Pestizid- und Trinkwasserinitiative – nichts Neues in der direkten Demokratie der Schweiz

von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich

Am 13. Juni stimmen wir über zwei Landwirtschaftsinitiativen ab. Die Pestizidinitiative will sowohl den Einsatz von Pestiziden auf den Bauernhöfen wie auch den Import von mit Pestiziden behandelten Nahrungsmitteln ganz verbieten. Die Trinkwasserinitiative will die ökologischen Standards für die Landwirte noch höher ansetzen als bisher. So sollen Direktzahlungen nur bezahlt werden, wenn der Bauer keine Pestizide einsetzt und nur so viele Tiere hält, wie er mit Futter vom eigenen Land ernähren kann. Beide Initiativen sind nicht «einzigartig». Die meisten ihrer Elemente finden sich in früheren Initiativen. Sie haben eine Vorgeschichte und fügen sich ein in eine lange Tradition von Vorstössen aus dem Volk, die im folgenden beleuchtet werden soll.

In den 1960er Jahren herrschte in der Schweiz Hochkonjunktur. Die Wirtschaft boomte. Starke Zuwanderung, Wohnungsnot, Inflation und eine starke Belastung der Umwelt führten bald zu grossen Problemen. Bundesrat und Parlament versuchten die euphorische Stimmung im Lande zu dämpfen und ergriffen zahlreiche notrechtliche Massnahmen gegen die Überhitzung der Konjunktur. Dazu gehörten Kreditbegrenzungen und sogar Bauverbote. Es genügte nicht. Die Wasserqualität zum Beispiel im Zürichsee (aus dem die Stadt Zürich das Trinkwasser entnimmt) und auch in anderen Seen verschlechterte sich zunehmend, so dass die Behörden in Zürich und auch an anderen Orten das Baden verbieten mussten. Dies war ein Alarmzeichen.
  Auch in der Landwirtschaft herrschte Hochkonjunktur. Der Import von billigen Futtermitteln führte zu unerwünschter Steigerung der Produktion. Problematisch war das Aufkommen spezialisierter, bodenunabhängiger Betriebe mit Massentierhaltung, die vor allem mit billigen Futtermitteln aus dem Ausland betrieben wurden. Im Vordergrund standen die Schweine- und Geflügelzucht und grosse Betriebe mit Mastrindern. Es wurde im grossen Stil möglich, mehr Tiere zu halten, als der eigene Boden an Futter hergab. Diese unheilvolle Entwicklung war ein Produkt der euphorischen Stimmung in der damals stark boomenden Wirtschaft. Umwelt- und Tierschutz wurden vernachlässigt, weil fast jedes Wirtschaftsprojekt einen schnellen Gewinn versprach.
  Mit den Futtermitteln im Zusammenhang stand auch der spätere BSE-Skandal. Die weitverbreitete, unnatürliche Verfütterung von Tiermehl an Wiederkäuer wurde als Ursache von BSE erkannt, die beim Menschen zu einer Variante der Creutzfeld-Jakob-Krankheit und zum Tod führen kann. Dieser Schock beunruhigte die Bevölkerung stark und sensibilisierte sie zusätzlich für alle Fragen der Landwirtschaft.

