Friede auf Erden …

Reflexionen zum Wesen der schweizerischen Neutralität

von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich

Am 30. Oktober 2020 haben die Bundesräte Sommaruga und Cassis die Kandidatur der Schweiz für einen nichtständigen Sitz im Uno-Sicherheitsrat vorgestellt. Es brauche Mitglieder, die wissen, wie man Brücken baue, sagte Simonetta Sommaruga. Die frühere Bundesrätin Micheline Calmy-Rey hat in diesen Tagen ein Buch herausgegeben mit dem Titel «Die Neutralität. Zwischen Mythos und Vorbild» (ISBN 978-3-03810-493-3). Es ist ein anspruchsvolles und lesenswertes Buch, das aber auch zu Widerspruch reizt. Es gibt einen vertieften Einblick in das Wesen der Neutralität, soll aber den Boden für den Einsitz der Schweiz in den Sicherheitsrat bereiten. Im folgenden soll ein erster Eindruck des Buches wiedergegeben werden. Dabei vertrete ich die These, dass die Schweiz weit bessere Möglichkeiten als einen Sicherheitsratssitz hat, sich für den Frieden einzusetzen.

Die Neutralität ist in der Bevölkerung tief verankert. Die ETH Zürich führt jedes Jahr Umfragen durch, die regelmässig ergeben, dass die Bevölkerung die Neutralität zu weit über 90 Prozent befürwortet und an ihr festhält. Direkte Demokratie, Föderalismus und Neutralität gehören zum Kern des schweizerischen Selbst- und Staatsverständnisses.
  Es wird unterschieden zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik. Das Neutralitätsrecht besteht aus wenigen Abkommen wie dem Haager Abkommen von 1907 und kommt vor allem in Kriegen zur Anwendung (der Neutrale darf nicht Partei nehmen, keine Durchmarsch- und Überflugrechte gewähren, Handel ist jedoch mit allen Parteien erlaubt). Die Neutralitätspolitik dagegen bestimmt die Politik ganz allgemein. Die Schweizer Neutralitätspolitik hat im Verlauf der Geschichte ganz unterschiedliche Erscheinungsformen und Gesichter angenommen. Nach dem Ersten Weltkrieg beteiligte sich die Schweiz am Völkerbund und trug Wirtschaftssanktionen gegen Länder mit, die sich nicht an das internationale Recht hielten, was zu schwierigen Situationen führte – insbesondere im Verhältnis zu Italien, als es Abessinien angriff. Nach dem Zweiten Weltkrieg bekannte sich der Bundesrat zur «integrativen Neutralität». Die Schweiz versuchte in Konflikten weder politisch noch wirtschaftlich Partei zu nehmen, was auch der Grund war, dass sie bis 2002 nicht der Uno beitrat. Die Schweiz habe sich ein «enges Korsett» angelegt, schreibt Calmy-Rey, das ihre Handlungsfähigkeit eingeschränkt habe.
  Ist das wirklich so? Immerhin hatte die Uno im Nicht-Mitgliedsland Schweiz in Genf ihren zweitwichtigsten Sitz eingerichtet. Dies hat eine Vielzahl von Möglichkeiten geschaffen. Vor ihrem Uno-Beitritt arbeitete die Schweiz in allen Uno-Unterorganisationen aktiv mit und trug überdurchschnittlich zu ihrer Finanzierung bei. Diese Art Neutralität erwies sich vielerorts als Vorteil und wurde geschätzt. Auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat seinen Sitz in der Schweiz. Seine Tätigkeit ist der Neutralität verpflichtet. Diese Einstellung hat jedoch auch Kritik hervorgerufen – zum Beispiel, als sie die Sanktionen gegen Südafrika wegen der Apartheid nicht mittrug.

