Die Schweiz nach dem Brexit und vor einem weiteren Kräftemessen mit Brüssel

Versuch einer Standortbestimmung

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

 Grossbritannien ist am 31. Januar 2020 aus der EU ausgetreten. Für die Mitgliedsstaaten, aber auch für uns Schweizer ist dies ein wichtiger Pflock im Boden – es gibt für europäische Staaten auch ein Leben ausserhalb der EU. Mit Blick auf die Schweiz ist zu ergänzen: Für den souveränen demokratischen Kleinstaat ist es von Vorteil, wenn er seine Beziehungen zu anderen Staaten eigenständig regeln kann, und auch die Schweizer Wirtschaft hat sich bisher als stark und erfinderisch genug erwiesen, um mit Schwierigkeiten verschiedenster Art fertig zu werden.

Wo stehen wir? Und wie geht der Schweizer Weg weiter?

Am 17. Mai  2020 werden wir über die eidgenössische Begrenzungsinitiative abstimmen, welche einen weiteren Versuch unternimmt, die Zuwanderung aus dem EU-Raum selbständig steuern zu können. Der Plan Brüssels und der EU-Lobby in Bundesbern ist, diese Initiative mit einer ähnlichen Desinformationskampagne zu bodigen wie die Selbstbestimmungsinitiative, die am 25.11.2018 vom Souverän abgelehnt wurde – denn auch diese zweite Initiative würde eine stärkere politische Einbindung in die EU verhindern. Anschliessend will die EU mit Wucht loslegen, um der Schweiz den institutionellen Rahmenvertrag aufzudrängen, den kaum ein Schweizer wollen kann, wenn er seinen Verstand beisammenhat und versteht, was drinsteht.

Ein Ultimatum aus Brüssel? Ansporn für gewitzte Köpfe in Bern

Bis zum 26. Mai  2020 soll der Bundesrat nach dem Willen der EU-Staaten bereit sein, die «Ratifizierung des Rahmenabkommens einzuleiten». Das heisst, der Entwurf soll dem Parlament und nachher dem Volk zur Entscheidung vorgelegt werden, ohne die von den Kantonen, mehreren Sozialpartnern und Parteien gewünschten Änderungen zu berücksichtigen. Nachverhandlungen werden von Brüssel nach wie vor abgelehnt.

Neun Tage Zeit nach dem Abstimmungssonntag am 17. Mai – ein unfreundlicher Akt Brüssels. Am 26. Mai läuft nämlich das Abkommen zu den technischen Handelshemmnissen (MRA) für den Bereich der Medizinaltechnik ab. (Diese Branche umfasst 1400 Unternehmen und 58 500 Mitarbeiter, erwirtschaftet einen Umsatz von 15,8 Milliarden Schweizerfranken und erreicht ein Exportvolumen von 11,3 Milliarden.) Falls die Schweiz nicht spurt, werde dieses Abkommen nicht aktualisiert, so die Drohung der EU. «Die Verknüpfung sei im Interesse der EU, der Hebel dafür notwendig, die Schweiz zur Ratifizierung des Rahmenabkommens zu bewegen», so «begründet» die EU-Kommission ihr Vorgehen.1 In Wirklichkeit ist diese Verknüpfung rechts- und vertragswidrig, denn das MRA gehört zu den Bilateralen I und ist von der EU einzuhalten. In diesem Sinne auch Tages-Anzeiger-Inlandredaktor Luca De Carli: «Dieser Nadelstich der EU […] ist genauso ungerechtfertigt wie vor einigen Monaten die Aufkündigung der Vereinbarung zur Börse. Brüssel verknüpft aus politischen Gründen Entscheide, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Doch sich darüber zu beklagen, bringt die Schweiz nicht weiter. Sie sollte sich darum auch nicht vom Ultimatum der EU beeindrucken lassen.»2 

Nun, der erfinderische Igel Schweiz hat sich im Wettkampf mit dem EU-Hasen bereits mehrmals als überlegen gezeigt und einen Plan B aus dem Hut gezaubert.3 Wir können gespannt sein, was der Bundesrat dieses Mal ausheckt.

Zwangsnatur des EU-Rahmens widerspricht im Grundsatz dem Schweizermodell

Die Schweiz verliere mit dem institutionellen Abkommen (instA) ihre Souveränität nicht, so die Befürworter einer engeren politischen Einbindung in die EU, denn die «schweizerischen Rechtssetzungskompetenzen bleiben auch unter dem InstA unangetastet».4 Dem ist klar zu widersprechen: Selbstverständlich würde die Souveränität der Schweiz massiv eingeschränkt. Es geht bei der inhaltlichen Auseinandersetzung um weit mehr als um die «Klärung» der drei Bereiche Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie und staatliches Beihilfeverbot, wie einige Medien und der Bundesrat ständig behaupten – obwohl allein die Übernahme dieser drei Bereiche aus dem EU-Recht schon happig wäre. Vielmehr geht es um die grundsätzliche Übernahme der EU-Rechtsetzung sowie der Rechtsprechung des EuGH durch die Schweiz, ohne Wenn und Aber. Diese «dynamische» (ein geschöntes Wort für «erzwungene») Übernahme ist der Hauptzweck des Abkommens für die EU, und da gibt es konsequenterweise nichts nachzuverhandeln, sonst könnte Brüssel geradesogut auf den von ihm gesetzten Rahmen verzichten.

