sie bildeten Säumergenossenschaften, bauten die Route aus und richteten Übernachtungsmöglichkeiten ein. Sie profitierten bald von einem regen Handelsverkehr und kamen so mit der «Welt» in Kontakt. Es versteht sich von selbst, dass die Bauern nicht gewillt waren, diese Nord-Süd-Verbindung aus der Hand zu geben. Es erstaunt nicht, dass die auf der Nordseite liegenden Handelsstädte wie Luzern, Zug und Zürich sich schnell dem Bund anschlossen. Auch sie hatten die Bedeutung des Gotthards erkannt. Nur wenig später kam Bern dazu, das die Handelswege und den Wirtschaftsraum im Westen kontrollierte.
  In dieser Zeit – 1352 – eroberten die Eidgenossen auch das Land Glarus, das mit eingeschränkten Rechten in den Bund aufgenommen wurde (minderer Bund). Glarus kontrollierte im Norden ein Stück des Handelswegs, der von Zürich über den Walensee ins Rheintal und über die Bündner Pässe in den Süden führte. Glarus hat über den Klausenpass auch Zugang zur Gotthardroute. Die Eidgenossenschaft war nun in kurzer Zeit zu einem wirtschaftlich potenten und kompakten Gebiet herangewachsen, das zusammen mit den zugewandten Orten in St.Gallen und Graubünden beide Handelswege in den Süden kontrollierte und grosse Zukunftschancen hatte.
  Es erstaunt nicht, dass auch die Grossmächte und Fürsten dieser Zeit dies erkannten und alles unternahmen, um diese Gebiete wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen. Grössere Konflikte waren nicht zu vermeiden. Stichwörter dazu sind: die Schlacht bei Morgarten 1315, die Schlacht bei Sempach 1386, die beide für die Eidgenossen siegreich verliefen. Die Glarner kämpften in der Schlacht bei Sempach auf seiten der Eidgenossen mit und wurden danach als gleichwertiges Mitglied im Bund anerkannt.

Erste Landessatzung von 1387: Landleute bestimmen selber

Einige Monate später – am 11. März 1387 – traten «Amman und Landlüt gemeinlich ze Glarus» zur ersten Landsgemeinde als freies Land zusammen und gaben sich eine Verfassung – die erste Landessatzung. Sie kam zustande mit «Gunst und guotem Willen der wissen, fürsichtigen, unser lieben Eidgenossen … dieser nachgeschribnen Stuken überein gekommen syen.» (zit. nach: Davatz, S. 42) Jedes Jahr wurden in Glarus 15 Richter gewählt, die über jede Sache gerecht richten «bei Armen und bei Richen». Entsteht ein gewaltsamer Streit, so soll jedermann Frieden gebieten. Dann müssen die Streitenden sofort vom Kampf ablassen. Weitere Bestimmungen regeln das Heiraten, Erben, Bevormunden und die Strafen für Beschimpfung und Diebstahl. – Kommen die Landleute zu Beschlüssen zusammen, soll die Minderheit der Mehrheit folgen. Das gleiche Prinzip gilt in den Gemeinden. – Mit diesen Bestimmungen legen die Glarner die Grundlage zur heutigen demokratischen Verfassung (Davatz, S. 42).

Näfelserfahrt …
und erkämpfen sich die Freiheit

Den Glarnern stand allerdings noch eine schwere Prüfung bevor. Die in Sempach geschlagenen Habsburger kehrten nur ein Jahr später – 1388 – mit grosser Heeresmacht zurück, um das Land Glarus zurückzuerobern. Die Glarner schickten sofort Boten in die Innerschweiz und nach Zürich. Aber die Habsburger waren schneller, und die Glarner mussten sich alleine verteidigen. Es kam zur Schlacht bei Näfels. Die Angreifer durchbrachen die Letzi, die Schutzmauer im Norden des Landes, und drangen siegesgewiss in das Innere von Glarus vor. Aber dann kamen sie – die Glarner – und ruhten nicht, bis sie die Habsburger wieder zurückgedrängt und hinausgeworfen hatten.
  Die Landsgemeinde beschloss danach, dass die Bevölkerung jedes Jahr am ersten Donnerstag im April zusammenkommt, für die Gefallenen betet, die «Lib und Leben» verloren haben, und Gott und den Heiligen für den Sieg dankt. Die Opfer dieses Kampfes liegen auf dem Friedhof von Mollis. – Dieses Ereignis war der Beginn einer langen Tradition, die bis heute gepflegt wird. An der Näfelserfahrt besuchen die Glarner jedes Jahr im stillen Zuge die verschiedenen Orte, wo gekämpft wurde. Die heutige Frau Landammann Marianne Lienhard hat 2019 in Schneisingen (wo der Hauptkampf stattfand) die Fahrtsrede gehalten. Anschliessend geht die Fahrt weiter zum Fahrtsplatz in Näfels. Dort hält jedes Jahr abwechslungsweise ein katholischer und ein evangelischer Geistlicher eine Predigt. Anschliessend wird der historische Fahrtsbrief vorgelesen. Er schildert die Ereignisse mit den Namen der Gefallenen, die auf der Brüstung der Empore der Kirche eingraviert sind.
  Die Näfelserfahrt ist weit mehr als eine historische Veranstaltung. Sie ist eine Gedenk- und einzigartige Geschichtsstunde. Sie will die Freiheit schützen und den Frieden bewahren. Während die Landsgemeinde ein öffentlicher Anlass ist, heute mit vielen Gästen aus dem In- und Ausland, sind die Glarner an der Näfelserfahrt  unter sich – zur inneren Besinnung. Beide sind für den Zusammenhalt von grosser Bedeutung, wie ich nun zeigen werde.