«Aktive und pragmatische Neutralitätspolitik»

In den neunziger Jahren – parallel zum Wunsch, der EU beizutreten – hat sich die Einstellung im Bundesrat geändert. Calmy-Rey spricht von aktiver und pragmatischer Neutralität. Die Schweiz beteiligte und beteiligt sich häufig an internationalen Sanktionen und spricht sich für Zwangsmassnahmen aus, die von westlichen Staaten beschlossen werden – zum Bespiel in neuer Zeit gegen Russland. Calmy-Rey kommt mehrere Male auf den Kosovo zu sprechen. Als Aussenministerin war sie massgebend dafür verantwortlich, dass die Schweiz nach dem Bombenkrieg der Nato gegen Jugoslawien als eines der ersten Länder den Kosovo anerkannte, der sich von Serbien abgespalten hatte (obwohl wichtige Voraussetzungen für die Staatsbildung fehlten und noch fehlen). Die Lage ist nach wie vor nicht stabil, und der Kosovo ist weit davon entfernt, ein prosperierendes Land zu sein. Noch bald 20 Jahre nach dem Krieg befinden sich Soldaten aus verschiedenen Ländern, auch aus der Schweiz, im Kosovo, um zu verhindern, dass der Konflikt wieder ausbricht. Die ausserordentliche Menschenrechtssituation habe die frühzeitige Anerkennung des Landes gerechtfertigt, schreibt Calmy-Rey.
  Die Nato hatte ihren Krieg gegen Serbien mit Menschenrechtsverletzungen und «Völkermord» begründet und ihre Propaganda, die jeden Krieg begleitet, vor allem mit diesem Argument gestützt. Auch die Kriege im Irak, in Syrien, in Libyen wurden mit Menschenrechtsverletzungen begründet. Das hat zu merkwürdigen Situationen geführt. So gerät eine Partei in einem Konflikt (zum Beispiel in Syrien) leicht in Versuchung, Menschenrechtsverletzungen wie den Einsatz von Giftgas vorzutäuschen und dem Gegner in die Schuhe zu schieben (False-flag-Operation) – mit dem Ziel, die Bomber der USA oder der Nato in Bewegung zu setzen.
  Menschenrechtsverletzungen als Kriegsgrund sind problematisch. Meist führen Kriege zu viel grösseren Menschenrechtsverletzungen, als sie vorgeben zu verhindern. Die tiefere Ursache von Menschenrechtsverletzungen liegt meist darin, dass politische Lösungen fehlen und oft gar nicht gesucht werden. Gerade hier könnte die Neutralitätspolitik der Schweiz ansetzen und die Schweiz zum Brückenbauer werden. In meinen Augen gibt es dazu ausserhalb des Sicherheitsrates der Uno weit bessere Möglichkeiten, um zum Frieden beizutragen.
  So haben die Guten Dienste der Schweiz 1962 den Frieden von Evian ermöglicht. Es erstaunt, dass Calmy-Rey zwar viele Beispiele aus der Geschichte aufführt, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Die menschliche Brücke, die die Schweiz 1962 für Frankreich und Algerien gebaut hat und die schliesslich den Frieden von Evian ermöglicht hat, fehlt in Calmy-Reys Buch. Dieser Friede hat einen der schlimmsten Kriege der Nachkriegszeit beendet, der in mancherlei Hinsicht mit dem Vietnam-Krieg vergleichbar ist. Diese herausragende Tat der Mitarbeiter des Politischen Departements (heute EDA) ist so bedeutend, dass sie hier Thema sein muss.

Die Beendigung des Algerien-Krieges – eine grosse Herausforderung für die Guten Dienste der Schweiz

