Wer erfand die Uhr?

Nicht die Schweizer – sondern die Natur!

von Heini Hofmann

Die Schweiz steht nicht nur für Schokolade, Käse und Maschinen; sie ist vor allem das Land der Uhren, die Wiege der mechanischen Zeitmessung. Die 1601 gegründete Maîtrise des horlogers de Genève war die wohl erste Uhrmacherzunft der Welt. Trotzdem erfanden nicht die Schweizer die Uhr; es war vielmehr die Natur!

Zwar gab es vor der elektronischen und mechanischen Uhr auch schon Zeitmesser, so die Sonnenuhr mit dem wandernden Schatten, die Wasser- und Sanduhr sowie die Öl- und Kerzenuhr. Doch bevor sich der Mensch mit Zeitmessung befasste, kannte die Natur längst die biologische, die so genannt innere Uhr, ein ausgeklügeltes Meisterwerk, gegen das jeder Chronometer verblasst.

Blumen- und Vogeluhr

Je kultivierter und zivilisierter die Menschheit wurde, desto mehr verspürte sie das Verlangen nach Einteilung und Messung der Zeit, dieses kostbaren, aber vergänglichen Gutes. Die banale Frage «Wie spät ist es?» wurde zur Standard-Redewendung. Doch was tun, wenn keine Uhr zugegen ist? Ganz einfach: auf die Vögel hören und die Blumen beobachten! So legte der berühmte schwedische Naturforscher Carl von Linné, Begründer der biologischen Systematik, bereits 1751 eine Blumenuhr vor, die auf dem zeitlich gestaffelten Sichöffnen und Schliessen verschiedener Blütenpflanzen basierte und recht präzise zu sein schien.

Noch detaillierter versuchte eine Vogeluhr aus dem 19. Jahrhundert eine Skala der Zeitmessung zu konstruieren; eine Kostprobe daraus: 1.30–2.00 Uhr Buchfink, 2.00–2.30 Mönchsgrasmücke, 2.30–3.00 Wachtel, 3.00–3.30 Weissbartgrasmücke, 3.30–4.00 Amsel, 4.00–4.30 Pirol, 4.30–5.00 Weidenmeise, 5.00–5.30 Hausspatz. Nun, jeder Frühaufsteher und Naturfreund weiss aus eigener Anschauung, dass dieser Bio-Chronometer nicht allzu ernst genommen werden darf; denn Vögel zwitschern zwar zu festen Zeiten, jedoch zeitlich sich überlappend.

Innere, biologische Uhr

Im Bereich der Zivilisation trägt heute praktisch jeder Mensch eine Uhr am Arm, und überall befinden sich Zeitmesser, in elektronischen Geräten, im Auto, am Kirchturm, in öffentlichen Gebäuden und in der privaten Stube. Ob wir uns jedoch bewusst sind, dass auch in unserem Körper Uhren ticken, und zwar deren Abermillionen? Das ganze Leben ist chronometriert, und alle Lebewesen, ob Mensch oder Einzeller, richten sich in ihrer Tagesrhythmik nach inneren, biologischen Uhren.

Diese molekularen Schrittmacher steuern – der Erdrotation gehorchend – einen Grossteil der biologischen Funktionen in einer Periode von ungefähr 24 Stunden, was etwa einem Tag entspricht. Dafür hat man, zusammengesetzt aus den lateinischen Wörtern circa (ungefähr) und dies (Tag) den Begriff zirkadianer Rhythmus geprägt; er wird gesteuert durch Lichtwahrnehmung über noch nicht schlüssig erforschte Rezeptoren. Die Wissenschaft, die sich damit beschäftigt, heisst Chronobiologie.

Diese innere Uhr funktioniert wie ein Schwingkreis, der den Tagesrhythmus regelt. Sie hilft uns zum Beispiel beim Einschlafen oder Erwachen, kann uns aber auch irritieren bei Reisen in andere Zeitzonen durch den unangenehmen Jetlag. Oder sie verwirrt uns in unterirdischen Anlagen ohne Tageslicht, weshalb in militärischen Festungen und Kommandobunkern 24-Stunden-Zifferblätter zur Anwendung kamen. Missachtung des Biorhythmus kann sogar zu chronischen Erkrankungen von Schichtarbeitern führen oder zu Konzentrationseinbussen, was die Häufung von Industrie-Störanfällen in den frühen Morgenstunden belegt.