Ewiger Friede mit Frankreich von 1516

Für die Eidgenossen kehrte nach der Schlacht bei Näfels kein Friede ein. Die Angriffe hörten in den kommenden Jahrzehnten nicht auf. Etwas verkürzt: Vom Westen griffen die Burgunder unter Karl dem Kühnen an und scheiterten dreimal – in Grandson, Murten und in Nancy. Von Norden griff der deutsche Kaiser im Schwabenkrieg auf breiter Front an – ebenfalls vergeblich. Mit Freiburg, Solothurn, Basel, Schaffhausen und Appenzell kamen neue Mitglieder zum Bund dazu. Nun waren die Eidgenossen auf dem Weg zur Grossmacht und gingen selber auf Eroberungszug. Und es kam 1515 bei Marignano in der Lombardei zur ersten grossen Niederlage gegen die Grossmacht Frankreich mit ihrem König Franz I. Auch hier waren Glarner dabei.
  Auch dieses Ereignis sollte für Glarus von grosser Bedeutung werden. Und zwar nicht die Schlacht selber (die ja verlorenging), sondern das, was nachher folgte. Der französische König Franz I. war ein weiser König, der sich nicht einbildete, die Eidgenossen beherrschen zu können. In den folgenden Friedensverhandlungen verlangte er gar nichts – kein Geld, keinerlei Konzessionen und schon gar nicht Gebietsabtretungen. Sondern er machte den Eidgenossen im Ewigen Frieden von 1516 ein verlockendes Angebot: Er bot einen Freihandelsvertrag mit Frankreich an, so dass sie ihre Produkte zollfrei einführen konnten, und einen Soldvertrag, der Frankreich das Recht gab, Söldner anzuwerben. Die Eidgenossen nahmen das Angebot an. Beides sollte für Glarus und für die ganze Eidgenossenschaft sehr wichtig werden. Es war eine Zeitenwende und ein erster Schritt in Richtung Neutralität (Thürer 1965). Macht den Zaun nicht zu weit, hatte Niklaus von Flüe geraten.

Der Weg in eine neue Zeit

Der Freihandelsvertrag mit Frankreich war ein günstiger Boden für die frühe wirtschaftliche Entwicklung. Auch die Soldverträge waren wichtig. Glarus als Gebirgskanton hatte nicht genug fruchtbaren Boden, um die wachsende Bevölkerung auf eigenem Grund und Boden zu ernähren, so dass manche schon früh auswanderten. So finden wir ihre Spuren an der Wolga, auf der Krim und auch in New Glarus im US-Staat Wisconsin (Davatz 1980, S. 233–239). Die Soldverträge gaben den jungen Männern eine Chance, im Ausland Geld zu verdienen und die Welt kennenzulernen. Sold und Beute lockten. Freihandelsverträge öffneten die Wege, um die eigenen Produkte im Ausland zu verkaufen.

Zur Bedeutung der Landsgemeinde für die Landwirtschaft

Ein grosser Reichtum des Landes Glarus waren und sind die über hundert Alpen. Die meisten gehören auch heute den Gemeinden oder Korporationen. Die Glarner betrieben Viehzucht und hatten oft viel mehr Tiere auf ihren Alpen, als sie im Winter mit eigenem Heu durchfüttern konnten. Sie verkauften die Tiere ins Welschland. Das waren damals das Tessin und Norditalien. Grosse Herden zogen im Herbst über die Bergpässe auf die Viehmärkte in Lugano, Bellinzona und Mailand. Sie benützten auch den Weg über den Panixerpass bei Elm ins Rheintal und von dort über die Bündnerpässe in den Süden. Sie waren ungefähr zehn Tage unterwegs und brachten ihre Tiere in der Nacht in gemieteten Ställen unter. Als Handelsgüter kamen der Käse und der Ziger dazu.
  Die Alpen waren deshalb oft Thema an den Landsgemeinden. Die Zahl der Tiere auf jeder Alp war beschränkt. 1861 beschloss die Landsgemeinde das erste umfassende Alpgesetz, das nicht nur die Nutzung, sondern auch die Pflege der Alpen beinhaltete.

Zur Bedeutung der Landsgemeinde für das Soldwesen

Die Glarner führten das Soldwesen als selbständige Unternehmer. Das bekannteste Beispiel ist Oberst Kaspar Freuler in Näfels. -Freuler schloss mit dem König von Frankreich Verträge ab. Solche Verträge waren nie eine reine Privatsache. Sie wurden von der Landsgemeinde bewilligt. Ein Teil des Geldes floss in den Säckel der Landesregierung. Manchmal erhielt jeder einzelne Bürger eine kleine Zahlung.
  Die Glarner Söldner von damals können jedoch nicht mit den Söldnern von heute verglichen werden, die in Afghanistan kämpfen, in Libyen oder auch in Syrien. Sie waren hochgeachtete Persönlichkeiten, deren Stimme in der Heimat etwas galt.
  Als Soldunternehmer wählte Kaspar Freuler seine Offiziere aus, stellte seine Soldaten ein und rüstete sie aus. Er führte sie meist nach Frankreich. Dafür erhielt er vom König einen grösseren Betrag. Davon musste er alles bezahlen. Wenn er dies gut organisierte und auch etwas Glück hatte, blieb ein Gewinn – manchmal auch ein grosser Gewinn, wovon sein palastähnliches Haus in Näfels zeugt. Aber es war nicht nur das Geld. Freuler und die anderen Soldunternehmer, wenn man sie so nennen will, schufen eine eigentliche Militärkultur, die stark mit der Heimat verbunden war. Ihre Soldaten galten als besonders zuverlässig und treu. Oberst Freuler war zwar mehrheitlich in Paris – aber seine Familie lebte in Näfels. Seine Heimat blieb das Land Glarus. Der Freuler-Palast ist heute «Museum des Landes Glarus».
  Glarner Kompanien gehörten zur Schweizer Garde, die der französische König ähnlich wie der Papst in Rom zu seinem persönlichen Schutz und für Repräsentation angeworben hatte. In der Französischen Revolution verteidigten sie den König in den Tuilerien heldenhaft gegen den Ansturm der aufgebrachten Pariser Massen. Ein grosser Teil kam um. Gardemajor Karl von Bachmann aus Näfels, der die Verteidigung des Königs organisiert hatte, wurde von einem Revolutionsgericht zum Tode verurteilt und starb wie der König auf der Guillotine. Heute erinnert das Löwendenkmal in Luzern an diese Ereignisse (Winteler, S. 244–45).
  Die Glarner Kompanien waren nicht nur in Frankreich im Einsatz, sondern in vielen europäischen Ländern – so in Spanien, Portugal, Italien oder auch in Preussen und Russland. Zwingli bekämpfte zwar die «Reisläuferei» heftig; aber auch reformierte Gemeinden schickten ihre Soldaten vor allem nach Holland. Manche standen auch im Dienst der ostindischen Gesellschaft, so dass die jungen Männer bis nach Indonesien kamen. – Diese Weltorientierung und Weltgewandtheit war zweifellos ein günstiger Boden für die spätere industrielle Entwicklung, die vor allem in den reformierten Gemeinden früh vorangetrieben wurde (Davatz, S. 91–99).
  Das Soldwesen hatte auch seine Schattenseiten. Viele verloren ihr Leben. Zahlreiche Soldaten kehrten verarmt nach Hause zurück, manche mit einem bleibenden Schaden an Leib und Charakter. Sie konnten kaum mehr richtig arbeiten und für ihre Familie sorgen. Der einfache Soldat verdiente im 18. Jahrhundert nicht mehr als ein Heim- oder Fabrikarbeiter in der Heimat, so dass es bald bessere und weniger gefährliche Möglichkeiten gab, seinen Unterhalt zu verdienen.