Das Volk nimmt sich der Umweltfragen an

Bereits in den 1970er Jahren setzte sich die Überzeugung durch, dass die Landwirtschaftspolitik neu ausgerichtet werden müsse. Nicht nur die Überschüsse, sondern auch der Tierschutz und die akuten Fragen des Umwelt- und Gewässerschutzes beschäftigten die Bevölkerung stark. Die Bezeichnung «Tierfabrik» wurde bald zu einem politischen Kampfbegriff. Neben dem bisherigen «Milchsee» und dem «Butterberg» gab es nun auch «Fleischberge». Der Bundesrat versuchte, die ungesunde Entwicklung zu stoppen, indem er die billigen Futtermittel aus dem Ausland mit Zöllen massiv verteuerte. Dies erzürnte jedoch die Kleinbauern, die nur wenige Hektaren Boden besassen und mit dem billigen Futter aus dem Ausland besser über die Runden kamen. Die Situation war schwierig geworden.
  Es kam zu drei wegweisenden Volksabstimmungen: 1971 stimmte das Volk einem neuen Umweltschutzartikel in der Bundesverfassung mit über 90 Prozent der Stimmen zu. 1973 und 1975 folgten zwei weitere Abstimmungen über den Tierschutz und über den Schutz des Wassers und der Wasserkraft. Beide Vorlagen wurden ebenfalls mit sehr hoher Zustimmung in allen Kantonen angenommen.
   Moderne Kehrichtverbrennungsanlagen und Kläranlagen wurden überall im Land gebaut, so dass sich die Situation bald besserte. In vielen Gemeinden und Regionen bildeten sich Bürgerbewegungen, die sich für sozial- und umweltverträgliche Produktionsweisen einsetzten. Die SP und die bürgerlichen Parteien wurden grün. In zahlreichen Kantonen bildeten sich grüne Parteien, die sich 1987 zur Grünen Partei der Schweiz zusammenschlossen. Als sich die linken Progressiven Organisationen der Schweiz POCH in diesen Jahren allmählich auflösten, schlossen sich die meisten ihrer Aktivisten den Grünen an. Und – wen wundert’s – es kamen Jahre mit vielen Volksinitiativen und Referenden. Es sollte eine der intensivsten direktdemokratischen Auseinandersetzungen in der Geschichte des Bundesstaates werden. Nun aber schön der Reihe nach.

Einführung der Milchkontingentierung und das erste Referendum

Im Landwirtschaftsgesetz von 1952 hatte sich der Bund verpflichtet, die gesamte Milchmenge zu einem staatlich festgelegten Preis zu übernehmen. Als sich mehr und mehr Überschüsse abzeichneten, diskutierte das Parlament im März 1968, die Milchkontingentierung einzuführen, das heisst, die Milchmenge mit behördlichen Massnahmen zu begrenzen. 1971 berief der Bundesrat eine Expertenkommission mit den Professoren Hans Christoph Binswanger und Hans Popp ein. Diese untersuchten nicht nur die Frage der Milchkontingentierung, sondern sie prüften auch die Idee der Direktzahlung, um das Einkommen der Bauern zu sichern – losgelöst vom staatlich festgelegten Milchpreis. Dazu war die Zeit aber noch nicht reif.
  Als die Überschüsse weiter anstiegen, führte der Bundesrat 1977 notrechtlich die Milchkontingentierung ein, indem die Behörden für jeden einzelnen Bauern nach bestimmten Kriterien die Milchmenge berechneten, die er abliefern durfte.
  Ein ordentlicher Gesetzesbeschluss des Parlamentes folgte bald. Die «Union des Producteurs Suisse» ergriff zusammen mit weiteren bäuerlichen Komitees das Referendum. Das Volk folgte dem Protest aus der Landwirtschaft nicht und stimmte 1978 dem Gesetz mit 68 Prozent zu.

Erste Vorläuferin der heutigen Trinkwasser- und Pestizidinitiative

Eine nächste Volksinitiative liess nicht lange auf sich warten. Der «Zentralverband der Milchbauern» lancierte 1978 zusammen mit Tierschützern mit 165 000 Unterschriften die Initiative «Gegen übermässige Futtermittelimporte und Tierfabriken». Der vorgeschlagene Verfassungsartikel deckte sich weitgehend mit der Politik des Bundesrates, ging aber noch einen Schritt weiter: Die Initiative verlangte nämlich, dass der Bundesrat nicht nur die Einfuhr von importierten Futtermitteln limitierte, sondern auch für jeden einzelnen Bauernbetrieb die zulässige Menge bestimmte. Mit anderen Worten: Der Bund sollte die Futtermittel rationieren. Bundesrat und Parlament akzeptierten die Zielsetzung der Volksinitiative und bauten einzelne Punkte – allerdings ohne die «Futtermittelrationierung» – in das Landwirtschaftsgesetz ein. Zum Beispiel:
  Die Grosstierbestände sollten abgebaut und die Zahl der Tiere pro Hof begrenzt werden. Für den Neu- und Umbau von Ställen war eine Bewilligung notwendig. Die vorgesehenen Obergrenzen: 250 Stück grosses Mastvieh, 1000 Mastschweine, 1200 Legehennen usw. Das so revidierte Landwirtschaftsgesetz trat in Kraft, und der Zentralverband der Milchbauern zog seine Volks-initiative zurück. Er hatte damit Druck auf die Politik ausgeübt und sein Ziel mindestens teilweise erreicht.
  Das Referendum der «Union des Producteurs Suisse» und die Volksinitiative der Milchbauern waren der Auftakt zu einer ganzen Reihe von Referenden und Initiativen aus dem Volk und von Gegenvorschlägen aus dem Parlament. Dabei wird deutlich, dass eine Abstimmung in der direkten Demokratie nicht einfach ja oder nein zu sagen bedeutet, sondern dass die Ausübung der Volksrechte den Gesetzgebungsprozess in Gang setzt und dem Parlament eine Orientierung geben kann, so dass es manchmal gar nicht zu einer Abstimmung kommt.

