Kindern eine Chance geben

von Dr. Eliane Perret, Heilpädagogin und Psychologin

Eine unerwartete Begegnung: Vor kurzem machte ich einen Streifzug durch die Elektronikabteilung eines Warenhauses. Da hörte ich meinen Namen. Als ich mich umdrehte, kam mir ein junger Mann entgegen, ein verlegenes Lachen auf dem Gesicht. Ich erkannte ihn sofort. Es war Miguel. Er war vor drei Jahren aus der Oberstufe unserer Schule ausgetreten. Nun machte er eine Lehre in seinem Traumberuf im Elektronikbereich. Wir hielten einen kurzen Schwatz, und ich lud ihn ein, wieder einmal bei unserer Schule vorbeizuschauen. Es hatte mich ungemein gefreut, ihn so aufgestellt bei der Arbeit zu sehen.

Mir ging die seit langem oft erhitzt geführte Diskussion um die Integration von verhaltensauffälligen Kindern durch den Kopf. Miguel war eines gewesen und in unserer Sonderschule unterrichtet worden.

«… hat eine gute Intelligenz, aber …»

Als wir uns verabschiedet hatten, gingen mir Erinnerungen an die Zeit mit ihm bei mir in der Mittelstufenklasse durch den Kopf. Es war nicht einfach gewesen mit ihm. Oft war er müde und schlecht gelaunt und hatte den Kopf auf den Tisch gelegt. Dann war ihm jede Anstrengung zuwider, und man musste ihn mit Humor und Entschiedenheit zum Lernen gewinnen. Aber er konnte auch charmant und mit grosser Sorgfalt an der Arbeit sein. Seine Mutter berichtete mir von zu Hause Ähnliches. Oft fand sie ihn schlafend auf dem Bett. Aber genauso konnte er liebevoll mit seinen viel jüngeren Geschwistern spielen und ihr im Haushalt helfen. Hausaufgaben hingegen machte er nie. Seine Lernbiographie war bewegt. Bei der Aufnahme an unserer Schule wurde seine Problematik wie folgt beschrieben:

«[…] hat eine gute Intelligenz, arbeitet aber in der Schule nicht mit; ist impulsiv und hält sich kaum an Regeln […], hat wenig Ausdauer […], fehlt immer wieder unter fragwürdigen Vorgaben in der  Schule […], eine kinderpsychiatrische Abklärung ist im Gange […]»  Nun sind für uns solche Berichte nicht ungewöhnlich, im Gegenteil. Wir sind eine Schule für solche Kinder.

Kooperativ Mitmensch werden

War Miguel verhaltensauffällig? Natürlich muss man sagen, natürlich fällt er auf, natürlich muss er viel lernen, damit er später ein kooperativer Mitmensch wird. Aber mit dieser Feststellung ist die Aufgabe nicht gelöst, sondern sie beginnt erst.

Um es vorweg klarzustellen: Wenn Kinder sich nicht alle in derselben Weise verhalten, ist das nur gut so. Das Schöpferische in der individuellen Lebensgestaltung ist eine Bereicherung. Wir wollen ja keine abgerichteten kleinen Lebewesen, denen Bravheit und Gehorsam aufgezwungen wurden, sondern Menschen, die das Zusammenleben mit ihren Mitmenschen auf dem Boden von Mitmenschlichkeit, Gleichwertigkeit und Verantwortungsgefühl für sich und die anderen gestalten.

Schon immer ein Thema

Was ist nun verhaltensauffällig? In den entsprechenden (heil-)pädagogischen Lehrwerken nehmen Kinder mit den oben beschriebenen Verhaltensweisen seit langer Zeit einen breiten Raum ein. Verständlich! Sie sind heraus- und oft auch überfordernd.

Je nach Erscheinungsjahr und Ausrichtung des Lehrwerks werden sie anders bezeichnet. In der Namensgebung spiegelt sich der Wandel der Zeit. Pädagogische und psychologische Erkenntnisse setzen neue Akzente, ein Erscheinungsbild wird in neuem Licht betrachtet. Oft scheint mir heute der Fokus eingeschränkt zu sein und nicht das Kind als ganze Person zu erfassen.

Unterschiedliche Betrachtungsweisen –
unterschiedliche Konzepte

Tendenzen, Normen, Werte und Zielvorstellungen, die für einen bestimmten Kultur- und Zeitraum verantwortlich sind, haben einen entscheidenden Einfluss, was als auffällig und was als normal eingestuft wird. Aber ist die Norm immer das Normale? Heute ist es normal, dass die Menschen im Tram immer auf ihr Handy starren. Ist nun derjenige verhaltensauffällig, der aus dem Fenster schaut, mit jemandem spricht oder gar ein Buch liest?

Selbstverständlich ergeben sich aus den unterschiedlichen Betrachtungsweisen auch unterschiedliche Diagnosen und pädagogische Konzepte. Sie können eine Leitlinie sein, aber für die Arbeit mit dem einzelnen Kind oder Jugendlichen braucht es mehr. Es muss uns gelingen, sie als Menschen in ihrer Einzigartigkeit in ihrem je individuellen Lebenskontext zu erfassen.

