Inestäche, umeschlah, durezieh und abelah

​​​​​​​Stricken – Tradition und Geschichte

von Brigitte von Bergen

«Ohne ‹Lismä› (Stricken) kann ich nicht leben.» «Unsere Mutter liest uns gerne vor, dabei stricken meine Schwester und ich.» «Selbstgestricktes soll schön und besonders sein, dann wird es zum Lieblingsstück.» «Ich liebe es zu stricken und dabei ein Hörspiel zu hören.» «Wenn ich Fernsehen schaue, stricke ich, meine Hände brauchen etwas zu tun.» Das sind einige spontane Aussagen zum Stricken von Frauen und Mädchen im Alter zwischen 14 und 93 Jahren.

Faszination von Wolle und Masche

Geht man heute in ein Wollgeschäft, so sieht man eine riesengrosse bunte Farbpalette und eine reichhaltige Auswahl von weicher Merinowolle, Sockenwolle, feinem Mohair bis hin zu luxuriösem Kaschmir, zur Angora- und Alpakawolle. Noch nie war die Auswahl so gross wie heute. Da juckt es in den Fingern, und die Freude am Stricken wird wieder geweckt.
  Auf Grund des Lockdowns während der Corona-Pandemie im vergangenen Jahr blieben die Menschen zu Hause, und viele Frauen haben sich von neuen Strickideen wieder inspirieren lassen und angefangen zu stricken. Es braucht nur zwei Stricknadeln und Wolle, schon kann man mit dem Stricken beginnen. Stricken ist nur ein Verschlingen der Maschen mit Hilfe der Stricknadeln. Dazu gibt es das bekannte Sprüchlein: «Inestäche, umeschlah, durezieh und abelah.» Alle Kinder, Buben und Mädchen gemeinsam, lernen in der Schule mit diesem Sprüchlein stricken. Eine Masche nach der anderen ist fertig, und dann kommt die nächste. So entsteht eine Fläche. Die reichhaltigen Muster werden nur mit rechten und linken Maschen gestrickt.
  Eine Strickarbeit findet leicht in einer Handtasche Platz. Überall, wo man warten muss, kann man sie hervorholen – im Wartezimmer, auf dem Kinderspielplatz. Dort kommen die Mütter oft über die Strickarbeit miteinander ins Gespräch. Mit dem Aufkommen der «Befreiung der Frau» von der typisch weiblichen Rolle wurde diese kulturell überlieferte Tradition verdrängt. Kaum eine Frau wagte es noch, sich öffentlich mit einer Strickarbeit zu zeigen. Das hat sich heute glücklicherweise wieder geändert.

Kulturgeschichte des Strickens:Ist Stricken eine weibliche Handarbeit?

Stricken war ursprünglich ein Männerberuf. Die erste Berufsstricker-Gilde wurde 1268 in Paris gegründet. Weitere folgten im oberen Rheintal in der Nordostschweiz, im Elsass und in Baden. Stricken galt als ehrenwertes und lukratives Handwerk. In die Zunft der Nürnberger Strumpf- und Hosenstricker wurde nur aufgenommen, wer eine vierjährige Lehrzeit und eine ebenso lange Gesellenzeit absolviert hatte. Um die anspruchsvolle Meisterprüfung abzulegen, war die Anfertigung von einem runden Barett, einem Paar Strümpfe, einem Kamisol (dünnes Seiden-oberteil), einem Paar Fingerhandschuhen und ganz speziell einem Teppich von bis zu 20 frischen Farben mit Figuren, Blumen und Laubwerk, zwei auf drei Meter gross, vorgeschrieben. Ein solches Meisterstück von 1749 ist im Besitz der Münsterpfarrei Lindau am Bodensee (siehe Abbildung). Wie dieses grosse Stück gestrickt wurde, ist nicht bekannt.
  Die Kunst des Strickens ist sehr alt, man weiss nicht so genau, wo sie entwickelt wurde. Eine Vermutung ist, dass die eigentlichen Urheber des Strickens die Kopten im ägyptischen Bahnasa gewesen seien. Dort sind gestrickte Gewänder aus dem 4. und 5. Jahrhundert entdeckt worden. Prächtige Sargkissen aus dem 13. Jahrhundert wurden in Nordspanien in einem königlichen Grab entdeckt. Sie sind mit aufwendigen Mustern und hauchdünnem Garn sehr fein gearbeitet. Das Stricken wie auch andere Handarbeiten waren seit der Renaissance im 15. Jahrhundert in Frauenklöstern verbreitet.