Die Landsgemeinde in der Reformation

Huldrych Zwingli war zehn Jahre in Glarus, bevor er nach Zürich ging und 1517 die Reformation durchführte. 80 Prozent der Bevölkerung in Glarus haben sich für den neuen Glauben entschieden. Die Katholiken waren nur noch eine Minderheit von etwa 20 Prozent. Es stellte sich wie in vielen Kantonen der damaligen Schweiz die Frage: Können wir noch zusammenleben? Was geschieht mit unserer Landsgemeinde? Bestand doch die Gefahr, dass die Mehrheit der Reformierten die Minderheit der Altgläubigen ständig überstimmte. Wie liess sich das lösen, ohne dass es zu einer Spaltung kam?
  Die Glarner fanden einen Weg. Sie führten keinen Krieg, und sie teilten ihr Land nicht auf: Sie richteten drei Landsgemeinden ein: Eine Woche vor der gemeinsamen Landsgemeinde am 1. Sonntag im Mai trafen sich die Katholiken zur katholischen Landsgemeinde und die Reformierten zur evangelischen Landsgemeinde. Hier besprachen sie ihre eigenen Angelegenheiten. Dann – eine Woche später – trafen sie sich zur gemeinsamen Landsgemeinde. Für diese Landsgemeinde bestand ein spezieller Landesvertrag mit einem Turnus für die wichtigen Ämter. Drei Jahre amtete ein evangelischer Landammann, zwei Jahre ein katholischer. Der Säckelmeister wurde während sechs Jahren aus den Reihen der Neugläubigen und dann drei Jahre aus den Reihen der Altgläubigen gewählt.
  Auch ein Teil der Verwaltung und der Richter wurden aufgeteilt. Die Eidgenossen vermittelten so, wie dies bereits im Bundesbrief von 1291 erwähnt wird. Die katholische Minderheit hatte in Luzern und Schwyz gute Anwälte. So blieb das Land zusammen. Manche Gemeinden teilten sich jedoch auf. So wohnen noch heute in Oberurnen vorwiegend Katholiken und in Niederurnen die Reformierten. Aber: Das reformierte Zürich löste seine Klöster auf, im mehrheitlich ebenfalls reformierten Land Glarus passierte genau das Gegenteil: In Näfels wurde ein neues Kapuzinerkloster gegründet, das heute noch existiert.
  Warum ist dieser Weg gelungen? Ich denke, die Tradition hat Bande geknüpft, die Bestand hatten. Beide Seiten hatten nie vergessen, dass sie ihre Freiheit gemeinsam erkämpft hatten. Deshalb haben sie sich nie wegen Glaubensansichten die Köpfe eingeschlagen oder gar das Land aufgeteilt. – An anderen Orten der Schweiz verlief der Glaubenskonflikt schwieriger.
  Eine besondere kuriose Episode möchte ich hier noch anfügen: Papst Gregor hatte 1582 den Gregorianischen Kalender eingeführt, der sich später allgemein durchsetzen sollte und der bis heute gilt. Die Reformierten hielten am alten Julianischen Kalender fest, so dass es zur lustig-merkwürdigen Situation kam, dass sich die evangelischen Gemeinden auf Weihnachten freuten, und die Katholiken das neue Jahr bereits begonnen hatten.

Zur Bedeutung der Landsgemeinde für die Industrialisierung

Schon im frühen 18. Jahrhundert gab es einfache Spinnereien, die von Anfang an ihre Produkte in europäische Länder exportierten. So richtig begonnen hat die Industrialisierung allerdings in Elm: Schon früh wurden Schieferplatten hier in der Nähe von Elm im Plattenberg abgebaut. Sie wurden mit einem Holzrahmen zu Schreibtafeln eingefasst und fanden als Schreibwerkzeug in der Region rasch Verbreitung. Dabei blieb es jedoch nicht. Bald einmal kam ein Schreiner auf die Idee, die Schieferplatten als Tischplatten zu verwenden. Damit begann die grosse Geschichte der «Blattentische», die das Land Glarus weit über seine Grenze bekannt machte.
  Hier stiess ich in meinen Recherchen zum ersten Mal auf die Unternehmerfamilie Jenny aus Ennenda: Melchior Jenny und seine acht Brüder begannen, die Blattentische in ferne Länder zu verkaufen. Fridolin Tschudi gilt als Vater der Glarner Geschichtsschreibung. Er schrieb bereits im Jahr 1714: «Da haben verschiedene Land-Leuthe, allermeisten Ennedar, den Weg selbst unter die Füsse genommen und die in Kisten eingemachten Tische an viel auswertige Orte zu Wasser und Land abzuführen angefangen. Sie sind bis auf jetzt nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, Holland, Engelland, etwann auch in Dennemark, Schweden, Polen, Ungarn, Moscau, Spanien und Portugall, sind kurtzer Zeit aber auch in Italien und auf Rom geführet worden.» (Davatz, S. 190)
  Wie kamen die acht Brüder Jenny auf die Idee, die schweren «Blattentische» in alle Welt zu verkaufen? Es gab hier nicht einmal eine Fahrstrasse nach Glarus hinunter. Die Jennys mussten die schwere Last hinuntertragen. Damit noch nicht genug. Wie kamen die Tische mit Pferdefuhrwerken und Schiffen nach Norwegen, nach England und in all die anderen Länder? – Dazu brauchte es wahrlich einen besonders wagemutigen und kühnen Unternehmer- und Pioniergeist, der sich ein solch risikoreiches Unternehmen zumutete.
  Etwas später stiess ich auf den Bericht des deutschen Arztes Johann Gottfried Ebel von 1797, der schreibt: «Die verschiedenen Völkerschaften, welche in der Alpenkette wohnen, sind bis auf diesen Tag Hirten geblieben und betreiben ausschliesslich Viehzucht und Sennwirtschaft. Nur die Appenzeller und die Glarner allein sind von ihrer Vätersitte abgewichen und haben neue Tätigkeitsbahnen gesucht. Wer die Thäler von Glarus bereist, wandert durch eine grosse Fabrik mit lebendigster Betriebsamkeit. Diese armen, zwischen fürchterlichen Felsen verborgenen Hirten […] bieten das auffallende Schauspiel eines der industriösten Völker dar.» (Davatz, S. 193) Es begann mit einfacher Heimarbeit, einfache Spinnmaschinen kamen dazu, dann später erste Textilfabriken.
  Was hat die Landsgemeinde dazu beigetragen? Sie hat das Land nicht nur in der Zeit der Reformation zusammengehalten, sie hat den wagemutigen Fabrikanten und Kaufleuten, die mit ihren Produkten bis ans Ende der «Welt» reisten, einen Rückhalt geboten, so dass sie nie vergassen, dass Glarus ihre Heimat war.