Angeborenes Zeitgefühl

Wie eine innere Uhr funktioniert, zeigt die Forschung am Beispiel Zugvögel, die sich nicht nach dem Wetter richten, sondern am saisonalen Verlauf der Tageslänge orientieren. Werden die Tage im Herbst kürzer, beginnen sie mit den Vorbereitungen für den Distanzflug durch Aufbau der Fettreserven (als Reiseproviant), nachdem sie schon vorher in der sommerlichen Mauser – vergleichbar dem grossen Service beim Auto vor der Ferienfahrt – ihr Federkleid erneuert haben. Als Treibstoffreserve fressen sie sich ein zünftiges Fettpolster an, oft bis zur Verdoppelung des Eigengewichts.

Selbst der Stoffwechsel wird während der Zugzeit derart umgestellt, dass die Vögel während des Langdistanzfluges bis zu 95 Prozent der notwendigen Betriebsenergie aus dem Körperfett beziehen können. Aber nicht nur die Physiologie, auch das Verhalten wird von der inneren Uhr umgepolt. Vor dem Zug werden viele sonst rein tagaktive Vögel plötzlich nachtaktiv. Selbst gefangengehaltene Zugvögel zeigen diese nächtliche Unrast mit Hüpfen und Flattern, wobei diese Aktivitäten auf die angeborene Zugrichtung ausgerichtet sind und zudem bei Langstreckenfliegern ausgeprägter ausfallen als bei Kurzstreckenziehern. Dies deutet auf ein vererbtes Richtungs- und Distanzgefühl.

Keine Bahnhofsuhren

Als man Ende der fünfziger Jahre die biologischen Uhren bei Fliegen und Menschen entdeckte, ging man noch davon aus, dass ein solcher Zeitgeber nur im Gehirn angesiedelt sein könne. Doch nachdem sich solch zirkadiane Rhythmen auch nachweisen liessen in Bakterien, Pilzen und Pflanzen, die über keine zentralen Steuerungsmechanismen verfügen, war klar, dass auch Körperzellen über eigene biologische Uhren verfügen.

Während man früher die Steuerung von Biorhythmen nur dem Gehirn zuschrieb, konnte die neuere Forschung nachweisen, dass es auch in Organgeweben und Einzelzellen Taktgeber gibt, die nicht bloss einfache Oszillatoren, sondern autonome Biozeitgeber darstellen, welche unabhängig von einer zentralen Schaltstelle funktionieren, also nicht wie Bahnhofsuhren an einer Mutteruhr hängen. Und dennoch scheint es einen Zusammenhang zu geben, indem die dezentralen Uhren der Wirbeltiere mit der Zirbeldrüse im Gehirn zusammenarbeiten, welche durch Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin den Tagesrhythmus steuert.

Geniales Clock-Gen

Intensiv wurde nach dem verantwortlichen Lichtempfänger tierlicher Biouhren geforscht. Nachdem feststand, dass die beiden Rezeptortypen der Netzhaut, das heisst Zapfen und Stäbchen, für die Eichung der Biouhr entbehrlich sind, konzentrierte sich das Interesse bezüglich Photorezeptorfunktion auf die sowohl bei Tieren wie Pflanzen verbreitete Gruppe von lichtaktiven Substanzen, die – entsprechend ihrer noch nicht enträtselten Funktion – Cryptochrome heissen. Man nimmt an, dass solch zirkadianer Lichtsensor Impulse ans Gehirn sendet, das dann Botenstoffe in die Blutbahn abgibt und so die Milliarden von Körperuhren mit der Erdrotation abstimmt.

Weil der Zebrafisch eines der bestuntersuchten Modelle der Wirbeltier-Genetik darstellt, wurde an ihm die Aktivität des sogenannten Clock-Gens untersucht, das im Tierreich massgebend für das Funktionieren der zirkadianen Uhr verantwortlich ist. Zur Ermittlung der Aktivität dieses Clock-Gens mass man die Konzentration der Boten-RNA, das heisst jener Genabschrift, die als Blaupause die Proteinfabriken steuert. Und siehe da: Die Clock-Aktivität schwankte im Tagesablauf nicht bloss im Gehirn, sondern auch in andern Organen. Was wiederum dafür spricht, dass es sich bei den dezentralen Uhren nicht bloss um externe Zifferblätter einer Zentraluhr handelt.