Algerien war die grösste und älteste Kolonie Frankreichs, die formell als Teil Frankreichs galt. Mehr als eine Million französische Siedler hatten sich hier niedergelassen. 1954 begann der Unabhängigkeitskrieg. Die algerische FLN (Front de Libération Nationale) wurde aus Tunesien und Marokko unterstützt, die beide bereits unabhängig geworden waren. Frankreich hatte ständig etwa eine halbe Million Soldaten in Algerien im Kriegseinsatz. Bis 1962 kämpften dort insgesamt etwa 1,7 Millionen Armeeangehörige – neben Berufsmilitär und Fremdenlegion auch viele Wehrpflichtige. Dieser grosse Krieg war vor allem auch in Frankreich selbst umstritten.
  Im Dezember 1958 wurde General Charles de Gaulle zum zweiten Mal zum Ministerpräsident und 1959 zum Staatspräsident gewählt, weil er den Krieg beenden und Algerien in die Unabhängigkeit entlassen wollte. Am 8. Januar 1961 setzte de Gaulle eine Volksabstimmung an. 75 Prozent der Stimmenden in Frankreich unterstützten seine Politik. Mit der Abstimmung war das Ziel jedoch noch nicht erreicht. Der Friedensprozess wurde massiv gestört. Nur wenige Tage später, am 20. Januar, wurde in Madrid die Organisation de l’Armée Secrète (OAS) gegründet, der viele französische Siedler angehörten und mit der auch hohe Militärs sympathisierten. Sie verübte als Untergrundorganisation Anschläge, um den Friedensprozess zu stören. Am 21. April 1961 führte die OAS in Algier einen Putsch an, an dem sich vier Generäle der französischen Armee beteiligten, die sich gegen die Unabhängigkeit von Algerien und gegen die Friedenspolitik von de Gaulle stellten. Der Putsch scheiterte zwar, aber die Situation blieb hoch gefährlich. Echte Friedensverhandlungen waren kaum möglich. – De Gaulle und die FLN wandten sich beide an die Schweiz mit der Bitte, mit ihren Guten Diensten zu helfen. In einem ersten Schritt ging es darum, direkte Gespräche von Angesicht zu Angesicht zu organisieren.
  Die Gespräche fanden statt – angesichts der gefährlichen Situation unter höchster Geheimhaltung. Heute können die Berichte darüber mit allen Einzelheiten bei dodis.ch eingesehen werden (www.dodis.ch/9709 und 10392; 10413 und 10389; 10307 und 398). Hervorzuheben ist vor allem der 50seitige Bericht von Minister Olivier Long: Zwei Mitarbeiter des Politischen Departements der Eidgenossenschaft, Olivier Long und Gianrico Bucher, hatten die Treffen mit grösster Diskretion vorbereitet und organisiert. Die Kontrahenten sollten vorerst in einem inoffiziellen, privaten Rahmen in Luzern zusammenkommen. De Gaulle bestimmte mit Georges Pompidou (dem späteren Staatspräsidenten) einen engen Vertrauten zum Verhandlungsführer. Pompidou war damals in der Privatwirtschaft tätig. Die Gespräche fanden im Hotel Schweizerhof statt. Algerier und Franzosen trafen sich nach dem Morgenessen, verbrachten den ganzen Tag miteinander und diskutierten bis tief in die Nacht hinein. Long und Bucher sassen im Nebenzimmer und achteten darauf, dass ja nichts Auffälliges nach aussen drang, das die OAS veranlassen könnte, die anlaufenden Friedensverhandlungen mit Gewalt zu stören. Long und Bucher schätzten die Situation jedoch als so gefährlich ein, dass sie die Gespräche nach wenigen Tagen nach Neuenburg verlegten. Man sieht hier: Gute Dienste bestehen oft darin, Gespräche an einem neutralen Ort zu ermöglichen und zu sichern.

Friedensschluss in Evian – das Ziel ist erreicht

Nach der zweiten Gesprächsrunde stand das Konzept für die offiziellen Friedensverhandlungen fest: Diese sollten in Evian stattfinden – auf der französischen Seite des Genfersees. In einer ersten Verhandlungsphase – die ebenfalls noch geheim war – ging es um einen Waffenstillstand. Die offiziellen Friedensverhandlungen sollten erst beginnen, nachdem die Waffen in Algerien geschwiegen hatten. Erst dann sollten die Medien einbezogen werden – ein hoch anspruchsvolles Unterfangen.
  Die Verhandlungsdelegation der Algerier wollte aus begreiflichen Gründen nicht auf französischem Boden wohnen. Sie wurde in der Schweiz in der Region von Lausanne einquartiert und jeden Tag mit Militärhelikoptern oder bei schlechtem Wetter mit Schnellbooten über den Genfersee transportiert. Aber auch auf der Schweizer Seite des Sees fühlten sich die Algerier nicht sicher. Die Armee bot zu ihrem Schutz ein Bataillon Soldaten auf. Die Algerier wechselten zudem jeden Tag den Aufenthaltsort, auch, um vor den Medien geschützt zu sein. Die Kosten für diese generalstabsmässige Grossaktion wurden vollumfänglich von der Eidgenossenschaft getragen.
  Die Konferenz von Evian wurde zum Erfolg und endete mit dem Friedensabkommen von Evian. Algerien wurde in die Unabhängigkeit entlassen. Bucher und Long verfassten einen Bericht zuhanden des Departements (der heute unter dodis.ch nachgelesen werden kann). Im nachhinein zeigte es sich, dass die äusserst vorsichtige und hochprofessionelle Vorarbeit der beiden Mitarbeiter des Politischen Departements richtig war. Nur Wochen nach dem Friedensschluss durchschlugen Kugeln von Attentätern die Limousine von Charles de Gaulle und verfehlten ihn nur knapp. Die Guten Dienste der Schweiz hatten geholfen, einen der brutalsten Kriege der neueren Zeit zu beenden und hatten zu einem echten Frieden geführt. Ohne die Wahrung strikter Neutralität wäre dies nicht möglich gewesen.