«Gnue Heu dune» – nächste Vorläuferin in den achtziger Jahren

1980 gründeten einige Bauern die «Vereinigung zum Schutz der kleinen und mittleren Bauern» VKMB und wählten den charismatischen René Hochuli zu ihrem Präsidenten. Sie waren mit der Gesetzesrevision nicht einverstanden und führten den Kampf gegen «bodenunabhängige Fleischfabriken und Massenproduktionsbetriebe» weiter. Sie lancierten 1985 die Volksinitiative «Für eine echte bäuerliche Landwirtschaft». «Gnue Heu dune» und «Wir wollen Bauern bleiben!» waren ihre Parolen. Sie vertraten traditionelle Familienbetriebe, die mit Futter vom eigenen Hof arbeiteten. Nur solche Bauernhöfe sollten den vollen Agrarschutz geniessen, war ihre Botschaft. Tierfabriken, Massenbetriebe und ähnliches seien dagegen nicht schützenswert (Forderungen, die auch heute erhoben werden). Der Bundesrat beantragte Ablehnung der Initiative ohne Gegenvorschlag mit der Begründung, dass ihr Anliegen zum Teil berechtigt sei. Die Initiative schiesse jedoch über das Ziel hinaus, und das Parlament habe bereits Massnahmen beschlossen.
  Am 24. Juni 1989 kam es zur Abstimmung. Im Vorfeld gingen die Wogen hoch. Kurz vor dem Urnengang trat der Kleinbauernverband aus dem Schweizerischen Bauernverband SBV aus, weil dieser ihre Initiative nicht unterstützte. Damit spaltete sich die Bauernschaft in zwei Lager – eine Trennung, die sich bis heute auswirkt. Die Spannung war gross, als sich zeigte, dass die mutige Aktion der kleinen und mittleren Bauern in der Bevölkerung auf Sympathien stiess. Das knappe Resultat überraschte: Die Initiative wurde mit knappen 51 Prozent der Stimmen abgelehnt. Eine deutliche Mehrheit der Kantone lehnte jedoch ab. Das war trotz der Niederlage ein Grosserfolg für die kleinen und mittleren Bauern, und es war ein deutlicher Fingerzeig an die Behörden.
  In diesen Jahren wurden zwei Initiativen aus dem Umweltbereich vom Volk angenommen: die Initiative zum Schutz der Hochmoore (1987) und etwas später (1994) die Initiative zum Schutz der Alpen vor übermässigem Transitverkehr. Beide waren nicht von Parteien, sondern von Bürgerbewegungen eingereicht worden, und beide sollten die Politik wesentlich beeinflussen.

Expertenbericht: Paradigmenwechsel zu den Direktzahlungen

Inzwischen hatte der Bundesrat eine zweite Expertenkommission unter Vorsitz von Professor Hans Popp zum Thema Direktzahlungen eingesetzt. Diese legte 1992 einen Bericht vor: Die Bauern könnten nicht mehr wie bisher mit weiter steigenden Preisen rechnen, hiess es darin. Der vom Bund festgelegte Milchpreis war von 1980 bis 1990 – als Ausgleich der Inflation und im Rahmen des Paritätslohns – von 80 Rappen auf über 1,10 Franken angestiegen (heute: um 65 Rappen). Der Abbau des Grenzschutzes im Rahmen der kommenden WTO und die erwartete Annäherung an die EU würden – so Hans Popp – künftig zu sinkenden Preisen führen. Die Einkommenseinbussen könnten jedoch mit Direktzahlungen ausgeglichen werden, die preisunabhängig seien und sich nach Fläche, Anzahl der Tiere oder nach Kriterien wie Integrierter Produktion IP oder Bio richteten. «Multifunktional» solle die Landwirtschaft künftig werden. Das heisst, sie sollte einen Beitrag leisten zur sicheren Versorgung der Bevölkerung, zum Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, zur Pflege der Kulturlandschaft sowie zur dezentralen Besiedelung des Landes. Die gemeinwirtschaftlichen Leistungen sollten nicht mehr in erster Linie über die Preise, sondern über Direktzahlungen abgegolten werden.
  Dieser revolutionäre Ansatz sollte in einen neuen Verfassungsartikel einfliessen.

