Gemeindefusionen und direkte Demokratie

von Dr. phil. René Roca, Forschungsinstitut direkte Demokratie (www.fidd.ch)

Jedes Jahr veranstaltet das Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau eine Gemeindetagung. Eingeladen sind die Gemeinderätinnen und Gemeinderäte des Kantons Aargau der mittlerweile noch 210 Gemeinden. Nach einem einführenden Referat wird jeweils ein spannendes Podium veranstaltet, bei dem sich Experten zu einem Thema äussern. Danach benutzen die anwesenden Behördenmitglieder die Möglichkeit der Diskussion. Als Schlusspunkt ist ein Apéro vorgesehen, bei dem die informellen Gespräche rege weitergehen.
  
Dieses Jahr war wegen der Pandemie alles anders. Trotz der schwierigen Umstände führte die Kantonsverwaltung in Aarau den Anlass per Live-Stream professionell durch. Die Gemeindetagung war dieses Jahr dem Thema «Chancen und Risiken von Gemeindefusionen» gewidmet. Alle Referate und die anschliessende Diskussion des Podiums können auf der Webseite des Kantons Aargau visioniert werden (www.ag.ch; Aargauer Gemeindetagung 2020).
  Der nachfolgende Text bezieht sich zwar auf den Kanton Aargau, doch können die wissenschaftlichen Erkenntnisse und die weiteren Ausführungen auch auf andere schweizerische Kantone übertragen werden.

Einleitung

Ich bin nun seit bald fünfzehn Jahren parteiloser Gemeinderat in Oberrohrdorf-Staretschwil und seit fünf Jahren Vizeammann. Meine politische Karriere startete ich unfreiwillig, als ich kurz nach einem Wohnortswechsel in meiner neuen Gemeinde an einer Info-Veranstaltung teilnahm, Thema: die mögliche Fusion mit Niederrohrdorf. Ich kam schnell mit anderen kritischen Gemeindebürgern in Kontakt, und wir gründeten den Verein «Pro Oberrohrdorf-Staretschwil». Wir hatten gute Argumente, dass unsere Gemeinde eigenständig bleiben sollte. Wir wehrten uns schliesslich erfolgreich gegen eine teure Studie, welche die Auswirkungen der Fusion mit der Nachbargemeinde untersuchen wollte. Wir hatten damit an der Gemeindeversammlung und an der Urne Erfolg. Für die anschliessende Wahl in den Gemeinderat liess ich mich vom Verein aufstellen und wurde gewählt. Die beiden Gemeinden entwickeln sich bis heute prächtig.
  Später engagierte ich mich weiter in der Fusionsfrage, und zwar als Gemeinderat im Komitee «Für Gemeindeautonomie und einen solidarischen Aargau» gegen die «Gemeindereform Aargau» (GerAG), welche unter anderem die Möglichkeit von Zwangsfusionen beinhaltet hätte. Auch diese Abstimmungen konnten wir klar gewinnen. Trotzdem gab es neue Vorstösse des Kantons, mit denen er leider nach wie vor mit Beratung und viel Geld Gemeindefusionen unterstützt, obwohl wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass solche Fusionen nichts bringen.

Gemeindefusionen – wissenschaftliche Erkenntnisse

Bei der Begründung von Gemeindefusionen werden meistens die folgenden Punkte aufgezählt: effizientere Strukturen, Professionalisierung der Dienstleistungen und Einsparen von Kosten. Es sind also primär administrative und finanzielle Überlegungen, die zwei oder mehr Gemeinden dazu bringen sollen, sich für eine gemeinsame Zukunft zu entscheiden. Die politisch-demokratischen sowie menschlich-gemeinschaftlichen Auswirkungen allerdings hat bisher kaum jemand hinterfragt. Zu Unrecht, denn sie spielen sehr wohl eine Rolle, auch wenn sie bei Fusionsdiskussionen immer wieder als «weiche Faktoren» verunglimpft werden. Zuerst nun aber zu den wissenschaftlichen Studien.

Die Widerlegung des finanziellen Arguments

In der Theorie wie auch in der Praxis werden Gemeindefusionen oft mit Spareffekten motiviert. So wird erwartet, dass sich durch verschiedene Effekte grössere Synergien nutzen lassen, welche die Kosten senken würden. Untersuchungen zu den Effizienzwirkungen von Gemeindefusionen beschränken sich bis anhin auf Fallstudien zu einzelnen Gemeindefusionen sowie Befragungen von Gemeindevertretern. Professor Christoph A. Schaltegger von der Universität Luzern untersuchte in einem breit angelegten Forschungsprojekt 142 Gemeindefusionen aus zehn Kantonen zwischen 2001 und 2014. Schaltegger führt zu den Resultaten seiner Studie folgendes aus: «Die Analyse zeigt, dass über alle betrachteten Gemeindefusionen hinweg keine systematischen Spareffekte erkennbar sind. Folglich kann nicht automatisch von Kosteneinsparungen durch Gemeindefusionen ausgegangen werden.» Im Bereich der Verwaltungsaufgaben sei ein kleiner Spareffekt erkennbar, aber bei den Gesamtausgaben würden keine systematischen Spareffekte deutlich. Schaltegger weiter: «Es ist daher davon auszugehen, dass die Einsparungen im Verwaltungsbereich durch Ausgabensteigerungen in anderen Budgetpositionen wieder kompensiert werden.» Auch bei den Indikatoren «Bevölkerungsentwicklung» und/oder «Immobilienpreise» liessen sich keine systematischen Unterschiede zwischen fusionierten und nicht fusionierten Gemeinden feststellen. Das Resultat ist also absolut ernüchternd, ein «Nullergebnis», wie Schaltegger festhält. Die Aussage, dass eine Gemeindefusion Spareffekte erzeuge, muss mittlerweile als «Fusions-Mythos» bezeichnet werden. Als prominentes Beispiel wurde in den Medien dem Glarnerland während des Fusionsprozesses ein «Fusionskater» attestiert, da sich anstelle von Einsparungen rote Zahlen eingestellt hatten.

