Bestimmungen zum Schutz vor COVID-19 im Visier politischer und wirtschaftlicher Ziele

Die erneute Polarisierung macht nachdenklich

von Karl-Jürgen Müller


«Das nun zu beobachtende Abgleiten der Pandemie-Diskussion in eine politische Polarisierung ist demgegenüber ein ernstzunehmendes Problem. Auch hier darf man ruhig fragen: Cui bono?»



Der russische Politiker und Buchautor Nikolaj Starikov hat in seinem 2017 in russischer und 2020 in deutscher Sprache erschienenen Buch «Krieg. Durch fremde Hände» einleitend die Frage gestellt: «Was ist der Kern der Weltpolitik?» Gleich darauf hat er auch eine Antwort gegeben: «Die Kontrolle über Ressourcen. Eine Kontrolle, die man selbst ausüben und an der man seinen Gegenspieler hindern möchte. Zu allen Zeiten, in allen Gesellschaftsformen, auf allen Kontinenten und bei [allen] geographischen Grenzen geht es nur darum. Dafür kämpfen Politiker, dafür arbeiten Diplomaten und das Militär, Ingenieure und Geheimdienstagenten.» Weiter unten schreibt er erläuternd: «Der Konkurrenzkampf zwischen Staaten und Staatenblöcken – das ist der wahre Kern der Weltpolitik. Spitzenpolitiker verfolgen mit ihren Handlungen den Zweck, den Planeten durch die Kontrolle von Ressourcen und eine maximale Ausweitung ihrer Einflusssphäre zu dominieren. Der Kampf um die Spitzenposition und für mehr Einfluss, dessen Sicherung und Ausweitung findet zwischen Staaten und Staatenblöcken in allen Sphären des Seins statt. Wirtschaft, Kultur, Militär, Ideologie – all dies sind Felder, in denen ein Sieg unverzüglich zu einem Vorteil im übergreifenden Konkurrenzkampf führt.» Und noch einmal auf Seite 61 des Buches: «Der Kampf zwischen den Staaten und Zivilisationen ist [der] Sinn der Geschichte. Die gesamte Menschheitsgeschichte besteht aus dem Bestreben, dass der eine den anderen besiegen möchte.»

Alles im politischen Leben nur ein Machtkampf?

Nikolaj Starikov ist ein Autor, der Dinge schreibt, die andere nur denken. Ist es nicht in der Tat so? Denken nicht viele Menschen, dass das Leben insgesamt, vor allem aber das politische Leben, ein ständiger Machtkampf sei, in dem es immer um oben oder unten, Sieg oder Niederlage gehe? Alle Politiker-reden über Recht und Humanität, über Menschenwürde und Gleichwertigkeit seien im Grunde genommen nur eine der vielen Arten, seine wahren Absichten – das Streben nach grundsätzlich als knapp definierten Ressourcen und die dafür benötigte Macht – zu verschleiern.
Es ist deshalb wenig erstaunlich, dass es Menschen gibt, die auch in der nun schon ein paar Monate andauernden Corona-Zeit nicht anders denken, allen Aussagen von «Mächtigen» mit grösstem Misstrauen begegnen und mit allen Künsten der Argumentation nachweisen wollen, dass es diesen «Mächtigen» auch dieses Mal nicht um den Schutz von Gesundheit und Leben geht, sondern um ganz andere Ziele: Machtausbau der Parteienoligarchie, Entrechtung der Bürger, Verelendung der Massen, Umverteilung von unten nach oben, vom Mittelstand hin zu den grossen Konzernen, eine faschistische Diktatur zur Sicherung der Herrschaft des Finanzkapitals und, und, und …

Corona-Pandemie unter dem
Rad der politischen Polarisierung?

