Gibt es Lehren aus dem Corona-Jahr 2020?

von Karl-Jürgen Müller

Am 9. Dezember 2020 hat das Innenministerium von Baden-Württemberg bekanntgegeben, dass der Verfassungsschutz des Bundeslandes ab sofort Querdenken 711 unter Beobachtung stellt.1 Querdenken 711 hat seinen Ursprung in der Landeshauptstadt Stuttgart und versteht sich selbst als «Sammlungsbewegung» der Gegner der staatlichen Corona-Massnahmen in Deutschland. Querdenken 711 wurde im Frühjahr 2020 gegründet, hat mittlerweile viele Namensvettern in anderen deutschen Städten (mit anderen Zahlen, jeweils die Telefonvorwahl) und ist vor allem durch die von ihr organisierten Demonstrationen und Kundgebungen gegen die staatlichen Corona-Massnahmen in vielen Städten Deutschlands bekannt geworden.
  In Sachen Corona vertreten die «Querdenker» kritikwürdige Positionen. Aber sind sie deshalb schon verfassungsfeindlich? Nimmt man alleine die Pressemitteilung des Innenministeriums, so fehlt es an überzeugenden Belegen dafür, dass Querdenken 711 verfassungsfeindliche Ziele verfolgt. Der Text erinnert mehr an eine politische Kampfansage – mit viel Gedankenakrobatik2 – an eine ungeliebte Opposition. Und ist in gewisser Weise auch ein weiterer Mosaikstein für die desolate Situation der politischen Kultur in Deutschland.
  Viele politisch Verantwortliche und Amtsträger sowie die ihnen unterstellten Behörden in Deutschland reagieren nicht mehr souverän und sachlich auf Kritik. Was Meinungsfreiheit des Bürgers bedeutet und wo ihre verfassungsrechtlichen Grenzen sind, wird zum Teil nach Belieben umgedeutet. Zum Unwort des Jahres müsste man den Begriff «Verschwörungstheorie» (neu auch: «Verschwörungsideologie») küren. Zugleich ist in einem nicht unerheblichen Teil der Bürgerschaft ein nicht mehr nur sachlich begründetes tiefes Misstrauen gegen den Staat herangewachsen, und beide Seiten stehen sich, so macht es den Eindruck, unversöhnlich gegenüber.

Viel Anschauungsmaterial

Das Corona-Jahr 2020 bietet viel Anschauungsmaterial für den Stand der politischen Kultur in Deutschland. Aber auch für den bisherigen Mangel an echten Lösungen. Nicht zuletzt allerdings auch Impulse dafür, was notwendig wäre, um Lösungen zu finden.
  Die Klage darüber, dass wir nicht mehr so leben könnten wie vor der Corona-Pandemie, ist zwiespältig; denn schon vor Corona war die Welt in keinem guten Zustand. Die Pandemie zum Anlass zu nehmen, gründlich darüber nachzudenken, wie wir unser Leben und unsere Welt künftig einrichten wollen, war und ist sehr berechtigt. Das muss und sollte nicht die «Neue Normalität» sein. Ein paar Wochen lang im März und April des Jahres wurde viel berichtet über gegenseitige Hilfe, Mitgefühl mit den besonders Schutzbedürftigen in unseren Gemeinwesen, über ein vertrauensvolles Miteinander von Bürgern und den politisch Verantwortlichen, über die gemeinsame Aufgabe der Pandemiebekämpfung und so weiter und so fort. Man hätte solche der Sozialnatur des Menschen entsprechenden Handlungen gut und gerne auf viele andere Lebensbereiche ausdehnen können. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte damals einen wichtigen Gedanken: Wenn wir es gemeinsam schaffen, die Pandemie zu bekämpfen, dann werden wir auch die Kraft, den Mut und Ideen genug haben, um nachher all die anderen Probleme zu lösen. Offensichtlich wurde dieser Weg in vielen Ländern der Welt nicht beschritten. Warum?