Die Jennys in Wien, in Triest, in Ancona …

Es blieb nicht beim Handel mit den Schieferplatten (Davatz, S. 200). In der Mitte des 18. Jahrhunderts waren bereits 13 mechanische Spinnereien in Betrieb, die ihre Produkte zum grössten Teil exportierten. Um 1750 gingen die Jennys nach Österreich und errichteten ihre Zentrale in Wien und knüpften Geschäftskontakte nach Ungarn, in die Tschechoslowakei, nach Polen, bis nach Russland. Dazu gehörte eine Niederlassung in Triest an der Adria. Die grosse Zeit der Textilindustrie hatte begonnen.
  Bleiben wir bei der grossen Unternehmerfamilie der Jennys. Zusammen mit den Blumers aus Schwanden bauten die Jennys am Anfang des 19. Jahrhunderts den damals grössten Industriebetrieb im Lande Glarus auf. Es begann mit der Spinnerei in Schwanden und der Weberei in Luchsingen. Bald kam der Stoffdruck dazu. Mit ihren Fabriken in Ennenda und Haslen wurde die Familie zur grössten Arbeitgeberin im Kanton. Dazu gehörten Niederlassungen im Tessin und im Ausland – zum Beispiel in der Hafenstadt Ancona, das den Vertrieb in Italien besorgte. 1831 ging eine erste Warensendung nach Rio de Janeiro, 1832 nach Kalkutta in Indien. Conrad Blumer machte eine Geschäftsreise nach Indien und Indonesien. Sein Geschäftspartner Peter Jenny reiste nach Manila auf den Philippinen. Sie brachten genaue Hinweise für die Muster und Farben, die dort begehrt waren. Andere Fabrikanten machten es ebenso. 1840 schrieb Kaspar Jenny: «Die Inhaber der Druckereien und Färbereien beschäftigten sich grösstenteils selber mit dem Handel und Verkäufen […]. Einigen wenigen Absatz finden diese Waren in der Schweiz selbst; der bedeutendste Teil geht nach Italien, der europäischen und asiatischen Türkei, nach Ägypten und die Barbareskenstaaten (Nordafrika), nach Süd- und Nordamerika, den spanischen, britischen und holländischen Kolonien und selbst nach Canton in China» (zit. nach Kaufmann, S.  ).
  Die Textilfabriken in Glarus und auch in der Ostschweiz hatten jedoch einen grossen Wettbewerbsnachteil. Sie bezogen ihre Baumwolle aus den Südstaaten der USA oder später auch aus asiatischen Ländern. Die Schiffe aus den USA konnten direkt in Liverpool oder in Manchester anlanden und ihre Ware an die dortigen Textilfabriken ausliefern. Bis nach Glarus war es noch ein weiter Weg. Diesen Nachteil mussten die Unternehmer in der Schweiz irgendwie kompensieren. Das ging nur über die Qualität. Sie mussten ihre Produkte besonders kunstvoll und dauerhaft herstellen und besondere Motive finden. So entstand – nicht nur in Glarus – der gute Ruf der Schweizer Qualität, der sich in der ganzen Welt verbreitete. In Glarus war es vor allem der Textildruck, in St. Gallen und in Appenzell die Stickerei, in Zürich und Basel die Seidenindustrie und im Jura und in Genf die Uhren. Es folgte an andern Orten der Bau von Textil- und bald von anderen Maschinen und von vielem mehr. Überall wurde und wird bis heute auf Qualität geachtet.

Die Jennys in Hard – die Tüchlebarone

Die Jennys haben zusammen mit den Schindlers in Hard bei Bregenz im katholischen Vorarlberg eine grosse Textilfabrik gebaut, die ganz ähnlich wie in Ennenda sich auf den kunstvollen Stoffdruck spezialisierte. Auch sie waren erfolgreich (Mittersteiner, S. 174–175).
   füge hier eine Episode an als Beispiel, bei dem es im 19. Jahrhundert nicht gelang, die konfessionellen Spannungen abzubauen: Das halbe Dorf arbeitete bei den Jennys. Samuel Jenny war ein guter Patron, der viel für seine Arbeiterinnen und Arbeiter gemacht und sich auch für Vorarlberg und die Gemeinde Hard eingesetzt hatte, was im Dorf auch geschätzt wurde. Zudem war er kaiserlicher Rath in Wien. Aber es gab einen Konflikt. Die Jennys waren reformiert und halfen mit, in Bregenz eine reformierte Gemeinde aufzubauen. An einigen Feiertagen – vor allem Maria Empfängnis und Maria Himmelfahrt – wurde bei Jennys gearbeitet. Die komplizierten Arbeitsabläufe mit noch viel Handarbeit liessen nicht zu, dass einzelne Mitarbeiter fehlten. Der katholische Pfarrer in Hard kritisierte den Patron massiv: Samuel Jenny sei ein «Ausbeuter und Steinzeit-Kapitalist, mit dem es keine Versöhnung gebe» (S. 174). Umgekehrt betrachtete Samuel Jenny den Pfarrer als «bigotten Ultramontanisten» – ein Kampfbegriff des damaligen Kulturkampfes. Als Samuel Jenny 1901 starb und begraben wurde, blieben die Kirchenglocken stumm.
  Es fehlte in Hard die lange Tradition der Landsgemeinde mit ihrer versöhnlichen und ausgleichenden Kraft, die den Alt- und Neugläubigen einen Weg zeigte.