Vor sechs Wochen, als Zug um Zug praktisch alle Staaten der Welt – nicht zuletzt auf Grund der Erfahrungen in China – ihre weitgehenden Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie beschlossen, hatten solche Stimmen noch kaum Gewicht. Sehr gross war die Betroffenheit über alarmierende Bilder und Berichte, zum Beispiel aus Wuhan, Bergamo, Madrid oder New York. Der von der Politik erklärte Vorrang des Schutzes von Gesundheit und Leben entsprach einem tiefen inneren Bedürfnis nahezu aller Menschen.
Seitdem aber wirtschaftliche Interessen stärker betroffen sind, die Stimmen, die einen wirtschaftlichen Zusammenbruch an die Wand malen, deutlich an Gewicht gewonnen haben und auch durchaus verständliche Anliegen aus der Bürgerschaft lauter werden, sind auch die bisherigen staatlichen Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie unter das Rad der politischen -Polarisierung geraten. Ja, es gibt sogar zunehmend Stimmen, die die Politisierung und Polarisierung des Themas ausdrücklich begrüssen. «Jetzt muss es wieder politisch werden», titelte zum Beispiel die «Neue Zürcher Zeitung» am 24. April 2020.
Sicherlich ist es richtig, die bisherigen Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie ständig zu überprüfen und immer wieder neu zu justieren, und wenn der Eindruck nicht trügt, dann tun dies die Verantwortlichen auch. Am 29. April und am 30. April taten dies zum Beispiel erneut in der Schweiz der Bundesrat und in Deutschland die Bundesregierung und die Regierungs-chefs der Bundesländer. Aber alleine darum scheint es einer Reihe von «Kritikern» eben nicht zu gehen. Und allem Anschein nach gibt es erneut eine Allianz von einflussreichen Wirtschaftsinteressen und den oben erwähnten Kreisen, die beide unseren Staaten ganz grundsätzlich «kritisch» gegenüberstehen. Es geht also nicht um links oder rechts. Als Allianz haben diese Kräfte ein politisch bedeutsames Gewicht. Man sieht es in der Schweiz, in Österreich und auch in Deutschland.

Welches Menschenbild?

Hier gilt es nun anzumerken, dass die Weltanschauung und das Menschenbild des oben zitierten Nikolaj Starikov auch in die Irre führen können. Oberflächlich betrachtet, scheinen seine Thesen zu stimmen; denn die Geschichte staatlicher Machtpolitik, zumal in der Aussenpolitik, lässt sich durchaus so betrachten. Das bedarf keiner weiteren Erläuterung. Aber sie stimmen bei genauerem Hinschauen eben doch nicht, weil sie die Sozialnatur des Menschen, jedes Menschen ausklammern. Wie dünn wird das Eis des eigenen Wohls, wenn es nicht genauso das allgemeine Wohl, das Bonum commune mit einschliesst? Wohin führt eine Politik, die alleine den Thesen von Starikov folgt? Sein eigenes Land Russland fordert er auf, im von ihm als unvermeidlich betrachteten Kampf (gegen die USA und ihre Verbündeten) «mit klarem Kopf in die internationale politische Arena ein[zu]treten.» Mit welchem Ziel? «Um zu siegen.» (Hervorhebung durch die Redaktion) Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt, von immer neuen Kriegen, immer wieder neuen menschlichen Katastrophen wird man so sicherlich nicht beenden können. Thesen wie die von Starikov sind das Spiegelbild eines Menschheitsproblems. Aber will die Menschheit da auf alle Ewigkeit stehenbleiben?
Auch 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist unsere Welt noch immer weit entfernt davon, eine friedliche Welt zu sein. Gründe gibt es also genug, über all das nachzudenken.
Der Individualpsychologe Alfred Adler hat das Problem vor 100 Jahren erkannt und benannt1, in Theorie und Praxis hat er auch Lösungen entwickelt, indem er der Prävention den Vorrang gab, früh schon, im Werden des Menschen – und diese Erkenntnisse gelten bis heute, auch wenn sie noch immer zu wenig beachtet werden.
Hinzu kommt: Ein Blick auf die Menschheitsgeschichte zeigt, dass es – bei allen nach wie vor hochproblematischen Punkten und bei allen Rückschlägen – tatsächliche Fortschritte in den politischen Verhältnissen gegeben hat: in der allgemeinen Rechtsentwicklung, in der Verfassungsentwicklung der Staaten und durch das Völkerrecht auch in den internationalen Beziehungen.

