«Machtübernahme des Bundesrates» ist ein Hirngespinst - von Dr. iur. Marianne Wüthrich
Seit Wochen sind wir es nun gewohnt, dass die Mitglieder des Bundesrates in Medienkonferenzen vor die Bevölkerung treten, um ihre Beschlüsse und die dahinterstehenden Überlegungen mitzuteilen und zu begründen sowie Fragen der Presse und (telefonisch) aus der Bevölkerung zu beantworten. Im einen oder anderen Blatt oder Online-Medium wurde daraus konstruiert, die Exekutive wolle «die Macht im Staat an sich reissen». In Wirklichkeit weiss jeder, dass das Schweizer Parlament seine Frühjahrssession wegen der gesundheitlich riskanten Situation nach zwei Wochen abbrechen musste.1 Nun wird es, auch auf ausdrücklichen Wunsch des Bundesrates, seine Aufgabe als Legislative wieder voll wahrnehmen können. Die Sondersession anfangs Mai wird ganz im Zeichen der Corona-Krise stehen. Die verschiedenen Kommissionen des National- und des Ständerates sind seit dem 6. April an der Vorbereitungsarbeit. Die Ratssitzungen werden auf dem Messegelände der «Bernexpo» stattfinden, weil dort die Einhaltung der Distanz- und Hygienemassnahmen für die Politiker und die Mitarbeiter der Bundesverwaltung gewährleistet werden kann. Die gesamten Debatten im National- und Ständerat können (wie schon seit einigen Jahren) online mit- oder nachgehört und natürlich auch nachgelesen werden.
Das definitive Programm legen die Büros der beiden Räte am 1. Mai fest, es wird alle Notentscheide des Bundesrates umfassen. Alle Kommissionen stellten sich mit grossen Mehrheiten hinter den Bundesrat und bedankten sich für seinen wichtigen Einsatz zum Wohl des Landes und der Bevölkerung. Zur politischen Einordnung hat Zeit-Fragen zudem zwei Nationalrätinnen der SP und der SVP einige Fragen gestellt.
Im folgenden sollen aus der Fülle von Vorstössen und Empfehlungen aus den Kommissionen einige der wichtigsten herausgegriffen werden.2 In der Ausserordentlichen Session werden die Mehrheits- und Minderheitsvertreter der einzelnen Kommissionen ihre Anträge und deren Begründungen dem jeweiligen Ratsplenum unterbreiten.
Kommissionen beantragen die Genehmigung
der Milliarden-Nachtragskredite und des Armee-Einsatzes
Wichtigstes Geschäft der Session ist die Genehmigung eines ganzen Bündels von Nachtragskrediten zum Voranschlag 2020, das der Bundesrat als Folge der Corona-Pandemie dem Parlament unterbreitet.3 Die Finanzkommission des Nationalrates (FK-N) beantragt dem Nationalrat «[…] meist einstimmig oder mit grossen Mehrheiten Zustimmung zu den vom Bundesrat beantragten Corona-Krediten. Sie folgt damit den Anträgen der mitberichtenden Kommissionen WBK, SGK und WAK.»4 (Das heisst, die für Wissenschaft/Bildung/Kultur, Gesundheit und Wirtschaft zuständigen Kommissionen des Nationalrates unterstützen ebenfalls grossmehrheitlich die vom Bundesrat getroffenen Massnahmen.) In der Medienmitteilung sind insgesamt über 15 Milliarden Franken Nachtragskredite zum Budget 2020 sowie 40 Milliarden vom Bund verbürgte Überbrückungskredite aufgelistet und werden detailliert vorgestellt. Am 28. April schloss sich nun die FK des Ständerates diesen Beschlüssen an. Beide Finanzkommissionen haben zudem zwei Motionen angenommen, wonach die Dauer der Kredite für die KMU von fünf auf acht Jahre verlängert wird (Motion 20.3152) und der Zinssatz auch nach dem ersten Jahr bei 0,0 Prozent bleibt (Motion 20.3153).5
Übrigens war bei den vom Bundesrat im März/April bekanntgegebenen Corona-Krediten bereits eine Vertretung des Parlaments beteiligt: Die Finanzdelegation (FinDel)6 gewährte mehrmals Vorschüsse für die Kredite (siehe dazu die Medienmitteilungen der FinDel vom 23. März, 8. April und 15. April 2020). In den Sitzungen der beiden Finanzkommissionen erstattete ein Mitglied der FinDel Bericht.