Es fehlt an sozialer Verbundenheit

Die Frage, warum so viele Akteure gegen die Sozialnatur des Menschen handeln, ist nicht einfach zu beantworten. Es ist ein Ursachenbündel. Gibt es einen Ursachenkern? Meine Antwort auf diese Frage ist: Es fehlt an Gemeinschaftsgefühl; anders formuliert: Die soziale Verbundenheit vieler Menschen ist noch zu wenig ausgebildet.3 Die Dimensionen unseres seelischen Zustands, des Mangels an echter sozialer Verbundenheit unserer Generationen werden in der Regel unterschätzt. Die gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen und die veröffentlichte Meinung haben diesen Gesichtspunkt bislang nur wenig thematisiert – und wenn überhaupt, dann oft nur mit Vorwürfen, aus geschwächter Menschenliebe heraus und mit dem moralisierenden Zeigefinger.
  Die scharfen Kontroversen heute arbeiten mit Begriffen wie Raffgier der Milliardäre, totalitäre politische Ziele, Corona-Diktatur, rechtsextrem, Verschwörungstheorien und so weiter und so fort. Die Kommentarspalten in unseren Medien, die politischen Debatten in den Parteien und Parlamenten, die kämpferischen Reden auf den Kundgebungen gegen die staatlichen Corona-Massnahmen bieten diesbezüglich viel Anschauungsmaterial. Nicht alles, was gesagt wird, ist falsch. Aber eine gemeinwohlorientierte Lösung ist so nicht in Sicht. Im Gegenteil, die gesellschaftliche Polarisierung verschärft sich – und nimmt an Heftigkeit zu, wenn es auch noch an Ehrlichkeit mangelt.

Wie «nachhaltig» soll investiert werden?

Was ist zum Beispiel davon zu halten, wenn eine grosse Schweizer Tageszeitung am 3. Dezember 2020 eine 18 Seiten umfassende Verlagsbeilage zum Thema «Nachhaltig investieren» veröffentlicht? Zeigt sich hier eine «neue» Unternehmensphilosophie auf dem Weg zu mehr Gemeinwohl? «Nachhaltig» würde ja bedeuten, soziale, ökologische und ökonomische Ziele gleichrangig zu beachten. Ist es wirklich so, dass wir uns auf den Weg in eine gerechtere und friedlichere Welt machen? So dass, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen, die Menschen in Syrien und in anderen Ländern nicht mehr unter Sanktionen leiden müssen? Oder dass die weltweite Aufrüstung beendet, kriegerische Handlungen sofort eingestellt, die Völker und Nationen als gleichberechtigt anerkannt und die Charta der Vereinten Nationen sowie die Grundsätze des Völkerrechts endlich ernst genommen werden? Dass die Schere zwischen Arm und Reich nicht immer weiter auseinandergeht? Oder soll weiterhin das gelten, was wir bislang noch ständig beobachten können: Wer «mitmacht» und jetzt schon sehr viel Geld und Macht hat, wird «belohnt» – und wer nicht mitmacht, wird ausgegrenzt und bekämpft. Als George W. Bush US-Präsident war, hat ihm ein gewisser Thomas P. M. Barnett zugearbeitet. Er hatte sich damals, unmittelbar nach dem Irak-Krieg 2003, Gedanken darüber gemacht, in welchen Ländern die US-Armee künftig Kriege führen «müsse». Er listete genau die Länder auf, die bei der von den USA favorisierten Globalisierung nicht mitmachen.4

Was ist vom «Great Reset» und seinen Kritikern zu halten?

Heftig verläuft derzeit die Kontroverse um ein Projekt, das von Klaus Schwab, dem Direktor des World Economic Forums WEF, mit allen Mitteln der Kunst angepriesen und vorangetrieben wird: «The Great Reset». Das Internet ist voll von Dokumenten und Stellungnahmen dazu. Schwab selbst hat zusammen mit einem Ökonomen sogar ein Buch zum Thema geschrieben: «Covid-19: The Great Reset», in deutscher Übersetzung «Covid-19: Der Grosse Umbruch» – und die WEF-Tagungen im kommenden Jahr sollen dieses Thema als Schwerpunkt haben. Schwab nimmt die Corona-Pandemie zum Anlass, die bisherige Art und Weise des Zusammenlebens, der Politik und insbesondere des Wirtschaftens in Frage zu stellen. Die Wirtschafts- und die Finanzwelt sollen radikal verändert werden, weg vom Shareholder-, hin zum Stakeholder-Kapitalismus. Auch, um gewalttätige Konflikte innerhalb der Staaten oder gar Revolutionen zu verhindern. So, dass die ganze Welt sozialer, ökologischer und gleichberechtigter wird – integrativer; so, dass alle beteiligten Interessen berücksichtigt werden. Die Manager der grossen Konzerne sollen die guten Weltenlenker werden. Wesentliches Hilfsmittel für die Erreichung der gesteckten Ziele sollen Digitalisierung und «Künstliche Intelligenz» in der Industrie («Industrie 4.0»), aber auch in anderen Lebensbereichen sein. Die Politik soll die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen, möglichst weltweit und einheitlich.
  Klaus Schwab und seine Mitstreiter sind Experten in Sachen Marketing. Was man allerdings weitgehend vergeblich sucht, sind sachliche, konkrete und gründliche Auseinandersetzungen mit diesem Projekt. Geschweige denn überzeugende Alternativangebote. Es gibt durchaus viele Gegenstimmen – mit ganz unterschiedlichen Ausgangspunkten. Sie reichen vom Vorwurf, hinter allem stecke der chinesische Kommunismus, bis hin zur Behauptung, dieser kommende Kapitalismus werde kapitalistischer als alles zuvor sein. Manch einer glaubt, in seiner Analyse eine Kombination von Sozialismus und Kapitalismus erkennen zu können. Auch diese Gegenstimmen sind fast alle sehr scharf und polemisch gehalten.5