Fusionsschock für die lokale Demokratie

Gemeindefusionen haben vor allem auch schwerwiegende Auswirkungen auf die Demokratie. Laut einer Studie des Zentrums für Demokratie (ZDA) lösen Fusionen einen eigentlichen «Schock» für die lokale Demokratie aus. Messbar, so die Studie, zeige sich dies in einer tieferen Stimmbeteiligung. Die Menschen interessieren sich also weniger für die Politik und klinken sich aus den milizbasierten gesellschaftlichen Strukturen aus. Solche Aspekte werden bei Fusionen von Gemeinden bisher klar vernachlässigt.
  Der Schock, so die Studie des ZDA, sei für kleine Gemeinden, die sich grösseren anschliessen würden, stärker. In den Gemeinden funktionierten lokale politische Netzwerke. Diese würden durch eine Fusion zerschlagen. Die erste Konsequenz sei, wie schon erwähnt, eine tiefere Stimm- und Wahlbeteiligung bei kommunalen Urnengängen. Die zweite sei, dass Vertreter lokaler Bewegungen oder Parteilose geringere Wahlchancen hätten und sich aus der politischen Szene verabschieden würden. Die Konsequenzen einer Fusion auf die lokale Demokratie sollten sich die Gemeindebürger bewusstmachen und sich klar vor Augen führen, was auf dem Spiel steht.

Nicht alles ist messbar – die Bedeutung der «weichen Faktoren»

Wir verfallen immer mehr dem Wahn, alles messen zu wollen. Obwohl es, wie gezeigt, zu den Gemeindefusionen mittlerweile empirische Studien gibt, die klar die negativen Effekte einer Fusion aufzeigen, existieren daneben noch weitere Faktoren, die nicht einfach messbar sind. Die Menschen möchten sich grundsätzlich am Gemeinwesen beteiligen. Das zeigt sich sehr schön bei unserem Milizsystem. Eine Fusion untergräbt diesen Willen, das Gemeinwohl aktiv mitzutragen. So gehen die besten Kräfte eines Gemeinwesens verloren. Diese menschlichen Kräfte braucht es aber in Zukunft, um die kommenden schwierigen Fragen zu beantworten und zu meistern. Dies führt uns in diesen Tagen die Corona-Krise besonders deutlich vor Augen. Die Zukunft ist nur mit Menschen zu bewältigen, die freiwillig mitdenken und mitgestalten.

Thesen

  1. Als Konklusion zu seiner Studie schlussfolgert Schaltegger: «Wenn im Durchschnitt aller Fusionen kein Effekt erzielt wird, kann die Gemeindefusion grundsätzlich nicht als Rezept für Kostenersparnisse oder Qualitätssteigerungen dienen.» Dass gewisse -politische Kreise wider besseres Wissen am «Fusionszirkus» festhalten, kann nur als ideologisch bezeichnet werden. Diese Kreise sind mehr an Macht und Zentralismus interessiert als an blühenden Gemeinwesen.
  2. Die wissenschaftlichen Resultate zeigen, dass die pragmatische Kooperation und problemorientierte Zusammenarbeit unter den Gemeinden auch ohne Fusion wichtige Synergiepotentiale erschliessen kann.
  3. Der Kanton Aargau sollte aufhören, ohne wissenschaftliche Evidenz die Gemeindefusionen aktiv durch teure Beratung und finanzielle Beiträge zu unterstützen. Ein aktuelles Beispiel: Dass der Kanton Aargau keine grössere Stadt besitzt, finde ich von Vorteil. Es sind die kleinen Strukturen, die den Menschen gerade heute Heimat und Identität vermitteln, denn es gilt nach wie vor: «Small is beautiful». Welche Ziele verfolgt denn eine «Modellstadt Baden» oder der «Grossraum Aarau»? Der Kanton Aargau, die verantwortlichen Gemeindebehörden und die Planer fördern jedenfalls mit solch unsinnigen Projekten einzig den weiteren demokratischen Abbau des genossenschaftlich verfass-ten Gemeindewesens, des Grundpfeilers der direktdemokratischen Schweiz.
  4. Gemeindefusionen sind nicht der «Königsweg», um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Im Gegenteil, es gilt das Milizsystem und die Gemeindeautonomie zu stärken, damit sich die Qualität der Demokratie wieder verbessert und sich die Menschen auch weiterhin am öffentlich-gemeinwohlorientierten Leben beteiligen.  •

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