Der Nationalrat und der Ständerat werden auch über den Armee-Einsatz befinden, den der Bundesrat am 16. März bewilligt und bis Ende Juni befristet hat. Auf dringende Bitten mehrerer Kantone hat der Bundesrat einige tausend Armeeangehörige (max. 8000) aufgeboten, davon 3000 Sanitätssoldaten. Diese werden auf Antrag der Kantone in den Spitälern und in der Logistik eingesetzt, aber auch zur Verstärkung des Grenzwachtkorps an den Landesgrenzen und auf den Flughäfen. Gemäss Art. 185 Absatz 4 der Bundesverfassung kann der Bundesrat «in dringlichen Fällen» Truppen aufbieten. Wenn es sich um mehr als 4000 Armeeangehörige und einen länger als drei Wochen dauernden Einsatz handelt, hat der Bundesrat «unverzüglich die Bundesversammlung einzuberufen». Dies hat er getan. Am 30. April hat nun die Sicherheitspolitische Kommission des Ständerates (SiK-S) einstimmig beantragt, «den Assistenzdienst der Armee im Rahmen der Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie zu genehmigen (20.035). Sie spricht den Verantwortlichen sowie den Angehörigen der Armee ihren Dank für diesen Einsatz aus.»7
Gesundheitspolitik: Ausweitung der
Tests und genügend Schutzmaterial
Die wichtigsten Anträge der beiden Kommissionen für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) für die Sondersession:8
Wir sind gespannt auf die aktuellen Antworten des Bundesrates zu diesen Anträgen.
Wirtschaftspolitik:
Welche Lehren für die Zukunft?
Die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerats (WAK-S) verlangt mit einem Postulat einen Bericht des Bundesrats über die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise und die Lehren für die Zukunft:9
Also eine umfassende Analyse, welche die WAK-S vom Bundesrat fordert; besonders wichtig die Fragen 4 und 5 nach den notwendigen Massnahmen und Lehren für die Zukunft. Es steht die Frage der Selbstversorgung an – nicht nur in bezug auf genügend Schutzmasken und medizinische Geräte. Zum Beispiel ist die Schliessung kleinerer Landspitäler zugunsten weniger Grossspitäler in den Städten noch einmal gründlich zu überdenken: Der Mensch und seine Gesundheit müssen an erster Stelle stehen, mit reinen Kosten-Nutzen-Überlegungen kann man so etwas nicht angehen. Auch bestätigt es sich heute erneut, dass in einer Krise jeder Staat zuerst für die Versorgung der eigenen Bevölkerung schauen muss, das gilt auch für die Versorgungssicherheit in bezug auf die Ernährung und die Energie (siehe dazu auch die Interviews mit den Nationalrätinnen Yvette Estermann und Jacqueline Badran).
«Ein Einkauf bei der lokalen Kleiderboutique statt bei Zalando, bei der nahen Buchhandlung statt bei Amazon, das wäre jetzt und künftig hilfreich. Sonst stehen wir eh vor dem Ende unserer filigranen Strukturen, und globale Ketten Übernehmen alles: das Optikgeschäft, das Restaurant, den Coiffeursalon.» (Nationalrätin Jacqueline Badran)
Wirtschaftskommission des Nationalrates drängt auf raschere
Öffnung von Betrieben und öffentlichen Einrichtungen – mit Gegenstimmen
Die WAK-N anerkennt in ihrer Medienmitteilung vom 22. April, «dass der Bundesrat bei seinen Beschlüssen vom 16. April 2020 zur schrittweisen Wiedereröffnung öffentlicher Einrichtungen gesundheitlichen und epidemiologischen Erwägungen Priorität eingeräumt hat.» Aber nun müsse es vorwärtsgehen mit der Normalisierung des Wirtschaftslebens. In diesem Sinne hat die Kommission zuhanden ihres Rates drei Motionen eingereicht.10
Zusammengefasst also eine möglichst rasche Wiederherstellung der gesamten Wirtschaftstätigkeiten, unter Berücksichtigung der epidemiologischen Lage. Am 29. April hat sich nun die WAK des Ständerates den letzten zwei Motionen angeschlossen, die erste (Öffnung praktisch aller Einrichtungen sowie kleinerer Veranstaltungen) hat sie jedoch mit 9 zu 4 Stimmen abgelehnt: «Die Kommissionsmehrheit sieht darin eine deutlich zu starke Lockerung der geltenden Massnahmen, die wahrscheinlich zu einer erneuten Ausbreitung der Epidemie führen würde, was ein fataler Rückschlag für die Wirtschaft wäre.»11
Die Sorge der Parlamentarier um die Lage der Wirtschaft ist zwar sehr verständlich. Aber sollte nicht an erster Stelle die Sorge um die Gesundheit der Menschen stehen? Was wollen wir dann tun, wenn als Folge der zu raschen «Normalisierung» die Zahl der Infizierten und der Toten plötzlich stark steigt?