Weitere Debatten und Volksabstimmungen im Vorfeld des neuen Verfassungsartikels von 1996

Nach dem Austritt der Kleinbauern aus dem Dachverband versuchte der Schweizerische Bauernverband SBV, aus der Defensive herauszukommen. Er lancierte bereits 1989 die Volksinitiative «Für eine umweltgerechte und leistungsfähige Landwirtschaft» und entwarf einen Vorschlag für einen neuen Verfassungsartikel. Die Bauern sammelten in relativ kurzer Zeit über 260 000 Unterschriften. Das Parlament nahm das Anliegen des SBV auf und reagierte zweigleisig: Einerseits entwarf es einen eigenen Gegenvorschlag für den neuen Verfassungsartikel. Andererseits baute es das Hauptanliegen der Initianten in die laufende Reform des Landwirtschaftsgesetzes ein. Der SBV war zufrieden und zog seine Volksinitiative zurück.
  In der ersten Hälfte der neunziger Jahre wurden zwei weitere Volksinitiativen für einen neuen Verfassungsartikel eingereicht: einerseits (1990) vom Komitee aus WWF Schweiz und Grüner Partei («Bauern und Konsumenten – für eine naturnahe Landwirtschaft») und andererseits (1993) vom Komitee «Gnue Heu dune» (Kleinbauern), das in seinem Vorschlag die Interessen der Familienbetriebe stärker schützen wollte.
  Am 12. März 1995 kamen drei Vorlagen zur Landwirtschaft zur Abstimmung: der Gegenvorschlag des Parlaments zur zurückgezogenen Volksinitiative des Schweizerischen Bauernverbandes und zwei Referenden zu Fragen der Milchkontingentierung und zur Finanzierung gemeinschaftlicher landwirtschaftlicher Werbeaktionen (die die Vereinigung zum Schutz der kleinen und mittleren Bauern nicht mittragen wollte).
  Der Souverän sagte dreimal nein. Das Unbehagen gegenüber der offiziellen Landwirtschaftspolitik hatte sich verstärkt. Das mag zusammenhängen mit dem damaligen BSE-Skandal, der im Hintergrund schwelte.
  Der 12. März 1995 war jedoch noch nicht das Ende der Debatte. In der Schublade des Bundesrates wartete die Initiative des WWF Schweiz und der Grünen Partei auf die Abstimmung. Auch sie legte einen Vorschlag für einen neuen Verfassungsartikel vor.

1996: Ja zum Landwirtschaftsartikel 31 okties (Art 104 der heutigen Bundesverfassung vom 18. April 1999)

Die Räte des National- und des Ständerates gingen wie folgt vor: Sie arbeiteten zuerst einen Gegenvorschlag zur vorliegenden Volksinitiative des WWF Schweiz und der Grünen aus. Dabei gingen sie von dem von ihnen selbst erarbeiteten Vorschlag aus, der am 12. März 1995 vom Volk abgelehnt worden war. Sie verbesserten diesen Entwurf so überzeugend, dass der WWF Schweiz und die Grüne Partei ihre Initiative zurückzogen, so dass der Vorschlag des Parlaments allein zur Abstimmung kam. Das Resultat überraschte – diesmal positiv: Das Volk und alle Kantone sagten am 9. Juni 1996 mit fast 78 Prozent der Stimmen sehr deutlich ja. Die Erleichterung in Bundesbern war gross. Die Serie von Nein-Abstimmungen im Agrarbereich hatte ein Ende gefunden. Der Abstimmungstext vom 9. Juni 1996 steht als Art. 104 in der heutigen Bundesverfassung.
  Die Stimmvolk hat bereits damals dem Absatz 3 d. zugestimmt, der besagt: «Er [der Bund] schützt die Umwelt vor Beeinträchtigung durch überhöhten Einsatz von Düngstoffen, Chemikalien und anderen Hilfsstoffen.»