Die Stricknadeln aus Stahl

Die früheren Stricknadeln waren aus Holz, Knochen oder Gänsefederkielen. Seit man Draht ziehen konnte, sind Stricknadeln in grosser Anzahl hergestellt worden, feine, glatte, gerade Nadeln. Das war eine Sensation. Vor allem England mit den grossen Schafherden hatte dementsprechend viel Wolle. Diese wurde sehr fein versponnen, zum Weben der feinen englischen Wollstoffe und zum Stricken. Ein Strickboom wurde ausgelöst. Der Eifer beim Stricken für Gottes Sohn und Gottes Lohn ging so weit, dass englische Priester das Nadelgeklapper während des Gottesdienstes verboten haben. Danach wurde lange Zeit in England am Sonntag nicht mehr gestrickt. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts gab es in England 200 000 Heimarbeiter, die jährlich gegen 20 Millionen Paar Strickstrümpfe nach Spanien, Frankreich, nach Italien und in die Niederlande exportierten.
  Bei allen Arbeiten, bei denen die Hände frei waren, strickten Frauen wie auch Männer, sei es beim Schafehüten auf Stelzen, als Nachtwächter auf der Wache, sogar beim Lastentragen über weite Strecken. Lesen durften Mädchen nur, wenn sie dabei strickten.

Die Zeit der Industrialisierung

Das 19. Jahrhundert war die Hochblüte der Industrialisierung. Fabriken entstanden vor allem für die Textilverarbeitung und die Maschinenindustrie. Die Männer verdienten in den Fabriken den Lebensunterhalt für die Familie. Ihre Frauen sorgten für die Kinder, arbeiteten im Haushalt und strickten für die Familie. Sie machten oft auch Heimarbeit für die Textil-Fabriken. William Lee, ein englischer Pfarrer, entwickelte 1589 die erste Strickmaschine. Sie erzielte erstaunliche Leistungen und wurde daher von den Berufsstrickern und den Gilden stark bekämpft. Trotz allem brachte diese Weiterentwicklung Ende des 19. Jahrhunderts Maschinengestricktes zustande, das neue Impulse gab. Das war der Anfang der Trikotverarbeitung, wie wir sie heute in vielen Variationen kennen, von Unterwäsche über Oberbekleidung bis zu Sportbekleidung.
  Die Fabrikantengattinnen füllten ihre Zeit gegen die chronische Langeweile mit Stricken von feinen Sachen. So entstand die Meinung, Stricken sei Frauensache. Sie strickten für ihre Kinder sehr schöne feine Kleider, Puppen, Spitzendeckchen für die ganze Wohnung. Sie wollten sich abheben von den Arbeiterfamilien, die warme Kleidung für die Familie brauchten.

Der Pullover – eine neue Entdeckung nach dem Ersten Weltkrieg

Während des Ersten Weltkrieges, als die Männer als Soldaten an der Grenze waren, muss-ten bei uns in der Schweiz auch immer mehr Frauen in den Fabriken arbeiten und brauchten bequeme Arbeitskleidung. Der handgestrickte Pullover wurde zu dieser Zeit in der Schweiz eine wichtige Entdeckung. Er wurde für Frauen wie für Männer weltweit zu einem beliebten Kleidungsstück für Arbeit und Freizeit. Zu dieser Zeit war die Ostschweiz noch die Hochburg der Textilindustrie, dieser Wirtschaftszweig brach dann aber in den 1920er Jahren ein. Frauen und auch Männer nahmen in der Not der Arbeitslosigkeit Strickaufträge als Broterwerb an. Sie strickten Pullover, Socken, Handschuhe, Mützen. Beliebt waren auch feine Strümpfe für Frauen, da die modischen Kleider kürzer wurden. Sie gingen damit von Haus zu Haus und boten die schönen handgestrickten Sachen an.