Interessanterweise wurden im Nationalrat alle drei Motionen von den Kommissionsmitgliedern der SP und der Grünen abgelehnt. (Zu den Gründen siehe Interview mit Nationalrätin Jacqueline Badran, SP ZH)
Gesetzliche Grundlage für Contact-Tracing-Apps und
Wiederaufnahme der politischen Beteiligung der Bürger
Die Staatspolitische Kommission des Nationalrates (SPK-N) hat mit grossem Mehr eine Motion angenommen (20.3144), welche eine gesetzliche Grundlage für Contact-Tracing-Apps fordert. Die von der ETH Lausanne entwickelte «Covid proximity tracing App» soll ab dem 11. Mai eingesetzt werden. «Sie verfolgt zurück, wer in Kontakt mit einer positiv auf das neue Coronavirus getesteten Person stand, und informiert die betreffenden Personen, dass sie sich eventuell infiziert haben.» Das Gesetz soll vor allem die Transparenz und den Datenschutz regeln sowie die Freiwilligkeit der Anwendung sicherstellen.12
Direktdemokratische Rechte: Der Bundesrat hatte am 20. März in einer Verordnung festgelegt, dass die Fristen für die Einreichung von Volksinitiativen und Referenden vom 21. März bis zum 31. Mai stillstehen und dass in dieser Zeit keine Unterschriften gesammelt werden dürfen.13 Die Volksabstimmung vom 17. Mai war ausserdem abgesagt worden. Am 29. April hat nun der Bundesrat entschieden, dass ab 1. Juni wieder Unterschriften gesammelt werden dürfen und dass am nächsten regulären Abstimmungssonntag, dem 27. September, über fünf eidgenössische Vorlagen abgestimmt werden soll: Begrenzungsinitiative, Jagdgesetz, Steuerabzug für Kinder-Drittbetreuung, Kauf neuer Kampfjets und Vaterschaftsurlaub (Genaueres folgt später).
Wiederaufnahme der regulären Oberaufsicht durch die
Geschäftsprüfungskommissionen (GPK)
Die GPK-N hat am 23. April eine Aussprache mit den Bundesräten Sommaruga, Berset und Parmelin zur Bewältigung der Corona-Krise durchgeführt. In ihrer Medienmitteilung hat sie festgehalten: «Es ist wichtig, dass die Oberaufsicht durch das Parlament auch in Krisenzeiten in angemessener Weise ausgeübt wird, um das institutionelle Gleichgewicht zu wahren. Die GPK haben dabei als zuständiges Organ für die Beurteilung der Geschäftsführung des Bundesrates und der Bundesverwaltung eine zentrale Rolle inne.»14 (Siehe dazu auch das Interview mit Nationalrätin Yvette Estermann, SVP Luzern)
«Wir haben jetzt gesehen, dass die Globalisierung nicht nur Vorteile bringt, sondern auch Nachteile, und wie wichtig es ist, dass die Selbstversorgung in der Schweiz wieder grossgeschrieben wird. Ob es sich um Medikamente handelt und um medizinisches Material oder auch um Lebensmittel, wir sollten uns damit auseinandersetzen, was wir in Zukunft wollen.» (Nationalrätin Yvette Estermann)
Fazit
Die Lagebeurteilung aus rechtsstaatlicher und demokratischer Sicht in Kurzform: Das demokratische Gefüge im Schweizer Bundesstaat «verhebet» auch in Krisenzeiten, der Rechtsstaat funktioniert. Alles andere wird zu lösen sein, wenn diese Grundlagen stimmen. •
1 siehe «Parlament will mitreden – Sondersession vom 4. – 8. Mai 2020 in der ‹Bernexpo›». Zeit-Fragen vom 7.4.2020
2 Die neuesten Medienmitteilungen der parlamentarischen Kommissionen finden Sie unter www.parlament.ch/de/services/suche-news
3 Die wichtigsten Massnahmen wurden in Zeit-Fragen vom 7.4.2020 unter dem Titel «Wenn es drauf ankommt, sitzt man zusammen und löst die Probleme» vorgestellt.