Erfolg auch aus demokratischer Sicht

Der neue Verfassungsartikel ist in einem mehrjährigen, anspruchsvollen Zusammenspiel entstanden – vom Volk, dem Parlament mit den zuständigen Kommissionen und dem Bundesrat mit dem zuständigen Bundesamt. Bäuerinnen und Bauern mit ihren Verbänden, einzelne aktive Bürger und Bürgerbewegungen, mehrere Initiativkomitees, Parteien und diverse NGO wie der WWF Schweiz haben dazu beigetragen.
  Wer aus staatspolitischer Sicht das Resultat betrachtet, ist beeindruckt und kommt zum Schluss, dass die direkte Demokratie die Bevölkerung im hohen Masse für die Politik und die Fragen der Landwirtschaft sensibilisiert hat. Breiter kann die Politik wohl gar nicht abgestützt sein. Die direkte Demokratie hat den Test bestanden und so zur politischen Stabilität und zum Zusammenhalt beigetragen.

Die Debatte über die Ziele der Direktzahlungen beginnt

Zwei Jahre später (1998) kam auch noch die Volksinitiative «Für preisgünstige Nahrungsmittel und ökologische Bauernhöfe» der kleinen und mittleren Bauern (VKMB) zur Abstimmung, die sie bereits 1993 eingereicht hatten. Die Kleinbauern eröffneten die Debatte um die Ausgestaltung der neu eingeführten Direktzahlungen. Nur echte Bauernbetriebe – vor allem Familienbetriebe – sollten den vollen Agrarschutz geniessen. Dazu müssten die Direktzahlungen nach oben begrenzt werden: «Bäuerinnen und Bauern produzieren naturnah und tierfreundlich. Wenn sie diese Bedingung erfüllen, haben sie zur Abgeltung ihrer Leistung Anspruch auf Direktzahlungen, soweit diese zur Erreichung eines angemessenen Einkommens erforderlich sind. Die Direktzahlungen dürften jedoch maximal 50 000 Franken pro Betrieb nicht überschreiten.»
  Für grosse Betriebe wäre dies eindeutig zu wenig gewesen. Die Ausgangslage für diese Volksabstimmung war jedoch für die Initianten ungünstig, hatte doch der Souverän kurz zuvor dem neuen Landwirtschaftsartikel mit grossem Mehr zugestimmt. Die Diskussion über die Ausgestaltung der Direktzahlungen war verfrüht. Dazu mussten erst noch Erfahrungen gesammelt werden. Die Initiative der Kleinbauern wurde deshalb am 27. September 1998 mit 77 Prozent Nein-Stimmen und von allen Kantonen klar abgelehnt.

Zum System der Direktzahlungen

Der Bund gibt heute jedes Jahr etwa 4,5 Milliarden Franken für die Landwirtschaft aus. Während früher etwa zwei Drittel für die Stützung der Preise verwendet wurden, sind es heute noch etwa 20 Prozent. Im Gegenzug stiegen die Ausgaben des Bundes für Direktzahlungen auf über 75 Prozent.
  Die Direktzahlungen werden heute nach ganz verschiedenen Kriterien ausgerichtet: Nach der Fläche und nach der Zahl der Tiere, die mit Gras oder Heu gefüttert werden. Es gibt besondere Beiträge für Bergbauern, die in schwierigem Gelände wirtschaften, ebenso für naturnahe, umwelt- oder besonders tierfreundliche Produktionsweisen.
  Je nach der Ausgestaltung der Direktzahlungen lässt sich die Entwicklung der Landwirtschaft steuern. Dies war die Ausgangslage für weitere Volksinitiativen und für die beiden Initiativen, die am 13. Juni 2021 zur Abstimmung kommen. Vorerst stand damals jedoch die Frage der Gentechnologie im Vordergrund: Agro-Multis gaben bekannt, sie würden Nutzpflanzen gentechnisch so verändern, dass der Einsatz von Pestiziden weitgehend unnötig würde – ein Argument, das sie auch heute einbringen. Es kam Widerstand.