Die Schicksalsuhr

Neben der zirkadianen Uhr, welche die periodischen Abläufe des Lebens steuert, gibt es auch noch die langsamer, aber um so unerbittlicher «tickende» Lebensuhr, die bestimmt, wann die ersten Barthaare spriessen oder wann sich die weibliche Brust zu entwickeln beginnt, wann das Körperwachstum aufhört, wann die Haut altert und die Haare ergrauen. Dieser Schicksals-Chronometer, der individuell die Lebensspanne bemisst und über dessen Funktionsweise man noch rätselt, gleicht einer auslaufenden Sanduhr, die kein Sterblicher umdrehen kann, und die eines Tages – stillsteht.  •

  

Adaptierte Darstellung der Linné'schen Blumenuhr

Medizinnobelpreis 2017 an Chronobiologie

HH. Wie hochaktuell die Erforschung der biologischen Uhr ist, belegt die Tatsache, dass der Forschungszweig Chronobiologie 2017 mit dem Nobelpreis für Medizin beehrt wurde: Die Wissenschafter Jeffrey C. Hall,Michael Rosbash und Michael W. Young, alle drei USA, erhielten ihn für ihre «Entdeckungen der molekularen Mechanismen, die den zirkadianen Rhythmus kontrollieren».

Sie erbrachten den Nachweis dessen, was frühere Forscher anhand von Versuchen an mutierten Fruchtfliegen schon vermutet hatten, nämlich dass die innere Uhr genetisch verankert sei. Es gelang ihnen, das als zuständig vermutete Gen (Period genannt) zu isolieren und noch weitere beteiligte Gene und Proteine zu charakterisieren.

Und sie konnten zeigen, wie diese molekularen Bausteine das biologische Uhrwerk steuern und auch für die Hormonausschüttungen verantwortlich sind, die uns – durch einen rhythmischen Feedbackmechanismus – beim Erwachen am Morgen auf Touren bringen (Cortisol) respektive abends beim Zubettgehen schläfrig machen (Melatonin) und dabei auch Körpertemperatur und Blutdruck regulieren.

Liebes-Chronometer

HH. Ein wichtiges Regelwerk ist die «Liebesuhr»; sie lässt Tiere erahnen, wann Fortpflanzungszeit ist. Doch nicht alle spüren den «Frühling» zur selben Zeit, wie das Beispiel einheimischer Schalentiere zeigt, welche die heissen Tage in die kühle Jahreszeit verlegen; so fällt die Brunft beim Hirsch auf Oktober, bei der Gams dauert sie bis November, und das Schwarzwild rauscht sogar erst im Dezember. Die Rehe dagegen paaren sich bereits mitten im Hochsommer, lassen dann aber die befruchteten Eizellen fast ein halbes Jahr ruhen, ehe die Einnistung in die Gebärmutter und damit das Embryonalwachstum einsetzt.

Doch wie «tickt» eigentlich diese «Liebesuhr» – zum Beispiel bei den Rehen? Die länger werdenden Tage im Frühsommer stimulieren die Hypophyse und setzen dadurch die Produktion von Geschlechtshormonen in Gang. Den eigentlichen Brunfttermin bestimmen die Geissen, indem sie bereits in der Vorbrunft Pheromone (Dufthormone) aussenden, auf welche die Böcke reagieren. Doch wirklich paarungsbereit sind sie nur während weniger Stunden.

Ähnlich wie beim Vogelzug, so spielt auch bei der Brunft das Wetter keine Rolle. Indirekt allerdings schon; denn Rehgeissen können bei ungünstiger Witterung die Tragzeit ein klein wenig verlängern, weshalb der Setztermin in der gleichen Population von Jahr zu Jahr etwas schwanken kann. Eine solche Zeitverschiebung überträgt sich dann aber auch auf den nächsten Eisprung und den erneuten Brunftbeginn. Der Paarungszeitpunkt ist also nicht vom Wetter, sondern vom letzten Setztermin abhängig.

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