Die Fischerei brauchte warme wasserabweisende Pullover

Das Besondere des Wollpullovers ist die Fähigkeit, viel Feuchtigkeit aufzunehmen, ohne nass zu werden; er trocknet schnell, und seine Dehnbarkeit ist bequem beim Arbeiten. Man muss ihn gut auslüften und nur selten waschen. Berühmt wurden die einfarbigen Guernsey-Fischerpullover, die schwarz-weissen Norwegerpullover mit Sternen und die farbigen Shetland-Pullover.
  Die bekannten Guernsey-Fischerpullover werden in England und Irland seit dem 17. Jahrhundert gestrickt. Das Spezielle an diesen Pullovern: Sie sind sehr fest gestrickt, ohne Nähte, fast winddicht und wasserabweisend. Viele der verwendeten Strickmuster stammen aus dem Leben der Fischerfamilien. Die eingestrickten Muster sind Sinnbild: Zöpfe für Taue, Querlinien für Leitern, Rauten für Fischernetze, Fischgräte für den Fang. Die erkennbare Zick-Zack-Line nennt sich Hochzeitslinie und spiegelt das Auf und Ab einer Ehe wider. Jede Familie hatte ihre eigenen Muster, die die Mütter ihren Töchtern weitergaben. So erkannte man am Pul-lover, aus welcher Familie der Träger stammt. Diese Pullover sind auch heute bei den Seglern sehr beliebt.
  Die Norwegerin Ebba Drolshagen hat das erste Buch über die Geschichte des Strickens verfasst: «Zwei rechts, zwei links». Eine junge Ziegenhirtin in Norwegen hat 1857 während des Ziegenhütens den bekannten achteckigen Norwegerstern erfunden, einen achteckigen Stern, schwarz-weiss gestrickt. Fausthandschuhe mit zwei Sternen haben in den 50er Jahren fast alle Schweizer zum Skifahren getragen wie auch den klassischen Norwegerpullover, schwarz-weiss mit Sternen gestrickt. Bekannt ist auch die Rundpasse, die Körperteil und Ärmel ohne Nähte miteinander verbindet. Die Pullover von der Inselgruppe Shetland sind fünffarbig gestrickt. Bei diesen mehrfarbig gestrickten Pullovern werden die farbigen Fäden mitgestrickt, dadurch entsteht eine mehrschichtige Fläche, die entsprechend stärker wärmt.

Arbeitsschule

Im Kanton Zürich rief die Gemeinnützige Gesellschaft 1830 dazu auf, Arbeitsschulen zu gründen, um den Mädchen das «weibliche Arbeiten» beizubringen. Der Erziehungsrat erklärte die Arbeitsschulen bald für alle Mädchen als obligatorisch. Sie lernten Kleider nähen und flicken, Socken stricken und stopfen. Durch diese Bildung der Mädchen wurde der allgemeine Wohlstand gefördert. Eine tüchtige Hausfrau konnte das Gelernte anwenden und sah darin ihre Aufgabe, ihren Sinn und ihre Freude. Der Handarbeitsunterricht wurde in den Lehrplan aufgenommen, parallel dazu wurde für die Buben Werken erteilt, damit sie lernten, mit dem Werkzeug umzugehen. Dank diesem kontinuierlichen systematischen Unterricht über viele Jahre erwarben die Kinder handwerkliche Fertigkeiten, und es wurde der Grundstein für berufliche Fähigkeiten gelegt.

Vom Sinn des Strickens heute

Das abgebildete grosszügige Dreiecktuch mit seinen verschiedenen Strickmustern ist wärmend und zugleich ein Blickfang. Beim Stricken dieses Tuchs schult man die Koordination von beiden Händen, die Fingerfertigkeit beim Verschlingen der Maschen. Das Zählen und Berechnen des Strickmusters fördert das Vorstellungsvermögen, das Herstellen der Strickmuster fordert Konzentration, und auch die Ausdauer wird beim Stricken dieses schönen Dreieckstuchs trainiert. Die Farb- und Wollvielfalt und die Strickhefte mit Anregungen, die heute zur Verfügung stehen, ermöglichten grenzenlose Kreativität. Beim Stricken kann man plaudern, singen, lesen, Radio hören, fernsehen. Stricken ist aber auch ein hervorragendes Training für die Feinmotorik der Hände. Stricken wirkt entspannend und fördert die kognitiven Fähigkeiten. Das alles wirkt sich positiv auf Hirn, Herz und Gemüt aus. Nichts hebt das Lebensgefühl so sehr, wie mit handwerklichen Tätigkeiten schöne Dinge zu gestalten und damit Mussestunden auszufüllen!  •

Quellen:

Deutsches Textilforum

Drolshagen, Ebba. Zwei rechts, zwei links. Geschichten vom Stricken. Frankfurt 2017

König, René. Macht und Reiz der Mode, Verständnisvolle Betrachtungen eines Soziologen. Düsseldorf/Wien1971

Schiller, Jörg. Guernsey – Fischerpullover. https://de.paperblog.com/guernsey-fischerpullover-992530

Thiel, Erika. Geschichte des Kostüms. Die europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart. Leipzig 2010

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