Auf jeden Fall kein «Weiter so…»

Die Corona-Pandemie: Anlass zum Umdenken

von Dr. phil. Winfried Pogorzelski

Das Corona-Virus hat seit dem vergangenen Dezember nicht nur China, sondern inzwischen die ganze Welt gewissermassen kalt erwischt. Wer hat schon damit gerechnet, dass die Pandemie uns in diesem Masse heimsucht, dass unser gesellschaftliches Leben für Wochen, wenn nicht Monate regelrecht stillstehen muss? Dennoch: Es gab untrügliche Zeichen und Vorboten; inzwischen ist man sich über alle Grenzen hinweg einig, dass die Pandemie eine Zäsur ungeahnter Wucht ist, nach der vieles, wenn nicht alles nicht mehr so ist wie zuvor.

Vorbote «Sars»

In den Jahren 2002 und 2003 verbreitete sich, ausgehend von China, die erste Pandemie des 21. Jahrhunderts in der ganzen Welt, die das schwere akute Atemwegssyndrom (englisch: severe acute respiratory syndrome, Sars) hervorrief und von der WHO im Mai 2004 für besiegt erklärt wurde. Gut 8000 Fälle traten weltweit auf, knapp 800 Tote standen 7200 Genesenen gegenüber.1

Planspiele in der Schweiz…

Unter anderem dieses Ereignis mag Verantwortliche dazu bewogen haben, Szenarien durchzuspielen, um in Zukunft besser gerüstet zu sein, so zum Beispiel in der Schweiz und auch in Deutschland. Alle 26 Kantone waren involviert, als es 2014 hiess, ein neuartiges, aus Zentralasien stammendes Grippevirus mit einer hohen Letalitätsrate verbreite sich in Windeseile über den Globus. Diese Übung zeigte, dass die Vorsorgeplanungen nicht auf dem neuesten Stand waren. Ein neuer nationaler Pandemieplan wurde entwickelt, als aber im Mai 2018 der Vorsteher des Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS)  Guy Parmelin nachfragte, wie gut die Kantone diesbezüglich inzwischen organisiert seien, stellte sich heraus, dass sie ihre Hausaufgabe nicht gemacht hatten. Als Viola Amherd im Januar 2019 das VBS übernahm, standen andere Aufgaben ganz oben auf der Prioritätenliste: die Abwehr des internationalen Terrorismus und die Beschaffung neuer Kampfjets. Dann breitete sich die Corona-Pandemie in einem Tempo aus, mit dem niemand gerechnet hatte. Es galt die Annahme, in der globalisierten Weltwirtschaft könnten in nützlicher Frist nötige Grundstoffe wie Ethanol und Produkte der Medizinaltechnik wie Gesichtsmasken importiert werden. Doch dann standen die hierfür zuständigen Kantone vor dem Problem von Lieferengpässen. Das heisst, die Pläne waren vorhanden; es haperte aber an deren Umsetzung, weil zur Zeit der Übung und danach erstens die Spitalplanung, die sich mit Überkapazitäten und steigenden Gesundheitskosten beschäftigen musste, und zweitens die ständig steigenden Krankenkassenprämien im Vordergrund standen.2

… und in Deutschland

Desgleichen in Deutschland: Eine von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Analyse von 2013 ging von wesentlich drastischeren, eigentlich unrealistischen Bedingungen aus, als wir sie momentan bei der Corona-Pandemie vorfinden: Alle Altersgruppen  sind in dem Modell im gleichen Ausmass betroffen, und die Mortalitätsrate liegt wesentlich höher. Deshalb wird ausdrücklich betont, dass der Realitätsgehalt dieses Szenarios begrenzt sei. Was die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen angeht, ähneln die Entwicklungen denjenigen, wie wir sie jetzt erleben: Die Börsenkurse sinken dramatisch, ganze Wirtschaftszweige sind mit einem regelrechten Kollaps konfrontiert, die Staaten investieren Milliardenbeträge, die EU steht vor einer Zerreissprobe, weil die wirtschaftlich angeschlagenen Länder Italien und Spanien sich vom reicheren Norden im Stich gelassen fühlen. Die betroffenen Länder sind mit massiven Lieferengpässen von Medizinalprodukten konfrontiert.3

Epidemien wird es immer geben: Was tun?