Der Friede von Evian hilft der Schweiz in der Europapolitik

Die Guten Dienste und das Abkommen von Evian stärkten die Position der Schweiz in der internationalen Gemeinschaft, die wohl gestaunt hat, dass so etwas möglich war. Die Schweiz erhielt eine Einladung aus dem Elysee. Bundesrat Wahlen, der Vorsteher des Politischen Departementes, besuchte de Gaulle, der ihm herzlich für die Guten Dienste der Schweiz dankte (Gesprächsprotokoll in: dodis.ch/30270).
  Wahlen nutzte die Gelegenheit, de Gaulle die Probleme vorzutragen, die die Beziehung zur EWG belasteten. Die Schweiz hatte Besuch erhalten von US-Staatsuntersekretär George Ball. Dieser berichtete von einem Treffen von US-Präsident Kennedy mit dem britischen Präsidenten McMillan. Ball hatte die Bundesräte Wahlen und Schaffner mit dem «Wunsch» oder dem Plan der USA konfrontiert, die EFTA wieder aufzulösen. Eine Aktennotiz, die heute ebenfalls bei dodis abrufbar ist, berichtet von Balls Besuch (dodis.ch/15113). Die Nato-Mitglieder der neugegründeten EFTA – insbesondere Grossbritannien – sollten der EWG beitreten. Die neutralen Länder wie die Schweiz sollten einen Assoziationsvertrag mit der EWG abschliessen. Dieser hätte von der Grundidee her – ganz ähnlich wie der heute geplante Rahmenvertrag – das Land auch politisch einbinden sollen. Bundesrat Wahlen berichtete de Gaulle von den Bedenken der Schweiz: «Ein weiterer Grund, der uns den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft verwehrt […], sind die verfassungsrechtlichen Probleme. Wir können in unserer Referendumsdemokratie nicht Befugnisse an eine weitere Gemeinschaft abtreten, die dem Volk vorbehalten sind, das im vollen Sinn des Wortes der Souverän ist.» De Gaulle antwortete: «Frankreich begreift Ihren Wunsch nach einer Form der Verständigung mit der Europäischen Gemeinschaft, die nicht leicht zu finden sein wird. Sie dürfen aber versichert sein, dass Ihnen von Frankreich keine Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden.»

Ausblick

Die Neutralitätspolitik spielte also damals eine ganz zentrale Rolle für die EU-Politik der Schweiz. Grossartig war die Leistung der beiden Staatssekretäre Bucher und Long, die alles organisiert und hochprofessionell durchgeführt hatten, ohne dass ihr Name gross in den Medien erschien. Sie hätten eigentlich den Friedensnobelpreis verdient – mehr als mancher Preisträger in neuerer Zeit. Wir haben heute unruhige Zeiten, in denen der Weltfriede mehr und mehr in die Ferne rückt. Echte Friedensverträge sind selten geworden. Der Beitrag des Bundesrates und der beiden Diplomaten würde in jedes Staatskundelehrmittel gehören. Ihre Art von Neutralitätspolitik war ein echter Beitrag zum Weltfrieden.  •

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