von Susanne Wiesinger
Die Dicherin Hilde Domin, geboren 1909, wuchs in Köln als Hilde Löwenstein auf, Tochter ihrer jüdischen Eltern Löwenstein. Der Vater war Rechtsanwalt und die Mutter Sängerin. Ihre Mutter übte ihre künstlerische Tätigkeit nur einmal in der Öffentlichkeit aus und widmete sich, so wie dies damals üblich war, als Frau der Erziehung der beiden Kinder und dem Haushalt. Hilde hatte einen jüngeren Bruder, das Verhältnis zwischen den Geschwistern wird als harmonisch geschildert.
Atmosphäre im Elternhaus Grund für ihr Urvertrauen
Die Atmosphäre im Elternhaus beschrieb Hilde Löwenstein später als den Grund für ihr Urvertrauen – ihre Zuversicht dem Menschen gegenüber und ihr gutes, optimistisches Menschenbild. Diese Eigenschaften zeichnen sie vor vielen anderen Exildichtern aus, von denen die meisten nicht mehr nach Deutschland zurückkehrten.
Im Rückblick rühmte Hilde Domin, dass sie als Kind «sogar die Wahrheit sagen (durfte)» und dass ihr Vater ihr auf längeren Spaziergängen von seinen Gerichtsfällen erzählte und sich ihre Meinung dazu ernsthaft anhörte, mit ihr ins Theater, zum Schwimmen und ins Museum ging und mit ihr über ihre Schulaufsätze diskutierte.
Hilde besuchte das Humanistische Mädchengymnasium Merlo-Mevissen in der Kölner Altstadt. Sie konnte studieren, ihre Studienfächer selbst wählen und sogar von Jura zu Nationalökonomie, Soziologie und Philosophie wechseln. Lauter Fächer, von denen sich damals als junge Studentin eine Veränderung der Welt erwartete, wie llka Scheidgen, die Biographin von Hilde Domin, schreibt (Scheidgen, S. 20).
Exil in der Dominikanischen Republik
Als Sozialdemokratin mit politischer Sensibilität ahnte sie, dass die Nazis die Macht in Deutschland erlangen würden. Dies brachte ihr in ihrem Umfeld den Beinamen «Kassandra» ein. 1932 brach sie mit ihrem Freund und späterem Mann, dem Archäologiestudenten Erwin Walter Palm, ins Exil nach Italien auf, von dort nach England. 1940 entgingen sie der ihnen dort auf Grund ihrer deutschen Staatangehörigkeit drohenden Internierung, indem sie eine sechswöchige, nicht ungefährliche Schiffsreise in die Dominikanische Republik unternahmen, um dort – wo für die Einreise kein Geld und kein Ingenieursdiplom erforderlich war – ins Exil zu gehen.
Sie kamen an einem «Landesteg aus Holz» an, «der mitten in ein Zuckerfeld führte». «Da standen wir nun in einem Zuckerfeld, die Zuckerrohre waren grösser als wir selbst.» (Scheidgen, S. 59) Niemand erwartete sie, mit einem Fahrzeug gelangten sie in die Hauptstadt und bauten sich ein gemeinsames Leben als Intellektuelle auf – Erwin W. Palm als Professor für die Architekturgeschichte der Dominikanischen Republik, Hilde als seine Beraterin, Übersetzerin und Texterin. Daneben verdiente sie etwas zum Lebensunterhalt als Sprachlehrerin (Scheidgen, S. 62f).
Anhaltendes Interesse an allem Neuen im unbekannten Land
Beeindruckend sind die Schilderungen, mit welch grosser Neugierde und welchem anhaltenden Interesse sie dem Neuen in dem unbekannten Land begegneten und wie sie bald einen Kreis von Freunden, Exilspaniern, Südamerikanern und Künstlern aus anderen Ländern um sich scharten. Dass manchmal eine Schlange den Kopf aus dem Bücherregal streckte oder Termiten die Bücher zerfrassen, daran gewöhnten sie sich (Scheidgen, S. 68).