Gentechfreie Landwirtschaft

2003 lancierte ein Komitee, bestehend aus Bauern, Umwelt- und Konsumentenschützern, eine Volksinitiative «Für Lebensmittel aus gentechfreier Landwirtschaft». Sie wollte eigentlich ein Verbot. Da dies wegen der WTO rechtlich nicht möglich war, schrieb sie vor, dass die schweizerische Landwirtschaft für die Dauer von fünf Jahren nach Annahme des Artikels gentechfrei bleiben müsse (Moratorium). Der Forschungsbereich wurde vom Verbot ausgenommen.
  Der Bundesrat lehnte die Initiative ab. Im Parlament war sie umstritten. Der Ständerat lehnte sie mit 32 zu 5 Stimmen deutlich ab. Im Nationalrat jedoch kam es zur Stimmengleichheit, so dass die Ratspräsidentin mit ihrer Stimme für Ablehnung entschied. Das Volk sah dies anders und stimmte am 27. November 2005 mit einem klaren Mehr zu. Das Gentech-Moratorium steht seither in den Übergangsbestimmungen der Verfassung und im Gesetz und ist vom Parlament mehrmals verlängert worden – bis 2021.

Fair-Food, Ernährungssicherheit, Ernährungssouveränität

Im Jahr 2018 kamen zwei Volksinitiativen und ein Gegenvorschlag des Parlaments zur Abstimmung. Der Schweizerische Bauernverband SBV verfolgte mit seiner Initiative das Ziel, den sinkenden Selbstversorgungsgrad zu stabilisieren. Das Parlament arbeitete einen Gegenvorschlag aus – etwas zurückhaltender. Der SBV zog die Initiative zurück, und der Gegenvorschlag des Parlaments wurde in der Volksabstimmung mit relativ grossem Mehr angenommen. Die Initiative der Bauerngewerkschaft Uniterre verfolgte einen ganzheitlichen Ansatz, der das Leben auf dem Hof umfasste, wie zum Beispiel die soziale Absicherung der Bäuerin und ähnliches. Ein umfangreicher, detaillierter Forderungskatalog sollte die Ernährungssouveränität gewährleisten. Die Initiative wurde vom Souverän relativ deutlich abgelehnt.
  Die Fair-Food-Initiative der Grünen verlangte, dass der Bund Lebensmittel aus einer naturnahen und tierfreundlichen Landwirtschaft mit fairen Arbeitsbedingungen fördert. Die strengen Vorschriften sollten, ähnlich wie bei der heutigen Pestizidinitiative, auch für Importe gelten. Auch sie wurde vom Souverän abgelehnt.

März 2021: Parlament beschliesst Gesetz zur Reduktion von Pestiziden und Düngemitteln

Die Schweizer Landwirtschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert: Mehr Bio, mehr IP-Suisse, weniger chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel, strenge Vorschriften für die Tierhaltung, sinkende Kuh- und Schweinebestände, Biodiversität, mehr Konsumentennähe. Dank der direkten Demokratie haben wir heute in der Schweiz ein hohes Niveau im Umweltbereich und im Tierschutz – höher als zum Beispiel in der EU. Die Konzepte der Trinkwasser- und der Pestizidinitiative fügen sich ein in die Tradition der stark vom Volk geprägten Landwirtschaftspolitik der letzten sechzig Jahre.
  National- und Ständerat haben – wie früher oft – die beiden Initiativen nicht einfach abgelehnt, sondern in der Frühjahrssession 2021 ein «Gesetz für weniger Risiken durch Pestizide» beschlossen, mit dem das Chemikaliengesetz, das Gewässerschutzgesetz und das Landwirtschaftsgesetz geändert werden (Bundesgesetz vom 19.3.2021). Vorgeschrieben wird neu, dass die mit dem Einsatz von Pflanzenschutzmitteln verbundenen Risiken für Flüsse und Seen, naturnahe Lebensräume und als Trinkwasser genutztes Grundwasser bis 2027 um 50 Prozent reduziert werden sollen. Zudem müssen Düngemittel (Stickstoff und Phosphor) bis 2030 «angemessen reduziert» werden. Gegen dieses Gesetz ist kein Referendum geplant. Gemäss Medienmitteilung vom 18.3.2021 sollen seine Bestimmungen «den zwei Volksbegehren Wind aus den Segeln nehmen». Denn die Schweiz erhält damit das weltweit schärfste Pestizidgesetz.
  Am 13. Juni wird – wie schon so oft – der Souverän darüber entscheiden, ob es gar zu einem gänzlichen Verbot von Pestiziden kommen soll. Das anspruchsvolle Thema der Belastung von Gesundheit und Umwelt durch chemisch-synthetische Stoffe wird auf jeden Fall im Fokus bleiben – auch dank der direkten Demokratie, wie wir sie in der Schweiz leben.  •