Da würde uns auch das eingebaute Referendumsrecht nichts nützen, denn bei einem Nein des Volkes dürfte die EU «verhältnismässige» Sanktionen ergreifen, ein unwürdiges Szenario für ein souveränes und demokratisches Land. Die laut Schneider-Schneiter «geregelten Bahnen der Streitbeilegung» bestünden darin, dass der Europäische Gerichtshof – das Gericht der Gegenpartei! – letztlich über Uneinigkeiten zwischen der EU-Kommission und der Schweiz entscheiden würde. Das vielgepriesene Schiedsgericht dient laut dem langjährigen Präsidenten des EFTA-Gerichtshofs, Carl Baudenbacher, lediglich als Feigenblatt.

Diese Zwangsnatur des EU-Rahmens widerspricht im Grundsatz dem schweizerischen Verständnis von Recht und Freiheit. Statt dies deutlich zu machen, schaltet der Bundesrat mit seinen verklausulierten Satzgebilden5 einen Nebelwerfer ein, um die «innenpolitische Akzeptanz des Abkommens zu erhöhen».

Wer die Mitbürger über die wahre Natur des Rahmenabkommens aufklären will, muss ab sofort alle Kräfte dafür einsetzen. Denn der Vertragstext ist nicht leicht verständlich und benötigt fachkundige «Übersetzung» in klares Deutsch, verbunden mit einer Einordnung aus staatsrechtlicher Sicht.

Beziehung Schweiz und Grossbritannien – ja, aber auf gleicher Augenhöhe

Wie sich die britische Regierung die Neupositionierung Grossbritanniens in der Welt vorstellt, gilt es kritisch zu verfolgen. Für die Schweiz als unabhängigkeitsliebendes Land ist aber noch ein anderer Gesichtspunkt von Bedeutung: Staaten, die auf gleicher Augenhöhe mit uns Verträge abschliessen wollen, sind uns willkommen. So will Grossbritannien laut Jane Owen, der britischen Botschafterin für die Schweiz und Liechtenstein, seine Beziehungen zur Schweiz vertiefen – nicht nur in wirtschaftlicher Beziehung, aber auch: «Die Schweiz ist nach der EU, den USA und China unser wichtigster Handelspartner», so Owen.6 Unter ihrer Leitung wurde die britische Botschaft in Bern auf rund 50 Mitarbeiter ausgebaut. Potential sieht sie gemäss der «Neuen Zürcher Zeitung» bei den Dienstleistungen, beim Handel und bei der Forschungszusammenarbeit.

Die Augenhöhe wird mit London vermutlich nicht ganz gleich, aber sicher «gleicher» sein als mit Brüssel. Ein zentrales Kriterium für Beziehungen von gleich zu gleich ist, dass die Schweiz frei sein muss zu entscheiden, ob sie einen Vertrag mit einem anderen Staat abschliessen will oder nicht, und dass sie Vertragsverhandlungen notfalls auch abbrechen kann.

Positiv zu vermerken ist, dass Grossbritannien und die Schweiz in den letzten Jahren bereits eine Reihe von Abkommen für die Zeit nach dem Austritt aus der EU abgeschlossen haben (Zeit-Fragen hat darüber berichtet7). So am 11. Februar 2019 ein Handelsabkommen, wonach das Freihandelsabkommen der Schweiz mit der EU von 1972 (mit Ausschluss der landwirtschaftlichen Produkte) für die Beziehungen zwischen der Schweiz und Grossbritannien weiter gelten soll. Auch die Aufenthaltsrechte von Briten und Schweizern, die zum Zeitpunkt des britischen EU-Austritts im jeweils anderen Staat leben, sind geregelt (Abkommen vom 25. Februar 2019), ebenso die gegenseitige Visumsbefreiung. Das EDA listet diese und weitere Vereinbarungen in seiner Homepage auf und plant weiter: «Die Schweiz hat im Rahmen ihrer Strategie ‹Mind the gap› frühzeitig eine Reihe neuer Abkommen mit dem UK in den Bereichen Handel, Migration, Strassen- und Luftverkehr sowie Versicherungen abgeschlossen. Ziel der ‹Mind the gap›-Strategie ist es, die bestehenden gegenseitigen Rechte und Pflichten so weit als möglich zu sichern. Zudem soll in einem zweiten Schritt die Zusammenarbeit Schweiz und UK – wo dies im beidseitigen Interesse ist – über den bestehenden Stand hinaus ausgebaut werden (‹Mind the gap Plus›).»8