Die professorale Tätigkeit ihres Mannes unterstützte Hilde Palm lange Zeit mit Tatkraft und stellte eigene Pläne zurück. 1954 erschütterte der unerwartete Tod ihrer Mutter – aufgrund eines Schocks wegen des Entzugs des amerikanischen Passes durch die deutschen Behörden – Hilde Domin. Dieser Verlust von «Mein Julilaub/Mein Windschutz/Meine Mutter» traf Hilde Domin so stark, dass sie in eine umfassende Lebenskrise geriet. Indem sie zum Mittel der Dichtung griff und die Realität durch das Dichten wieder lebbar machte, entzog sie sich dem vor ihr liegenden psychischen Abgrund und kehrte buchstäblich ins Leben zurück. Ihre Selbstfindung als Frau musste zu Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann führen. Er schlug die Wohnungstür zu, als sie ihm ihr erstes Gedicht zeigte, woraufhin sie zu sich selbst sagte, dass es wohl ein gelungenes Gedicht war (Scheidgen, S. 78).
Leben als Dichterin, Kritik an der Frankfurter Schule
Ilka Scheidgens «einzige autorisierte Biographie» mit dem Titel «Hilde Domin, Dichterin des Dennoch» schildert lebhaft und nachvollziehbar das Leben der Dichterin, ihr Exil und die Rückkehr nach Deutschland im Jahre 1955 und geht kenntnisreich auf ihre theoretischen Ansätze, Dichtungs- und Schreibpraxis ein. Die Prosaschriften entstanden in der Auseinandersetzung mit Adorno, Marcuse und Marxisten wie Lukacs u. a. Der Behauptung der 68er vom «Tod der Literatur» und vom «Reaktionären des Gedichts», das verachtet wurde, stellte sie in ihren Poetik-Vorlesungen in Frankfurt (!) an der Universität ihre Überzeugung von der Kraft der Poesie entgegen (Scheidgen, S. 202, S. 186). Ihr Ziel war, gemäss ihrer Erziehung und ihrer Lebenseinstellung, «den Mut zum Leben zu stärken: ein Dennoch gegen die fatale ‹No-future›-Panik zu setzen» (Scheidgen, S. 202).
Den Mut zum Leben stärken, Verteidigung der Menschenwürde
«Gleich in der ersten Lesung stellte Hilde Domin ihren Glauben an eine positive und rettende Funktion des Gedichts dar, indem sie die programmatischen Verse
‹Dies ist unsere Freiheit
die richtigen Namen nennend
furchtlos
mit der kleinen Stimme›
als Ausgangsbasis für weitere Reflexionen zugrunde legte.» (Scheidgen, S. 202/203)
Ihr Hauptanliegen als Jüdin, die exemplarisch erfuhr, wie ein Mensch von einem Augenblick zum anderen zum Opfer wird, «zur Hilflosigkeit verurteilt» (Scheidgen, S. 167), war die Verteidigung der Menschenwürde, «das Unverlierbare, ohne das das Leben sinnlos ist» (Domin zit. nach Scheidgen, S. 167).
Im Zusammenhang mit den Studentenrevolten in den 68ern und deren «Rehabilitierung der Intoleranz» beklagte Hilde Domin, dass «mit der Verdächtigung der Toleranz und des Vertrauens […] auch die Sprache verdächtig [wurde], bis in die Grammatik hinein.
Sie wurde zu einem Mittel des Betrugs, der Übervorteilung, kurz zur ‹Sprache der Herrschenden› erklärt. Die Diskussionen, Forderung der Stunde, waren hasserfüllt und entarteten zum Meinungsterror. Kritik glitt ab in ein gespenstisches, ganz im Abstrakten sich austobendes Kreuzfahrertum. Freiwillig und ohne Zwang von oben schufen sich die Intellektuellen ein quasi-totalitäres Klima.» (Domin zit. nach Scheidgen, S. 171)
Einsatz für den Frieden und Kritik an der atomaren Rüstung
Als Antwort auf die in den 70er und 80er Jahren drängende Frage des Kriegs bzw. des Friedens in einem mit Nuklearwaffen bestückten Deutschland schrieb Hilde Domin das Gedicht «Abel steh auf», das sie als ihr wichtigstes Gedicht ansieht.
