Corona – erneut ein Anlass, bewusster zu leben und mitmenschlich zu handeln

von Karl-Jürgen Müller

Vor mehr als 20 Jahren, im Jahr 1997, hat Stefan Winkle, emeritierter Professor für Hygiene in Jena und Hamburg, ein mehr als 1500 Seiten umfassendes Werk veröffentlicht: «Geisseln der Menschheit – Kulturgeschichte der Seuchen» – so der gegenüber der ersten Auflage etwas veränderte Titel der 2005, ein Jahr vor dem Tod des Autors, erschienenen 3. und letzten Auflage. Das Buch ist nicht nur ein Nachschlagewerk für das medizinische Studium der Seuchengeschichte, sondern auch für die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Dimensionen ansteckender Krankheiten. Und ein weiterer Beleg dafür, dass jeder Fortschrittsglaube, der dem Menschen die Macht über sein eigenes Geschick zuspricht, differenziert beurteilt werden muss.
Das Corona-Virus und die damit verbundenen Folgen erinnern die Menschheit erneut daran, welche Folgen ansteckende Krankheiten in allen Lebensbereichen haben (können), und zeigen erneut, dass der Mensch nicht der absolute Herr seiner Geschicke ist. Dennoch kann er sehr viel tun, um nicht nur Getriebener, sondern auch bewusster und besonnener Akteur der eigenen Lebensgestaltung und der Leidensvermeidung beziehungsweise Leidensminderung zu sein. Vor allem dann, wenn er sich sachgerecht informieren kann, eine gesundheits- und lebensschützende Entschlossenheit zeigt und mit anderen Menschen kooperieren kann – immer mit Verantwortung für das eigene wie auch für das andere menschliche Leben. Dass er aber auch angewiesen ist auf intakte Strukturen staatlicher Ordnung.
Dabei gibt es nichts zu beschönigen. Corona hat zwar nicht die verheerenden Folgen für Gesundheit und Leben wie die Seuchen Pest, Pocken oder ähnliche, oftmals tödlich verlaufende ansteckende Krankheiten. Aber schon jetzt hat die Ansteckung mit dem Corona-Virus Zehntausende von Menschen krankgemacht, und Tausende mussten an den Folgen der Erkrankung sterben. Die weiteren Schäden in Wirtschaft und Gesellschaft sind noch nicht abzusehen; die Welt steht aller Wahrscheinlichkeit nach erst am Beginn einer weltweiten Epidemie (= Pandemie), und die für das menschliche Überleben wichtigen und notwendigen staatlichen Strukturen sind in vielen Ländern der Welt oftmals nicht in ausreichendem Masse vorhanden. Armut, Not und ein unzureichendes Sozial- und Gesundheitssystem sind auch hier ein Feind menschlichen Daseins.
Die meisten Bürger Europas haben das grosse Glück, dass sie noch relativ intakte staatliche Strukturen haben. Es ist richtig, dass die von der OECD diktierten Sparmassnahmen und die an der Gewinnerzielung orientierten Privatisierungen in unseren Gesundheitssystemen viele solide und auch für Notfälle wie jetzt gedachten Strukturen enorm geschwächt haben. Trotzdem können wir noch immer froh darüber sein, in einem Staat Europas leben zu können und nicht in einem Dritte-Welt-Land leben zu müssen. Solche noch relativ intakten Staaten haben auch jetzt wieder Aufgaben, die über die Landesgrenzen hinausgehen.
Die Geschichte der Seuchen hat immer wieder gezeigt, dass solche Notsituationen alten Vorurteilen neue Nahrung liefern. Da ist es gut, wenn dem entgegengesteuert wird. In Mailand, also in einer Region, die derzeit besonders stark von Infektionen mit dem Corona-Virus betroffen ist, hängt ein Plakat mit der chinesischen (oben) und italienischen Aufschrift (unten): «Il nemico è il virus non le persone.» («Der Feind ist das Virus, nicht das Volk.») In der Mitte sind zwei Unterarme und Hände zu sehen, die sich gegenseitig halten. Der eine Unterarm ist wie die chinesische Nationalfahne bemalt, der andere wie die italienische. Und die Bildunterschrift in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 27. Februar 2020 dazu lautete: «Im Mailänder Quartier Paola Sarpi wirbt ein Plakat für die Zusammenarbeit im Kampf gegen das Virus.» Das ist ein sehr schöner Gedanke.
Die relativ schnell vorangegangene weltweite Ausbreitung der Ansteckungen mit dem Corona-Virus zeigt schon jetzt die vielen Schattenseiten der Globalisierung. Aber das Plakat in Mailand zeigt auch, was die mitmenschliche Alternative sein kann: gegenseitige Hilfe. Das wäre das Gegenteil von Feindbildern, Handelskriegen wie auch dem Dumping-Wettbewerb eines vermeintlich «freien» Handels; das Gegenteil von Sanktionen, Kriegstrommeln und Kriegsvorbereitung – und vor allem das Gegenteil von Krieg. Wie so viele Seuchen der Menschheitsgeschichte ist auch das Corona-Virus eine Herausforderung für die ganze Menschheit. Das gibt auch Uno-Institutionen wie der Weltgesundheitsorganisation WHO eine grundlegende Berechtigung – wenn sie denn als Institution die Gleichberechtigung aller Nationen, Völker und Menschen achtet und nicht an spezielle Interessen gebunden ist.
Klingt das wie eine Utopie? Es ist im Grunde genommen nur das, was dem Menschen und seiner Sozialnatur entsprechen würde.  •