Ein Kind verstehen lernen

Es gehört zu den spannenden (heil-)pädagogischen Aufgaben, ein Kind «verstehen» zu lernen. Wo haben die Schwierigkeiten begonnen? War es seit der Geburt des Geschwisters? Beim Eintritt in den Kindergarten oder die Schule? Hat es wichtige Beziehungspersonen verloren oder liegt es im Streit mit ihnen? Fühlt es sich den aktuellen Anforderungen gewachsen? Wo sind seine Stärken? Wie gelingt es, einen Beziehungsfaden zu knüpfen?

Wie ich beobachtet habe, wird das problematische Verhalten oft eingeleitet durch ein Gefühl der Unsicherheit in Hinblick auf eine bevorstehende Lebensaufgabe, der sich das Kind nicht gewachsen fühlt und vor der es zurückweicht. Es fühlt sich in einer unterlegenen Position und erwartet von den es umgebenden Mitmenschen Entlastung. Dabei greift es auf frühkindlich vorgebildete Bewältigungsmuster zurück, mit entsprechenden Erwartungen ans Gegenüber. Vor diesem Hintergrund wird (Heil-)pädagogik verstärkt zur Beziehungsarbeit. Das bedeutet, dem Kind ermutigend und anleitend beizustehen, an den Schwierigkeiten und Erfolgen seines jeweiligen Lernens Anteil zu nehmen und es zu fördern und zu fordern. So kann der Weg zu mehr innerer Flexibilität freigelegt werden, die es braucht, um neue Lebensaufgaben konstruktiver und kooperativ anzupacken. So war es auch bei Miguel gewesen.

Der Klassenunterricht als heilendes Element

Von der Lehrperson fordert diese Aufgabe ein hohes Mass an Ausgeglichenheit und emotionaler Reife. Sie muss sich ihres eigenen Wertesystems bewusst sein, mit dem sie das kindliche Verhalten beurteilt und bejahend oder verneinend beeinflusst.

Bei Kindern, die kooperatives Empfinden und Verhalten nicht einüben konnten, kann dieses nachgeholt werden. Der oft zu Unrecht verpönte Klassenunterricht ist ein ausgezeichnetes Übungsfeld für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensproblemen. Die erlebte Gemeinschaft und Lehrerinnen und Lehrer, die ihnen unterstützend und wegweisend zur Seite stehen, werden zum Ausgangspunkt für die Entwicklung von sozialer Kompetenz. In geschütztem Rahmen gewinnen sie Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und mehr Sicherheit im Zusammenleben. Aus der langsam wachsenden Verbundenheit und dem positiven Gefühlsaustausch mit den Gleichaltrigen können sie Erlebnisse gewinnen, die ihre Persönlichkeit weiter bereichern und stärken und den Mut zu dem dem jeweiligen Alter entsprechenden Weiterlernen fördern.

Selbstverständlich erfordert diese Herangehensweise ein gemeinsames Verständnis der Schwierigkeiten des Kindes bei Eltern, Lehrern und psychologischen Fachpersonen, damit auf der emotionalen Ebene eine Veränderung erwirkt werden kann.

In Übereinstimmung mit vielen

Ich stehe mit meiner Auffassung sicher etwas im Gegenwind zu heutigen Tendenzen, wo Verhaltensauffälligkeiten oft mit Zählen, Messen und Ankreuzen erfasst werden. Sie steht aber in Übereinstimmung mit den Forschungen zur anthropologisch fundierten Heilpädagogik (Kobi u. a.), der Bindungsforschung (Ainsworth, Grossmann, Julius u. a.), der Anthropologie (Tomasello u. a.), der Kinderpsychopathologie (Trevarthen, Hobson) und der Individualpsychologie. 

Eine echte Chance geben

Es geht mir darum, den uns anvertrauten verhaltensauffälligen Kindern mit meiner Arbeit eine echte Chance zu geben, damit sie eine umfassende Beziehungsfähigkeit entwickeln können. Wir dürfen nicht der Versuchung erliegen, ihre Verhaltensweisen zu verwalten oder in «Schranken zu halten», ohne eine echte innere Veränderung zu bewirken. Das scheint mir auch im Sinne des zuständigen Ausschusses der Kinderrechtskonvention zu sein, die 2015 die Schweiz darauf hingewiesen hat, dass zu häufig die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-(Hyperaktivitäts)-Störung AD(H)S gestellt würde und man des weiteren besorgt sei über den damit verbundenen Anstieg der Verschreibung von Methylphenidaten wie Ritalin, Concerta und so weiter.

Die Begegnung mit Miguel beschäftigt mich weiter. Er hat sich gefangen und geht seinen Weg. Sicher immer wieder mit kleineren oder grösseren Umwegen. Aber er wird ihn gehen!                                                                        •

 

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