Die Dichterin ermöglicht in diesem Gedicht mit utopischem Charakter, dass Kain eine zweite Chance bekommt, «bei der er sagen kann: Ja, ich bin hier, ich, dein Bruder». Es ist ein Plädoyer für eine geschwisterliche Mitmenschlichkeit (Scheidgen, S. 164).
Abel steh auf
Abel steh auf
es muss neu gespielt werden
täglich muss es neu gespielt werden
täglich muss die Antwort noch vor uns sein
die Antwort muss ja sein können
wenn du nicht aufstehst Abel
wie soll die Antwort
diese einzig wichtige Antwort
sich je verändern
wir können alle Kirchen schliessen
und alle Gesetzbücher abschaffen
in allen Sprachen
wenn du nur aufstehst
und es rückgängig machst
die erste falsche Antwort
auf die einzige Frage
auf die es ankommt
steh auf
damit Kain sagt
damit er sagen kann
Ich bin dein Hüter
Bruder
Wie sollte ich nicht dein Hüter sein
[…]
Das wahrhaftige Benennen und die Liebe
Für Hilde Domin gibt es gemäss Scheidgen «zwei Hauptgebote: […] das wahrhaftige Benennen und die Liebe, Liebe als Umkehr der Worte Kains: ‹Bin ich der Hüter meines Bruders?›» (Scheidgen, S. 164) Mit ersterem Hauptgebot stellt sie sich gegen das falsche Benennen, zum Beispiel «Schutzhaft» für Gefängnis oder «Sonderbehandlung» für Mord, und beruft sich auf den chinesischen Philosophen Konfuzius: «Wenn die Sprache nicht stimmt, so ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint ist, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so trifft die Justiz nicht; trifft die Justiz nicht, so weiss das Volk nicht, wohin Hand und Fuss setzen. Also dulde man keine Willkür in den Worten. Das ist alles, worauf es ankommt.» (Konfuzius, zit. nach Scheidgen, S. 151)
Gedichte, gut für den Schulunterricht
Da Hilde Domins Gedichte leicht zu verstehen sind, eignen sie sich gut als Grundlage für die Interpretation im Deutschunterricht. In allen Schularten, vom Gymnasium bis zur Hauptschule, finden Schüler Freude daran, Umdichtungen zu schreiben wie folgende:
«Abel kämpfe
Abel kämpfe um deinen Bruder
und besiege seine Gewalt
streite gegen seinen Neid
lösch das Zeichen auf seiner Stirn.
Abel, steh auf!
Lösche das Zeichen auf unserer Stirn.»
(Florian Kruse, zit. nach Scheidgen, S. 196)
Hilde Domin las des öfteren vor ihrer Enkelgeneration an Schulen und fand begeisterte Leser aller Altersstufen.
Als Marcel Reich-Ranicki es unternahm, dem Gedicht wieder zum Leben zu verhelfen mittels eines Forums in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» (Frankfurter Anthologie), als Widerpart gegen die 68er, die das Gedicht verschmähten und als «reaktionär» diffamierten, stellte Hilde Domin für die Rubrik in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» seit 1974 Gedichte zur Verfügung.
Der «ungeheure Lebensmut», das Urvertrauen, kennzeichnen Hilde Domin – den Künstlernamen legte sie sich im Verlauf der Veröffentlichung ihrer Gedichte zu als Reminiszenz an die Dominikanische Republik, die sie 12 Jahre aufgenommen hatte. Das Urvertrauen beruhte auf der Erfahrung eines grosszügigen, ohne Zwang agierenden Elternhauses und auf der Erfahrung, dass ein Neubeginn in Deutschland möglich war (Scheidgen, S. 194).
Dieser Lebensmut spricht die Leser und vor allem auch die jugendlichen Leser an; dazu noch der stets aktuelle inhaltliche Hintergrund der Gedichte, die in der Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit entstanden sind. Hilde Domins Anspruch war zu verwirklichen, dass Leben und Werk eines Dichters sich nicht widersprechen, und dies ist ihr gelungen. •
Nicht müde werden
Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.
Hilde Domin
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