Wie sich die gegenseitigen Beziehungen weiterentwickeln, werden wir aufmerksam beobachten.  • 

1  Israel, Stephan; De Carli, Luca. «Die EU gibt der Schweiz neun Tage Zeit»; in: Tages-Anzeiger vom 1.2.2020

2  De Carli, Luca. «Die Schweiz sollte das EU-Ultimatum ignorieren»; in: Tages-Anzeiger vom 1.2.2020

3  Wüthrich, Marianne. «Institutioneller Rahmenvertrag als Instrument des europäischen State-Building» Teil 2; in: Zeit-Fragen vom 26.2.2019

4  So zum Beispiel Nationalrätin Schneider-Schneiter, Elisabeth. «EU-Rahmenabkommen: Die Schweiz verliert ihre Souveränität nicht»; in: Neue Zürcher Zeitung vom 31.1.2020

5  «Zu den europapolitischen Zielen der Schweiz gehören auch in Zukunft die Konsolidierung und Weiterentwicklung des bilateralen Wegs durch den Abschluss eines institutionellen Abkommens sowie einer Partnerschaft, welche ein optimales Gleichgewicht zwischen der Sicherung eines weitgehenden Zugangs zum EU-Binnenmarkt und einer Zusammenarbeit mit der EU in weiteren Interessensbereichen sowie der Wahrung einer grösstmöglichen politischen Eigenständigkeit gewährleistet.» (Schwerpunkte des Bundesrates für die Schweizer Aussenpolitik 2020 bis 2023. Medienmitteilung vom 30.1.2020)

6  Gafafer, Tobias. «Die Britin, die nach dem Brexit die Beziehungen zur Schweiz ausbauen möchte»; in: Neue Zürcher Zeitung vom 1.2.2020

7  Wüthrich, Marianne. «Brexit – Lehren für die Schweiz»; in: Zeit-Fragen vom 9.4.2019

8  Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA. Europapolitik. Brexit

 

Politische Anbindung ist keine Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg

mw. Der Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann* hat im Sommer 2019 in einem Zeitungsinterview in deutlichen Worten darauf hingewiesen, dass die Schweizer Wirtschaft keinen EU-Rahmenvertrag braucht, um erfolgreich Handel treiben zu können.

Auf die Frage, ob die Bedeutung des Rahmenabkommens für den wirtschaftlichen Erfolg der Schweiz übertrieben werde, antwortet Straumann: «Ja, eindeutig. Immer ist im Zusammenhang mit dem Rahmenabkommen die Rede davon, dass es den Zugang zum EU-Binnenmarkt sichere. Doch das ist falsch. Verzichten wir auf ein Rahmenabkommen, dann kommt einfach etwas mehr Sand ins Getriebe.» Aber ohne Abkommen, so die Interviewer, befürchte der Wirtschaftsverband economiesuisse, dass Brüssel die Exporte von Schweizer Firmen in den EU-Raum mit dem Instrument technischer Handelshemmnisse erschweren könnte.

Tobias Straumann: «Entscheidend ist, ob unsere Wirtschaft Güter produziert, die gefragt sind. Bei den technischen Handelshemmnissen wird es etwas teurer, aber man hat immer einen Weg gefunden. Ich verstehe nicht, wie man auf die Idee kommen kann, dass die Schweiz nur dann mit der EU Handel treiben könne, wenn sie sich ganz eng an die EU anbindet. Die wichtigsten Handelspartner der EU sind die USA und China, beides Länder, die weder EU-Mitglieder sind noch das EU-Recht automatisch übernehmen.»

Bemerkenswert ist auch Straumanns Auffassung, dass nicht nur für die Schweiz ein engerer politischer Rahmen aus Brüssel unnötig sei, sondern das EU-Konstrukt für ganz Europa zu überdenken wäre: «Viele Leute haben das Gefühl, dass Europa nur wegen der EU ein wohlhabender Kontinent ist. Das ist vollkommen falsch. Europa ist seit langem ein reicher Kontinent, und es würde reichen, wenn wir wie in Ost-asien Freihandel hätten und die technischen Vorschriften gegenseitig anerkennen würden. Den Rest, zum Beispiel die Forschung, könnte man mit freiwilligen multilateralen Verträgen regeln.»

Quelle: App, Rolf und Müller, Patrik. «Die SVP-Themen haben sich durchgesetzt».
Interview mit Professor Tobias Straumann. «St. Galler Tagblatt» vom 3.6.2019

* Prof. Dr. Tobias Straumann ist Dozent für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich

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