Wie ehrlich ist die Politik?

Kritiker der staatlichen Corona-Massnahmen fragen zu Recht, wie ehrlich die Politiker unserer Länder sind, wenn sie behaupten, sie würden alles tun, um die Corona-Pandemie zu bekämpfen und Gesundheit und Leben ihrer Bürger zu schützen, zugleich aber in vielen anderen Bereichen das Gegenteil tun. Aber warum fordern diese Kritiker denn nicht, dass unsere Staaten nicht nur bei Corona so entschieden bemüht sein sollten, sondern auch in allen anderen Bereichen – und helfen selbst dabei mit? Sonst bleiben Parolen wie «Liebe», «Frieden» oder «Freiheit» inhaltsleer. Schöne Worte eben, ohne Substanz. Ja, es ist offensichtlich, dass es Kräfte in Politik und Wirtschaft gibt, für die die Corona-Pandemie der Aufhänger für schon länger gehegte Pläne ist. Aber deshalb die Pandemie nicht mit allen notwendigen Mitteln zu bekämpfen, ist nicht logisch.
  «Wer das Recht auf Leben nicht als eigenes Vorrecht, sondern als das grundlegende Recht aller Menschen verinnerlicht hat, der wird auch entschlossen gegen jedes Unrecht, gegen Gewalt und Krieg, gegen die Ausbeutung von Menschen durch Menschen Stellung nehmen.» So hiess es in einem Artikel in Zeit-Fragen vom 24. März 2020. Das gilt auch heute noch. Aber herbeizwingen kann das niemand. Es ist eben auch eine Frage der sozialen Verbundenheit. Hier voranzuschreiten ist eine Menschheitsaufgabe für viele Generationen. – Jeder kann dabei heute schon mithelfen.  •



1 https://www.verfassungsschutz-bw.de/site/lfv/get/documents/IV.Dachmandant/Datenquelle/PDF/2020_Aktuell/Pressemitteilung_IM_zur_Beobachtung_Querdenken711.pdf
2 So heisst es am Ende der Pressemitteilung: «Die Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der ‹Querdenken›-Demonstrationen sind keine Extremisten. […] Die extremistischen Akteure, insbesondere auch innerhalb der ‹Querdenken›-Organisatoren, scheinen es jedoch geschafft zu haben, ihre verfassungsfeindlichen Botschaften in weiten Teilen der nicht-extremistischen Teilnehmerschaft zu verbreiten.»
3 Annemarie Kaiser hat in ihrem schon 1981 erschienen Buch «Das Gemeinschaftsgefühl – Entstehung und Bedeutung für die menschliche Entwicklung» und hier insbesondere im Kapitel «Der ethische Aspekt: Gemeinschaftsgefühl als anzustrebendes Menschheitsziel» (Seite 31ff.) die Zusammenhänge dargestellt.
4 vgl. Barnett, Thomas P. M. «Die neue Weltkarte des Pentagon. Mit einer Liste künftiger Konfliktherde und Interventionspunkte»; in: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2003; https://www.blaetter.de/sites/default/files/downloads/zurueck/zurueckgeblaettert_201305.pdf
5 Eine der wenigen Ausnahmen ist der am 24.11.2020 veröffentlichte Text von Diana Johnstone, «The Great Pretext» (https://consortiumnews.com/2020/11/24/diana-johnstone-the-great-pretext-for-dystopia/); in deutscher Übesetzung bei theoblogcat.de.

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