Die Glarner Verfassung von 1836

An der Landsgemeinde von 1836 beschlossen die Glarner eine neue Verfassung. Sie war vom Gedankengut der Regeneration geprägt. Manches aus der Zeit der Aufklärung und der Französischen Revolution wurde in Glarus und in anderen Kantonen zu neuem Leben erweckt – deshalb der Name Regeneration. Dazu gehörten Freiheitsrechte wie die Handels- und Gewerbefreiheit – «vorbehalten der gesetzlichen Bestimmungen, die das Gemeinwohl verlangen» (Artikel 9). Damit stellte die Landsgemeinde die Weichen für die Wirtschaftsordnung, in der wir heute leben. Dazu kamen Reformen im Bereich des Schulwesens.
  Streitpunkte gab es allerdings: Die Glaubens- und Gewissensfreiheit wie auch die Freiheit der Meinungsäusserung und der Presse sind gewähreistet, hiess es in Artikel 8 und: «Die freie Ausübung des evangelisch-reformierten und des römisch-katholischen Gottesdienstes» ist in allen Gemeinden gewährleistet (Artikel 4). – Die konfessionell getrennten Landsgemeinden hatten über lange Zeit zum inneren Frieden beigetragen. In der neuen Verfassung hatten sie keinen Platz mehr. Ihre Abschaffung gelang nach einigen Turbulenzen. Die Minderheit der Katholiken verlor damit an Macht und Einfluss.
  Der Kanton Glarus gehörte zu den ersten Kantonen, die den Schritt in die neue Zeit gewagt und damit den Boden für eine stürmische wirtschaftliche Entwicklung gelegt hatten. Für den Erfolg war zweifellos entscheidend, dass nicht nur die Regierung und der Landrat allein, sondern auch die Landsgemeinde die Weichen stellten. Zwischen den Kantonen sollte es einige Jahre später wegen konfessioneller Fragen zu schweren Spannungen und gar zu einem Sonderbund mit einem kurzen Bürgerkrieg kommen.

Zur Bedeutung der Landsgemeinde für die Sozialpolitik

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es zwar in einigen Kantonen wenige gesetzliche Vorschriften – wie zum Beispiel zum Schutz der Kinder und der Frauen. Eine eigentliche Sozialpolitik gab es noch nicht. Die Fabrikanten in Glarus haben ihre Verantwortung als Unternehmer und Patrons selber wahrgenommen und Krankenkassen und zum Teil auch Altersversicherungen eingerichtet, die allerdings freiwillig waren und ganz ähnlich wie heute über Lohnabzüge und Beiträge des Arbeitgebers finanziert wurden. Die Freizügigkeit für den Stellenwechsel war meist gewährleistet. Auch haben sie Wohnraum zur Verfügung gestellt. Es war aber alles noch sehr bescheiden, vor allem freiwillig und oft unterschiedlich. Die Leistungen waren noch gering, und die Arbeiter mussten in Kauf nehmen, dass sie etwas weniger verdienten – was bei einem tiefen Lohn nicht selbstverständlich war. Die Gemeinden und auch der Kanton errichteten Alters-, Witwen- und Waisenkassen, denen alle beitreten konnten. Erste Sparkassen kamen dazu. Spenden und Stiftungen aus begüterten Kreisen halfen bei der Finanzierung (Winteler, S. 396–397; Davatz, S. 205–221). Die zahlreichen sozialen Einrichtungen bereits in dieser frühen Zeit der Industrialisierung beeindrucken.
  In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte Glarus eine Hochblüte im Bereich des Textildrucks – ein eigentliches Wirtschaftswunder. Die Löhne stiegen und das Selbstwertgefühl der Arbeiter nahm zu. Sie gründeten zahlreiche Arbeitervereine, die sich 1863 zum Central-Arbeiterverein zusammenschlossen und politisch aktiv wurden. Im gleichen Jahr erschien die Arbeiter-Zeitung. Der Fabrikarbeiterverein von Schwanden zum Beispiel hatte 1863 innert Monatsfrist 280 Mitglieder.
  Und sie erhielten auch Unterstützung – vor allem von den Pfarrern und Präsidenten der Gemeinden, die die Situation gut kannten, und auch von einzelnen Fabrikanten. Jean Jenny-Ryffel und Daniel Jenny halfen bei der Gründung des Fabrikarbeitervereins Schwanden mit. Die Arbeiter wählten sogar den Fabrikanten und Arbeitgeber Jean Jenny-Ryffel zu ihrem ersten Präsidenten. Diese frühe und besondere Form der Sozialpartnerschaft war wohl weltweit einmalig. Zu ihren ersten Aktivitäten gehörten die Gründung eines Konsumvereins und später die Vorbereitung des bahnbrechenden Fabrikgesetzes. Beides, der Konsumverein Schwanden und das Fabrikgesetz, ist in die Geschichte der schweizerischen Sozialpolitik eingegangen.

Konsumverein Schwanden

Der 1863 gegründete Konsumverein Schwanden hatte eine Vorgängerin. Bereits 1831 führte der Gedanke der genossenschaftlichen Selbsthilfe zum gemeinsamen Einkauf von Mehl und zur Gründung einer «Aktienbäckerei». Die «Akti» bestand bis in die neuere Zeit. Der Konsumverein sollte in der Genossenschaftsbewegung der Schweiz die Richtung vorgeben. Zuvor hatten Konsumvereine ihre Geschäfte oft nach folgendem Gedanken geführt: Eine Genossenschaft als Selbsthilfeorganisation ist nicht gewinnorientiert. Sie kaufte zum Beispiel eine grössere Menge Kartoffeln und verkaufte sie zum Einstand an ihre Kunden und Mitglieder mit einem bescheidenen Zuschlag für die Unkosten. Es kam jedoch vor, dass der Marktpreis für Kartoffeln sank, weil eine gute Ernte erwartet wurde. Die so geführte Konsumgenossenschaft musste mit Verlust verkaufen und kam so in Schwierigkeiten.
  Der Konsumverein Schwanden machte es anders: Er folgte den Grundsätzen der Genossenschaftspioniere von Rochdale in England, die damit auch kaufmännisch erfolgreich waren: Auch sie waren als Selbsthilfeorganisation primär nicht gewinnorientiert. Aber sie richteten sich nach dem Markt aus, führten eine doppelte Buchhaltung und kalkulierten einen angemessenen Gewinn mit ein. Daraus bildeten sie Reserven, mit denen sie die Preisschwankungen und auch andere Risiken ausgleichen konnten, und sie verwendeten den Gewinn dazu, ihr Angebot ständig zu verbessern. Falls dann noch ein Überschuss blieb, zahlten sie ihn an die Genossenschafter direkt zurück. Oder sie gewährten den Kunden über ein Rabattsystem Preisnachlässe. Dieser Weg war erfolgreich. – Jean Jenny-Riffel hatte sich während eines Aufenthalts in England kundig gemacht (so dass englischsprachige Ausdrücke in die Statuten des Konsumvereins von Schwanden einflossen).
  Der Konsumverein Schwanden wurde zum Vorbild für weitere Konsumvereine im Kanton Glarus und in der ganzen Schweiz. Eine wahre Erfolgsgeschichte begann. Fünfundzwanzig Jahre später schlossen sich in der Schweiz 34 Konsumvereine zum Verband Schweizerischer Konsumgenossenschaften VSK zusammen – mit dem Vorort Basel. Nach dem Ersten Weltkrieg waren es bereits über 400 Vereine, 1936 über 500 – bald über 600. 1969 entstand Coop, die die zahlreichen Konsumgenossenschaften zusammenfasste.