4 «Grosse Zustimmung der Finanzkommission [des Nationalrates] zu den Corona-Krediten des Bundesrats». Medienmitteilung der FK-N vom 25.4.2020
5 «Breite Zustimmung der Finanzkommission [des Ständerates] zu den Corona-Krediten des Bundesrats». Medienmitteilung der FK-S vom 28.4.2020
6 Die FinDel setzt sich zusammen aus je drei Mitgliedern der Finanzkommissionen des Nationalrates und des Ständerates und übt unter anderem die fortlaufende Aufsicht über die Finanzpolitik des Bundesrates aus.
7 «Klare Unterstützung für den Assistenzdienst der Armee». Medienmitteilung SiK-S vom 30.4.2020. Ähnlich die SiK des Nationalrates gemäss Medienmitteilung vom 30.4.2020
8 «Der Bund soll Tests auf Coronavirus massiv ausweiten». Medienmitteilung SGK-N vom 18.4.2020. «Transparenz über pandemiebedingte Gesundheitskosten verlangt». Medienmitteilung SGK-S vom 21.4.2020
9 «Coronakrise: Neue Empfehlungen der WAK-S an den Bundesrat». Medienmitteilung vom 21.4.2020
10 «Die WAK-N plädiert für eine schnelle Wiederaufnahme des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens». Medienmitteilung vom 22.4.2020
11 «WAK-S verlangt Perspektiven für Wiederaufnahme der Wirtschaftstätigkeit und des sozialen Lebens». Medienmitteilung vom 29.4.2020
12 «Coronavirus: Anwendung von Contact-Tracing-App nur mit gesetzlicher Grundlage.» Medienmitteilung der SPK-N vom 23.4.2020
13 Verordnung über den Fristenstillstand bei eidgenössischen Volksbegehren vom 20.3.2020
14 «Corona-Krise: GPK-N führt erste Aussprachen mit der Bundespräsidentin und den Vorstehern des EDI und des WBF». Medienmitteilung vom 23.4.2020
Kommissionen sind Ausschüsse des Parlaments, die aus einer begrenzten Anzahl von Ratsmitgliedern bestehen. Sie beraten die Parlamentsgeschäfte vor und arbeiten eigene Vorschläge aus. Der Nationalrat hat 12 ständige Kommissionen, der Ständerat 11, einige wenige Kommissionen sind gemeinsam. Im vorliegenden Text sind folgende Kommissionen erwähnt:
SGK-S; SGK-N: Kommissionen für Soziale Sicherheit und Gesundheit (des Ständerates (S), des Nationalrates (N))
SiK-S, SiK-N: Sicherheitspolitische Kommissionen
SPK-S, SPK-N: Staatspolitische Kommissionen
WAK-S, WAK-N: Kommissionen für Wirtschaft und Abgaben
WBK-S, WBK-N: Kommissionen für Wissenschaft, Bildung und Kultur
FK-S, FK-N: Finanzkommissionen
GPK-S, GPK-N: Geschäftsprüfungskommissionen
FinDel: Finanzdelegation *
* Die FinDel setzt sich zusammen aus je drei Mitgliedern der Finanzkommissionen des Nationalrates und des Ständerates und übt unter anderem die fortlaufende Aufsicht über die Finanzpolitik des Bundesrates aus.