Vielleicht hat die Kanzlerin dieses Mal recht

Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat in ihrer Regierungserklärung zur Corona-Pandemie vor dem Deutschen Bundestag am 23. April Dinge gesagt, die man nicht gleich als Ausdruck von Machtpolitik abtun sollte. Eine Woche zuvor hatten die Regierungschefs der Bundesländer gemeinsam mit der Kanzlerin Beschlüsse zur Lockerung des bisherigen «Shutdown» («Lockdown») beschlossen. Die Kanzlerin sagte nun im Bundestag: «Ich trage die Beschlüsse, die Bund und Länder am Mittwoch letzter Woche getroffen haben, aus voller Überzeugung mit. Doch ihre Umsetzung seither bereitet mir Sorgen. Sie wirkt auf mich in Teilen sehr forsch, um nicht zu sagen: zu forsch. […] Lassen Sie uns jetzt das Erreichte nicht verspielen und einen Rückschlag riskieren! Es wäre jammerschade, wenn uns die voreilige Hoffnung am Ende bestraft. Bleiben wir alle auf dem Weg in die nächste Phase der Pandemie klug und vorsichtig. Das ist eine Langstrecke, bei der uns nicht zu früh die Kraft und die Luft ausgehen dürfen.»
Es ist verständlich, dass die meisten Menschen die mit den Massnahmen gegen die Corona-Pandemie verbundenen Einschränkungen gerne aufgehoben sehen möchten. Es ist auch richtig, dass sich jede Einschränkung nachvollziehbar auf ihren Sinn und ihre Angemessenheit hin überprüfen lassen muss – von der Sache des Schutzes von Gesundheit und Leben her, aber auch im weitergehenden Sinne, zum Beispiel rechtlich. Es ist auch richtig und wichtig zu korrigieren, wenn Freiheitsrechte unverhältnismässig stark eingeschränkt worden sind.
Aber kann das rechtfertigen, die bisherigen Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie so radikal in Frage zu stellen, wie dies zum Teil geschieht?

Rechts- und Verfassungsbruch sind nicht erlaubt

In diesem Zusammenhang gilt es hervorzuheben, dass sich alle Massnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie im Rahmen von Recht und Gesetz bewegen müssen. Der Gebrauch des Wortes «Ausnahmezustand» im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie ist deshalb missverständlich … und führt sogar in eine komplett falsche Richtung, wenn er mit dem wohl bekanntesten Theoretiker des Ausnahmezustandes, dem deutschen Staatsrechtler und zeitweiligen Unterstützer der Nationalsozialisten Carl Schmitt, in Verbindung gebracht wird. Die Corona-Pandemie ist kein «Ausnahmezustand» im Sinne einer Situation jenseits der Verfassungsordnung. Verfassungen freiheitlich-demokratischer Rechtsstaaten sind nicht nur für das «schöne Wetter» geschaffen. Sie sollen auch für Notsituationen gelten. Verfassungsbrüche durch den Staat und seine Organe sind auch in einer solchen Notsituation nicht zu akzeptieren. Hier ist jedes betroffene Land gefordert.
Das deutsche Grundgesetz formuliert in seinem Artikel 2, Absatz 2 das für jeden in Deutschland Lebenden geltende «Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit». Dies ergibt sich unmittelbar aus der Unantastbarkeit und Schutzwürdigkeit der Würde jedes Menschen und aus dem Bekenntnis zu den unveräusserlichen Menschenrechten; denn das Leben ist das Fundament der Wahrnehmung der Menschenrechte. Der Schutz von Gesundheit und Leben hat Verfassungsrang.

Was bedeutet Freiheit?