Glarner Fabrikgesetz von 1864

Kehren wir nach Glarus zurück. Die Fabrikanten Jean und Daniel Jenny hatten die Arbeiter im Arbeiterverein Schwanden noch in einem weiteren wichtigen Projekt unterstützt. Sie halfen mit, für die Landsgemeinde einen Memorialsantrag für ein Fabrikgesetz vorzubereiten (Davatz, S. 222–230).
  Vier Fabrikarbeiter aus Luchsingen, Balz Knobel, Niklaus Zweifel, Emanuel Kundert und Peter Hefti, reichten einen Memorialsantrag ein. Sie riefen den Schutz des Staats an, damit er untersuche, ob die Masse seiner Bürger nicht unter schädlichem Einfluss der Industrie dienen müsse, wo ihr doch mit frischen, rüstigen Arbeitern besser geholfen wäre: «Es ist unser Stolz», schrieben sie, «dass wir Arbeiter in unserer Demokratie Gelegenheit haben, solche wichtige Fragen aufzuwerfen. Wir fordern eine Herabsetzung der Arbeitszeit womöglich auf elf Stunden, Vorschriften über die Lüftung der Fabrikräume und die Einrichtung eines Fabrikinspektorates.» Sie erhielten Unterstützung von Pfarrherren und Gemeindepräsidenten, welche die Situation gut kannten.
  Am 22. Mai 1864 versammelten sich so viele Glarner im Ring wie kaum jemals zuvor. Als das Geschäft 13, das Fabrikgesetz, zur Behandlung kam, ergriff der Gemeindepräsident von Glarus, der Arzt Niklaus Tschudi, das Wort: «Wir sind eine Familie. Wir wollen die Industrie nicht hemmen; aber für das Wohl der Arbeiter zu sorgen ist unsere heilige Pflicht. Nur ein gesundes, kräftiges Volk ist ein freies Volk.» Während seiner Rede erschallten vom Ring tausendfache Beifallsrufe und am Schluss ein jubelnder Applaus. Sofortige Abstimmung wurde verlangt. Das Gesetz wurde mit überwältigendem Mehr angenommen.
  Mit dem Fabrikgesetz führte der Kanton Glarus als erstes Staatswesen in Europa den Normalarbeitstag von zwölf Stunden für sämtliche Industriearbeiter ein. Zugleich wurde die Nachtarbeit gänzlich verboten. Dazu kamen weitgehende Schutzbestimmungen für Frauen und Kinder. Nur wenige Jahre später verkürzte die Landsgemeinde die Normalarbeitszeit weiter auf elf Stunden (Historischer Verein 2015, S. 23–49).
  Der Arzt Fridolin Schuler war in Glarus Fabrikinspektor. Er hatte die nicht einfache Aufgabe zu kontrollieren, ob das Gesetz auch wirklich eingehalten wurde. Nicht selten wurde er verdächtigt, mit den Industriellen oder mit den Arbeitern unter einer Decke zu stecken. Fridolin Schuler berichtet im Glarner Heimatbuch über eine solche Situation: «Ein ganz hervorragender Industrieller hatte mich zur Rede gestellt wegen meiner Tätigkeit für den Elfstundentag, und er erklärte mir, ich habe die schwere Schuld auf dem Gewissen, dass die Glarner Industrie ruiniert werde. Wer je noch eine Fabrik auf Glarnergebiet baue, gehöre ins Irrenhaus. Ein Jahr später begegneten wir uns an gleicher Stelle. Er betrachtete den Fortgang der Bauarbeiten seiner neuen Fabrik. Soso, Sie bauen, bemerkte ich, ohne etwas Weiteres anzufügen. Wir beide konnten das Lachen nicht verhalten.» (zit. in Glarner Heimatbuch 1992, S. 98)
  Die Geschichte hat eine Fortsetzung: Landammann Joachim Heer hatte die denkwürdige Landsgemeinde von 1864 geleitet. Er wurde wenig später in Bern in den Bundesrat gewählt, und die Fabrikgesetzgebung war ihm auch hier ein Anliegen. 1878 stimmte das Schweizervolk dem eidgenössischen Fabrikgesetz zu, das die Räte nach dem Vorbild von Glarus beschlossen hatten. Es gelang Joachim Heer, Fridolin Schuler zu gewinnen, das Amt eines Fabrikinspektors auch im Bund zu übernehmen. – Glarus hat damit die eidgenössische Fabrikgesetzgebung und deren Umsetzung wesentlich bestimmt, und das Vorbild der Landsgemeinden hat auf Bundesebene zur Einführung von Volksrechten wie des Referendums und später der Volksinitiative geführt.
  Bereits 1899 bereitete der Landrat die Schaffung einer kantonalen AHV und IV vor. Er betrachtete dieses Projekt als die «schönste Krone unserer Institutionen». Die Landsgemeinde stimmte zu. Die Finanzierung war allerdings nicht einfach, weil die Textilindustrie in eine Krise geriet. Trotzdem: 1916 – mitten im Ersten Weltkrieg – war es soweit: Die Landsgemeinde in Glarus stimmte der Einführung der kantonalen AHV und IV zu. Im Bund sollten noch mehr als dreissig Jahre vergehen, bis der Bundesrat 1948 die heutige AHV dem Volk zur Abstimmung vorlegen konnte. Glarus übernahm damit erneut die Rolle als Pionier in der Sozialpolitik (Winteler, S. 589–591).