Interview mit Nationalrätin Yvette Estermann, SVP Luzern
Zeit-Fragen: Frau Nationalrätin Estermann, welches sind für Sie die wichtigsten Fragen, die das Parlament in der kommenden Ausserordentlichen Session anzupacken hat?
Yvette Estermann: Wir haben die Session angesetzt, um die Geschäfte, die mit Corona zusammenhängen, zu diskutieren. Es geht vor allem um eine Aussprache zu den Massnahmen und um finanzielle Geschäfte, die wir behandeln werden.
Es wird wahrscheinlich kein grosses Problem sein, sich zu einigen, oder?
Es wird in der Regel keine Links-Rechts-Blöcke geben, weil gewisse Fragen alle beschäftigen. Ich denke, die finanziellen Vorlagen werden angenommen. Alle haben anerkannt, dass es die Probleme gibt und dass es Hilfen braucht, aber das wird viele Politiker nicht davon abhalten, darüber zu sprechen. Es ist auch richtig, dass das Parlament wieder seine Funktion einnimmt.
Sie sind Mitglied der GPK (Geschäftsprüfungskommission) des Nationalrates. Wie nimmt die GPK ihre Aufgaben in der heutigen Situation wahr?
Wir haben bereits eine Sitzung abgehalten und drei Bundesräte, inbegriffen die Bundespräsidentin, waren dabei und sind uns Rede und Antwort gestanden. Und sie haben uns wirklich auf alles, was wir wissen wollten, Antwort gegeben. Die GPK hat also ihre Arbeit in bezug auf Corona aufgenommen, aber es bleibt ein grosses Thema. Für mich ist das Wichtigste, dass man nachher das Fazit aus der ganzen Krise zieht: Was ist gut gelaufen, was weniger? Wir können das, was geschehen ist, nicht mehr ändern, aber wir können für die Zukunft eine gute Entscheidungshilfe bieten. Wichtig ist, dass wir für die Zukunft vorsorgen, so dass wir, wenn einmal etwas Ähnliches oder Schlimmeres auf uns zukommt, besser gewappnet sind als jetzt.
Die direkte Demokratie steht zurzeit praktisch still. Die Volksabstimmung vom Mai über die Begrenzungsinitiative der SVP wird nicht stattfinden. Ist das für Sie eher gut oder nicht?
Ich bin in meinem Leben immer gut gefahren damit, wenn ich gesagt habe: Was passiert ist, ist passiert. Das Glas ist halb voll, nicht halb leer, wir betrachten es als Chance. Wir haben gesehen, wie wir im Stich gelassen worden sind von unseren sogenannten Freunden um uns herum, wie Ware blockiert wurde, die wir bestellt und bezahlt hatten. Das sollte den Leuten zu denken geben. Deshalb bin ich nicht ganz unglücklich darüber, dass die Abstimmung verschoben worden ist.
Die Corona-Krise hat gezeigt, dass letztlich jeder Staat für sich schaut und dass die EU keine Lösungen hat, ganz im Gegenteil. Die Nationalstaaten wollten ihre eigenen Lösungen anwenden. In Brüssel wurde erst hinterher nachgezogen und viel geredet. Was die EU wirklich nicht kann, ist, in Krisenzeiten Lösungen zu finden. Das hat man gesehen in der Flüchtlingskrise, das sieht man jetzt in der Coronakrise, und die Finanzkrise konnte sie sowieso nicht meistern. Die Leute sollten langsam wissen, dass die EU ein Konstrukt ist, das nicht lebensfähig ist. Vor allem in Krisen ist sie nicht dafür geeignet, diese zu bewältigen und rasch zu handeln.
Könnten die einschneidenden Erfahrungen mit Corona auch Anlass sein, uns darüber Gedanken zu machen, wie wir künftig in unserem Land und in unserer Welt zusammenleben wollen?
Ja, wir haben jetzt gesehen, dass die Globalisierung nicht nur Vorteile bringt, sondern auch Nachteile, und wie wichtig es ist, dass die Selbstversorgung in der Schweiz wieder grossgeschrieben wird. Ob es sich um Medikamente handelt und um medizinisches Material oder auch um Lebensmittel, wir sollten uns damit auseinandersetzen, was wir in Zukunft wollen.