So …

«Die Fallzahlen und Todesfälle [im Iran] steigen täglich, aber das Gesundheitssystem ist auf Grund der US-Sanktionen völlig überfordert und für eine Epidemie dieses Ausmasses nicht ausgerüstet.

Völlig unbeeindruckt von menschlichen Schicksalen und den bisher noch gar nicht absehbaren Folgen für die Bevölkerung zeigen sich solche Vertreter des Regime-Change-Projektes im Iran wie Mark Dubowitz1. Obwohl Iran auf Grund der US-Sanktionen nicht in der Lage ist, genügend medizinische Schutzmasken oder überhaupt Testkits zu kaufen, um das Virus bei Menschen mit Symptomen bestimmen zu können, freut sich Dubowitz darüber, dass das ‹Corona-Virus das geschafft hat, was die amerikanischen Wirtschaftssanktionen nicht konnten: Stillegung von Nicht-Öl-Exporten›. Der iranische Vizeaussenminister Seyed Abbas Aragtschi nannte es ‹beschämend und geradezu unmenschlich›, dass Dubowitz die Ausbreitung eines ‹tödlichen Virus bejubelt›.»

Quelle: rt deutsch vom 28.2.2020

1 Mark Dubowitz ist der neokonservative CEO des US-amerikanischen Think tanks «Foundation for Defence of Democracy»

 

… oder so?

«Ein neuer Schweizer Zahlungskanal soll es Firmen ermöglichen, trotz der amerikanischen Sanktionen Medikamente an Iran zu liefern. […] Humanitäre Organisationen beklagen seit Monaten, dass die amerikanischen Finanz- und Handelsbeschränkungen die Lieferung wichtiger Arzneimittel und medizinischer Geräte behinderten. […] Das Swiss Humanitarian Trade Arrangement (SHTA) bietet erstmals einen offiziell genehmigten Zahlungskanal für Schweizer Firmen an, um Geschäfte mit Medikamenten, Lebensmitteln und anderen humanitären Gütern abzuwickeln. Der Mechanismus, der vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) in Kooperation mit dem Finanzministerium in Washington aufgelegt wurde, soll in wenigen Wochen seine Arbeit aufnehmen. Einen ersten Probelauf gab es Ende Januar.»

Quelle: «Neue Zürcher Zeitung» vom 15.2.2020

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