Krise und Ausblick ins 20. und 21. Jahrhundert

Die Hochblüte des Stoffdrucks war auch sonst eine gute Zeit für die Wirtschaft. Es gab in Glarus schon früh zwei Privatbanken, die eigene goldgedeckte Banknoten herausgaben, was damals möglich war und jeweils von der Landsgemeinde bewilligt wurde. Auch die 1884 gegründete Glarner Kantonalbank gab mehr als zwanzig Jahre lang eigene Banknoten heraus, wobei der Bankpräsident anfänglich jede einzelne eigenhändig unterschrieb. Die Schweizerische Nationalbank wurde erst 1907 gegründet.
  Um 1900 war es der Chemieindustrie gelungen, die natürlichen Farben, die oft auf eine geheimgehaltene Art aus Wurzeln gewonnen wurden, synthetisch und viel billiger herzustellen. Der Stoffdruck wurde «gewöhnlich», und die Stoffe wurden zum Teil nicht mehr gedruckt, sondern zunehmend farbig gewoben. Zudem ging die Zeit der Belle Epoque mit ihren prachtvollen Kleidern dem Ende zu. Drei Viertel der Arbeitsplätze im Bereich des Stoffdrucks gingen verloren. Die Stoffdruckerei der Jennys in Ennenda hatte bereits 1906 den Betrieb eingestellt. Sie führten die Weberei und die Spinnerei jedoch weiter. Der Betrieb im vorarlbergischen Hard schloss 1914, als viele Arbeiter in die österreichische Armee eingezogen wurden.
  Das glarnerische Wirtschaftswunder fand nach dieser und auch nach folgenden Krisen eine Fortsetzung. Aber es war und ist eine wechselvolle Geschichte – ein ständiges Auf und Ab. Neue Wirtschaftszweige entstanden und entstehen. So produzieren die Läderachs in Ennenda heute Schokolade und Pralinen in Spitzenqualität und verkaufen sie in die ganze Welt (Walcher, Fridolin, Beglinger, Martin, S. 148–191).
  In der «Netstal-Maschinen AG» in Näfels, die 1856 in Netstal gegründet wurde und die heute der Chem China gehört, werden Spritzguss-Maschinen hergestellt. Aktuell produziert sie Maschinen, die Pipetten herstellen, die weltweit in den Laboratorien für den Nachweis des Corona-Virus gebraucht werden (Südostschweiz vom 30.10.2020). Glarus ist ein Wirtschaftskanton geblieben – auch wenn es nur noch wenige Textilfabriken gibt.
  Die Jennys von Ennenda gibt es noch. Sie beschäftigen noch sechzig Mitarbeiter und produzieren in Haslen nach wie vor Textilien verschiedenster Art. Die Jennys in Ziegelbrücke (Jenny fabrics), die in den letzten Jahren mit einem chinesischen Partnerbetrieb zusammengearbeitetet hatten, stellten im August 2020 nach 186 Jahren die Textilproduktion ein.

Zur Wertschätzung der Landsgemeinde: Zwei Beispiele

Es gibt in der mehr als 600 Jahre alten Geschichte der Glarner Landsgemeinde nur wenige Jahre ohne Landsgemeinde. Als Napoleon 1798 die damalige Eidgenossenschaft besetzte, wurde die Helvetik als Einheitsstaat (mit grossen neuartigen Verwaltungsdistrikten wie Säntis, Linth …) eingerichtet, die mehr schlecht als recht funktionierten. Es gab keine Landsgemeinden mehr. Die sechs betroffenen Kantone leisteten längere Zeit bewaffneten Widerstand – auch Glarus, was jedoch in einer Niederlage endete. Nach vier Jahren hatte Napoleon erkannt, dass ein Einheitsstaat nicht passte. Er lud die helvetische Regierung und Vertreter aus allen Regionen nach Paris zu einer Consulta ein. In seiner Ansprache sprach er mit besonderer Achtung von den Landsgemeindeorten: «Sie sind es, welche euch staatsrechtlich von aller Welt unterscheiden und euch in den Augen der Welt Eigenwert verleihen.» Die Delegierten kehrten mit der Mediationsverfassung zurück, die die heutigen Kantone und auch die Landsgemeinden wiederherstellte (Thürer 1948, S. 37; Thürer 1950, S. 33). Die Abhängigkeit von Napoleon blieb allerdings, und die Schweiz – und insbesondere Glarus – wurde zum Kriegsschauplatz der damaligen Grossmächte.
  Pfarrer und Lehrer Jakob Heer stand 1816 nach den zahlreichen Kriegen der napoleonischen Zeit und einer Hungersnot vor einem schweren Entscheid: Er hatte die Wahl, als Mathematikprofessor an der Kantonsschule Chur zu lehren oder eine Stelle als Pfarrer in der Berggemeinde Matt im Kleintal anzutreten. Er wählte die Pfarrstelle und kam in ein Bergdorf in schlimmer Not: «Es ist scheusslich anzusehen, wie abgezehrte Menschengerippe, die ekelhaftesten, unnatürlichsten Gerichte mit Heisshunger verschlingen. […] Die wenigen Lumpen, die sie noch am Leibe haben, hängen Tag und Nacht an ihnen, bis sie von selbst wegfallen […].» Heer wusste, was zu tun war. Er organisierte die Arbeit im Plattenberg neu und sorgte dafür, dass wieder Geld ins Dorf kam und eine Fahrstrasse nach Schwanden gebaut wurde. Sein Hauptanliegen war jedoch die Schule, die er ganz im Sinne Pestalozzis führte. Er gründete mit einem Vikar und einem zusätzlichen Lehrer ein Privatinstitut, so dass bald eine grosse Schülerzahl Leben ins Haus brachte. Wichtig war ihm der staatsbürgerliche Unterricht: Alljährlich führte er seine Zöglinge zur Näfelserfahrt und zur Landsgemeinde. Die Knaben durften sich während der Verhandlungen zu Füssen des Landammanns aufhalten und erhielten so direkten Anschauungsunterricht (was noch heute, mit den Mädchen, der Fall ist). Später setzte er sich für den Bau von Schulhäusern und für die Ausbildung der Lehrer ein. Jakob Heer gehört zu den Grossen im Kanton Glarus, der ähnlich wie Pestalozzi seine Überzeugung lebte: «Politische Freiheit ist für ein geistig unmündiges Volk ein Unding. Unausweichlich fällt es entweder der Vormundschaft einer Kaste an, die es oft für ihre besonderen Zwecke zu lenken versteht, oder es macht meist tolle Streiche. Nur ein durch Bildung und Erziehung zur Mündigkeit herangereiftes Volk wird seine Freiheit wohl bewahren und weise gebrauchen, um sein wahres Glück zu fördern.» (Thürer 1986, S. 115–128)
  Jakob Heer verstand es auch, die Erziehung seiner Schüler allmählich in ihre eigenen Hände zu legen: So errichteten vier 15 Jahre alte Schüler, darunter auch ein Mädchen, von 1823 bis 1826 im Pfarrhaus einen «Schülerstaat» mit einer Landsgemeinde, die aus den vier Schülern bestand. Diese erliessen zahlreiche Gesetze und Verordnungen. Heer liess sie meist gewähren. Sie regelten die zahlreichen Pflichten und Ämter im grossen Haushalt – aber nicht nur. Es ging auch um Fragen des Anstandes und um den Unterricht. So regelt ein Gesetz das Vorlesen: «Wenn einer ein Kapitel oder ein Buch anfängt, darf ihn der andere nicht verbissen verlachen oder durch andere Sachen beleidigen.» (Brunner, S. 67) Zentral war die Bestimmung: «Wer die Abschaffung der Landsgemeinde fordert, der zahlt einen Schilling.» (S. 27) – Ein solcher Antrag wurde bis heute an der grossen Landsgemeinde in Glarus erst ein einziges Mal (2002) gestellt und ohne Wortmeldung abgelehnt.