Die WHO registriert jedes Jahr weltweit etwa 200 Epidemien. Ständig besteht die Gefahr, dass eine von ihnen zur Pandemie mit unabsehbaren Folgen für Wirtschaft, Gesundheit und Gesellschaft weltweit wird. Das ist die Realität, der sich die Menschheit jetzt und in aller Zukunft stellen muss.
Verantwortung auf der ganzen Linie von jedem Staat für seine Bürger lautet also die Devise. Was ist konkret zu tun? Die Gesundheitssysteme müssen dergestalt entwickelt werden, dass sie für die drohenden Szenarien besser gerüstet sind. Konkrete Vorschläge für die Schweiz, die auch auf andere Staaten übertragen werden können, stammen u. a. von der Aargauer Gesundheitspolitikerin und CVP-Nationalrätin Ruth Humbel4: gründliche Überarbeitung der bestehenden Pandemiepläne und zuverlässige Gewährleistung der Umsetzung im Krisenfall. Die Herstellung wichtiger Medikamente solle, so Frau Humbel mit Nachdruck, wieder vollständig in der Schweiz erfolgen, das heisst natürlich auch kein Verkauf mehr von Firmen ins Ausland, die für die hiesige zuverlässige Gesundheitsvorsorge unerlässlich sind: Das ehemalige Serum- und Impfstoffinstitut Berna Biotech wurde 2006 an eine holländische Firma verkauft.5
Ausserdem sind die Pläne zur Reduktion von Spital-Kapazitäten zu überdenken. Sinnbildlich hierfür steht eine Entscheidung des Kantonsspitals Frauenfeld: Der Abbruch des Bettenhochhauses mit 200 Betten (ein entsprechender Neubau wurde errichtet) ist verschoben worden. Oft wehrt sich die Bevölkerung vehement gegen die Schliessung von Regionalspitälern, wie etwa im Mai 2019 in Affoltern am Albis, als fast drei Viertel der Stimmbürger für die Erhaltung des Spitals stimmten. Und nicht zuletzt geht es um Erhalt und Pflege der Schweizer Armee, die Unverzichtbares leistet: Das Grenzwachtkorps hilft bei der Sicherung der Landesgrenze, und Sanitätssoldaten, 8000 an der Zahl, leisten Unterstützung in den Spitälern – ein unverzichtbarer Beitrag in der jetzigen Lage.

Entfesselte Globalisierung kein Heilmittel

Und schliesslich: Endgültige Verabschiedung von der Illusion, dass die Globalisierung ein einziger Segen für die Menschheit sei, da alles für die Weltbevölkerung von Nutzen sei, was sich – vor allem für Global player – auch wirtschaftlich rechnet. Natürlich profitieren nicht nur die Firmen bei den Kosten, wenn sie ihre Waren an Standorten in der ganzen Welt herstellen und sie weltweit vertreiben können. Auch uns Endverbrauchern kommt es entgegen, wenn die Preise niedrig und die Konsumgüter nahezu überall erhältlich sind. Aber wir geniessen es auch, wenn wir Produkte kaufen können, die unter Bedingungen hergestellt wurden, die wir kennen und gutheissen können. Mit unserem Kaufverhalten fördern wir gerne die Prosperität unserer Region.
Jeder Staat trägt die Verantwortung für das Wohl und Weh seiner Bürger, für die bestmögliche Gesundheitsvorsorge sowie für die Förderung von medizinischer und pharmazeutischer Wissenschaft. Eine reine Fokussierung auf Wirtschaftlichkeit und Profitorientierung wäre verantwortungslos, momentan und auch in Zukunft.

Entspannung, aber keine Entwarnung

Inzwischen hat sich die Situation etwas entspannt: Die Zahl der Hospitalisierungen wegen Corona-Erkrankungen geht in der Schweiz wie auch in Deutschland zurück. Hierzulande wie in Deutschland gibt es genügend freie Spitalbetten auf Grund vorsorglicher Massnahmen in einer speziellen Situation; die Covid-19-Intensivbetten in Zürich, Basel sowie in den Kantonsspitälern von St. Gallen, Luzern und im Aargau sind nicht ausgelastet.6 Knappheit herrscht zum Glück nirgendwo, und das ist gut so. Der Präsident der schweizerischen Spitaldirektoren Rolf Gilgen betont aber, es sei für eine Entwarnung zu früh. Im Falle einer erneuten Ansteckungswelle müssten die Spitäler die Kapazitäten für Corona-Patienten innerhalb von zwei bis drei Tagen wieder hochfahren können.7 Dem kann man sich nur anschliessen.      •

https://www.who.int/csr/sars/country/table2004_04_21/en/
2  «Pandemie-Übung 2014: Die Schweiz war gewarnt»; in: Aargauer Zeitung vom 28.3.2020
3  «Das könnte eine Pandemie für Deutschland bedeuten»; in: Welt online vom 26.2.2020, https://www.welt.de/wirtschaft/article206119443/Coronavirus-Das-bedeutet-eine-Pandemie-fuer-Deutschland.html
4  «Aargauer Gesundheitspolitikerin Ruth Humbel: ‹Musste Vater überzeugen, dass ich einkaufe›»; in: Aargauer Zeitung vom 30.3.2020
5  ebd.
Neue Zürcher Zeitung vom 16.4.2020
Aargauer Zeitung vom 16.4.2020

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