Vielen Dank, Frau Nationalrätin Estermann, und alles Gute für die kommende Session. •
Interview mit Nationalrätin Jacqueline Badran, SP Zürich
Zeit-Fragen: Frau Nationalrätin Badran, welches sind für Sie die wichtigsten Probleme, die das Parlament in der kommenden Ausserordentlichen Session anzupacken hat?
Jacqueline Badran: Wenn man dem Ziel des Struktur- und Arbeitsplatz-Erhalts sowie der Existenzsicherung verpflichtet ist, dann sollten in erster Linie die Lücken bei den wirtschaftspolitischen Massnahmen gestopft werden. Wollen wir Massenkonkurse und Massenverschuldung der kleinen Läden und Restaurants verhindern, muss ein markanter Mieterlass für die Zeit des Lockdowns beschlossen werden. Zudem braucht es Korrekturen bei der Kurzarbeit sowie die Erhöhung der Entschädigung für Inhaber und Inhaberähnliche von 3320 Franken auf das EO-Niveau von 5880 Franken. Sonst können wir nicht von Existenzsicherung sprechen. Auch sind die Lücken bei den indirekt betroffenen Selbständigen zu schliessen.
Sie sind Mitglied der WAK des Nationalrates. Die Mehrheit Ihrer Kommission befürwortet drei Motionen, die zu einer rascheren Wiederaufnahme der geschäftlichen Tätigkeiten drängen, als dies der Bundesrat vorsieht. Sie und andere Kommissionsmitglieder der SP und der Grünen haben diese drei Motionen nicht unterstützt. Warum nicht?
Hintergrund dieser Forderungen ist nicht etwa, dass man dem Gewerbe helfen, sondern künftige Steuererhöhungen für die Konzerne vermeiden will. Die Kommissionsmehrheit will, dass die Leute zur Kurzarbeit rausgeholt werden, um den Schuldenberg des Bundes nicht weiter anwachsen zu lassen. Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen. Das ist ein legitimes Argument, nur soll man es nicht als «Gewerbehilfe» tarnen. Man tut so, als ob mit einer schnellen Öffnung alle wirtschaftlichen Probleme weg wären. Dem Gewerbe ist aber wenig geholfen, weil sie künftig deutlich weniger Umsätze machen werden als vor der Schliessung, allein wegen der Distanzregeln. In einem Coiffeurladen, wo sonst drei Personen arbeiten, kann künftig nur eine Person arbeiten. Im Detailhandel, ausser vielleicht bei saisonalen Produkten, werden deutlich weniger Umsätze gemacht, besonders, wenn nicht gleichzeitig die Schulen öffnen. Wer geht schon shoppen, wenn die Kinder zu Hause sind? Das zeigen Österreich und Schweden: offene, aber leere Läden. Das Gleiche gilt in der Gastronomie. Also werden die Einnahmen die Kosten, die entstehen, nicht decken können. Deshalb bin ich dafür, dass sich die Öffnungen allein nach den Erfordernissen der Pandemie-Bekämpfung zu richten haben und sicher nicht nach einem politisch willkürlich gesetzten Datum.
Könnten die einschneidenden Erfahrungen mit Corona auch Anlass sein, uns darüber Gedanken zu machen, wie wir künftig in unserem Land und in unserer Welt zusammenleben wollen?
Ja, diese Hoffnung hatte und habe ich. Jedoch ist sie auch getrübt worden. Die Politik und die Medien suggerieren, mit der Öffnung gehe man schrittweise auf «eine Rückkehr der Normalität» zu. Das sollte das Unwort des Jahres werden. Was jetzt passiert, ist das Gegenteil von Normalität. Wir brauchen komplett neue Angebote und ein verändertes Konsumverhalten. Ein Einkauf bei der lokalen Kleiderboutique statt bei Zalando, bei der nahen Buchhandlung statt bei Amazon, das wäre jetzt und künftig hilfreich. Sonst stehen wir eh vor dem Ende unserer filigranen Strukturen, und globale Ketten übernehmen alles: das Optikgeschäft, das Restaurant, den Coiffeursalon. Kurz: Das Denken und Handeln in regionalen Wirtschaftskreisläufen wäre nun erforderlich, und das sollte zur neuen Normalität werden.
Besten Dank, Frau Nationalrätin Badran, und viel Erfolg in der Session. •
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