Die integrative Kraft der Landsgemeinde als Schlüssel zum Verständnis des Wirtschaftswunders von Glarus

Die Landsgemeinde hat ihre Schwächen. Ich denke, ihre integrierende und verbindende Kraft kompensiert diese Schwächen bei weitem.
  Die freiheitliche Marktwirtschaft, in der wir heute leben, hat sich insgesamt als sehr effizient erwiesen – trotz Schwankungen und Krisen verschiedenster Art. Auch sie hat ihre systemischen Schwächen – insbesondere in der Problematik der Macht und der sozialen Frage. Es braucht einen Ordnungsrahmen, der ausgleichend wirkt und Spannungen abbaut. Glarus beweist: Der Ordnungsrahmen und damit auch die Wirtschaft funktionierten um so besser, wenn dieser Rahmen möglichst direkt in der Bevölkerung abgestützt ist – in ihrer Kultur und in ihren Traditionen. Ähnliches gilt auch in neuerer Zeit für die ganze Schweiz mit ihrer direkten Demokratie (Wüthrich 2020). – Gerade heute bekommen solche Fragen eine besondere Bedeutung, weil die trennenden und spaltenden Kräfte weltweit immer stärker werden. Neu ist dies jedoch nicht. Als Karl Marx im 19. Jahrhundert zum Klassenkampf aufrief, war die Machtfrage in Glarus bereits ein Stück weit gelöst: An der denkwürdigen Landsgemeinde von 1864 standen gleichberechtigt etliche tausend Textilarbeiter einem kleinen Grüppchen von vielleicht zwei oder drei Dutzend «Fabrikherren» gegenüber – meist Familienunternehmer wie die Jennys, die Blumers, die Schindlers, die Trümpys. Soviel Macht hatten die Arbeiter wohl nirgends auf der Welt. Jene hätten ohne weiteres ihren «Tarif» durchgeben können. Sie haben es nicht getan, weil sie nicht nur ihre Interessen, sondern das Ganze im Auge gehabt haben. Die Arbeiter von Schwanden wählten sogar einen Fabrikanten zum ersten Präsidenten ihres Fabrikarbeitervereins.
  Der Arzt Niklaus Tschudi hat damals – 1864 – die Debatte über das Fabrikgesetz mit dem Satz eröffnet «Wir sind eine Familie». Ein solches Wir-Gefühl musste allerdings zuerst gelegt und gepflegt werden, so dass es lebendig blieb und trug. Und genau das geschah in der über Jahrhunderte gepflegten Tradition der Landsgemeinde und der Näfelserfahrt, und es geschieht auch heute: Landammann Andrea Bettiga hat 2019 die letzte Landsgemeinde mit folgenden Worten eröffnet:
  «Hier an diesem Ort kommt die Glarner Bevölkerung zusammen, um über ihre eigene Zukunft zu befinden. Der Ring, seit Urzeiten ein Symbol der Zusammengehörigkeit und Verbundenheit, vereint uns. Die Landsgemeinde bildet Teil der Glarner Identität. Unabhängig von gesellschaftlicher Herkunft, Religion und politischer Gesinnung. Wir hören einander zu und kämpfen um Lösungen. Akzeptieren die Ansicht anderer und beugen uns zum Schluss der Mehrheit. Jede und jeder Stimmberechtigte kann sich einbringen, hat eine hörbare Stimme. […] Das ist Landsgemeinde. Das sind wir. Wir sind Landsgemeinde!» (Südostschweiz vom 30.7.2020)  •


Literatur:

  • Brunner, Christoph. «Die Landsgemeinde kann niemals abgeschafft werden» – Der Schülerstaat von Oswald Heer in Matt 1823–1826, Schwanden 1987
  • Davatz, Jürg. Glarner Heimatbuch – Geschichte, Glarus 1980
  • Handschin, Hans u. a. Die Genossenschaftsbewegung der schweizerischen Konsumenten, Basel 1941
  • Historischer Verein des Kantons Glarus (Hrsg.). Das Glarner Fabrikgesetz und der Arbeiterschutz im 19. Jahrhundert, Näfels 2015
  • Jung, Joseph (Hsg.). Schweizer Erfolgsgeschichten, Zürich 2013
  • Kaufmann, Andréa. Spinnen, Weben, Drucken – Pioniere des Glarnerlandes, Zürich 2014
  • Kocka, Jürgen. Geschichte des Kapitalismus, München 2013
  • Leuzinger, Lukas. Ds Wort isch frii, Zürich 2018
  • Mittersteiner, Reinhard. Die Tüchlebarone – Zur Geschichte der Textildruck- und Textilfärberei in Hard vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Wien und Hard 1999
  • Peter-Kubli, Susanne. Netstal im Wandel, ein Industriedorf im Wandel, Gemeinde Netstal 2000
  • Thürer, Georg. Unsere Landsgemeinde, Zürich 1950
  • Thürer, Georg. Die Wende von Marignano, Zürich 1965
  • Thürer, Georg. Rund umme Blattetisch, Basel 1966
  • Thürer, Georg; Thürer, Hans u. a. Grosse Glarner, Glarus 1986
  • Thürer, Georg. Gemeinschaft im Staatsleben der Schweiz – Grundrisse, Betrachtungen, Mahnworte aus sieben Jahrzehnten, Bern 1998
  • Walcher, Fridolin; Beglinger Martin. Von Glarus nach Belo Horizonte – Wie Schweizer Familienbetriebe global mitspielen, Zürich 2007
  • Weber, Max; Winkelmann J. (Hrsg.). Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, München und Hamburg 1969
  • Winteler, Jakob. Geschichte des Landes Glarus, Glarus 1954
  • Wyss-Niederer, Arthur. Sankt Gotthard – Via Helvetica, Bern 1979
  • Wüthrich, Werner. Wirtschaft und direkte Demokratie in der Schweiz, Zürich 2020

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