Artikel 2, Absatz 1 des Grundgesetzes kennt auch für jeden in Deutschland Lebenden das «Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit». Damit ist aber nicht gemeint, dass jeder tun und lassen kann, was er will. Das Bundesverfassungsgericht hat schon früh darauf hingewiesen, dass dieses Recht im Rahmen der Sozialnatur des Menschen zu verstehen ist. Derselbe Satz, der dieses Grundrecht formuliert, geht dementsprechend wie folgt weiter: «… soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmässige Ordnung oder das Sittengesetz verstösst.» Alle Freiheitsrechte unterliegen Beschränkungen, eben auch die Rechte, die jetzt durch die staatlichen Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie vorübergehend eingeschränkt sind. Es gilt aber auch: «In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.»
Seit den eine Reihe von Grundrechten einschränkenden Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Epidemie in Deutschland gibt es eine Kontroverse um die Verfassungsmässigkeit der beschlossenen Massnahmen.2 Im einzelnen müssen die anstehenden Fragen von der Rechtswissenschaft gründlich diskutiert werden – möglichst so, dass diese Diskussionen auch für alle Bürger verständlich sind – und von den zuständigen Gerichten beurteilt werden. Endgültige Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu diesen Fragen liegen noch nicht vor. Die bisherigen Anträge auf einstweilige Anordnungen wurden vom Gericht mehrheitlich abgelehnt3, zwei Anträgen zur Versammlungsfreiheit (Demonstrationen und Gottesdienste) wurde bislang stattgegeben (Stand 29. April 2020).

Der Vorrang des Rechts gilt auch für die Völkergemeinschaft

Der Vorrang des Rechts gilt auch für die Völkergemeinschaft. Hier gilt es, das geltende Völkerrecht zu achten, wie es vor allem in der Charta der Vereinten Nationen und in den beiden verbindlichen Internationalen Pakten über bürgerliche und politische sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ausformuliert wurde. Auch in Zeiten der Corona-Pandemie gilt das Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates. Die WHO kann nicht für alle Staaten und Völker ein einheitliches Konzept verordnen. Konzepte, die für freiheitlich-demokratische Rechts- und Sozialstaaten geeignet sind, eignen sich nicht im gleichen Masse für alle Staaten. Vor Ort muss entschieden werden, was angemessen ist, und es ist allen Völkern zu wünschen, dass sie nicht mit Top-down-Programmen behelligt werden, sondern Regierungen, Parlamente und Völker gemeinsam nach gangbaren Wegen suchen.

Aber auch wir Bürger …

Aber auch wir Bürger in Ländern wie der Schweiz, Österreich oder Deutschland sind aufgerufen, uns selbst zu prüfen. Wie ernst nehmen wir noch die Gefahren, die vom Corona-Virus ausgehen? Halten wir die grundlegenden Schutzbestimmungen wie Abstandsregeln und Hygieneempfehlungen konsequent ein? …
Die Fragen an uns selbst dürfen aber auch weitergehen. Sehen wir Denk- und Verhaltensweisen im eigenen Leben, die mit zur weltweiten Ausbreitung des Virus beigetragen haben könnten? Ist es wirklich sinnvoll, nach dem Ende der Pandemie genauso weiterleben zu wollen wie vorher? …
Das nun zu beobachtende Abgleiten der Pandemie-Diskussion in eine politische Polarisierung ist demgegenüber ein ernstzunehmendes Problem. Auch hier darf man ruhig fragen: Cui bono?   •


1  vgl. «Corona – Ethik, Vernunft … und Psychologie»; in: Zeit-Fragen Nr. 7 vom 7.4.2020, S. 7
2  Wer in einer Suchmaschine die Begriffe «Grundgesetz» und «Corona» eingibt, kann sich ein wenig ein Bild von dieser Kontroverse machen.
3  So heisst es in einer Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 8. April 2020 («Erfolglose Eilanträge im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie», Pressemitteilung Nr. 23/2020) zu einem Beschluss des Gerichts vom 7. April 2020: Die Folgen der staatlichen Schutzmassnahmen seien «zwar schwerwiegend, aber nicht im geforderten Mass unzumutbar. Es erscheint nicht untragbar, sie [die eingeklagten Freiheitsrechte] vorübergehend zurückzustellen, um einen möglichst weitgehenden Schutz von Leben und Gesundheit zu ermöglichen, zu dem der Staat grundsätzlich auch nach der Verfassung verpflichtet ist. Gegenüber den Gefahren für Leib und Leben wiegen die Einschränkungen der persönlichen Freiheit [unter dem Vorbehalt der zeitlichen Befristung] weniger schwer.»

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