Quellen:

  • Linder, Wolf u.a. Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848–2007. Bern 2010
  • Popp, Hans. Das Jahrhundert der Agrarrevolution. Schweizerische Landwirtschaft und Agrarpolitik im 20. Jahrhundert. Bern 2000
  • Wüthrich, Werner. Wirtschaft und direkte Demokratie in der Schweiz; Geschichte der freiheitlich-demokratischen Wirtschaftsverfassung der Schweiz. Zürich 2020

Was heute schon gilt: Hohe Latte für Bauern, die Geld vom Bund wollen

zf. Wer Direktzahlungen beansprucht, muss laut dem Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) «die Anforderungen des ökologischen Leistungsnachweises (ÖLN) auf dem gesamten Betrieb erfüll(en)» (Direktzahlungsverordnung; DZV Art. 11).

«Der ökologische Leistungsnachweis umfasst:

  1. die Haltung der Nutztiere nach Tierschutzgesetzgebung (DZV Art. 12)
  2. eine ausgeglichene Düngerbilanz (DZV Art. 13) [unter anderem ist «die Zahl der Nutztiere dem Standort anzupassen»]
  3. Bodenuntersuchungen (DZV Art. 13) [auf den einzelnen Parzellen, «zur Optimierung der Düngerverteilung»]
  4. einen angemessenen Anteil an Biodiversitätsförderflächen (DZV Art. 14) [3,5 bis 7 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche]
  5. die vorschriftsgemässe Bewirtschaftung von Objekten in Inventaren von nationaler Bedeutung (Art. 15) [zum Beispiel Flachmoore oder Amphibienlaichgebiete]
  6. eine geregelte Fruchtfolge (DZV Art. 16)
  7. einen geeigneten Bodenschutz (DZV Art. 17) [«Anforderungen an die Bodenbedeckung und den Erosionsschutz»]
  8. die gezielte Auswahl und Anwendung der Pflanzenschutzmittel (DZV Art. 18)» [zum Beispiel «unbehandelte Kontrollfenster» bei Fungiziden im Raps]
  9. Vorgaben betreffend Saat- und Pflanzengut (DZV Art. 19)
  10. Vorgaben betreffend Spezialkulturen (Art. 20)
  11. Vorgaben betreffend Pufferstreifen (Art. 21)»

(https://www.blw.admin.ch/blw/de/home/instrumente/direktzahlungen/oekologischer-leistungsnachweis.html)

Im heute geltenden ökologischen Leistungsnachweis sind also wesentliche Punkte der beiden Volksinitiativen bereits enthalten. Jedenfalls sind die Direktzahlungen des Bundes keineswegs leicht verdientes Geld für die Schweizer Bauern.

 

Landwirtschaftsartikel in der Bundesverfassung, angenommen in der Volksabstimmung vom 9. Juni 1996

(entspricht wörtlich dem heutigen Artikel 104 BV)

BV Art. 31octies 42

  1. Der Bund sorgt dafür, dass die Landwirtschaft durch eine nachhaltige und auf den Markt ausgerichtete Produktion einen wesentlichen Beitrag leistet zur:
    1. sicheren Versorgung der Bevölkerung;
    2. Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und Pflege der Kulturlandschaft;
    3. dezentralen Besiedlung des Landes.
  2. Ergänzend zur zumutbaren Selbsthilfe der Landwirtschaft und nötigenfalls abweichend von der Handels- und Gewerbefreiheit fördert der Bund die bodenbewirtschaftenden bäuerlichen Betriebe.
  3. Er richtet die Massnahmen so aus, dass die Landwirtschaft ihre multifunktionalen Aufgaben erfüllt. Er hat insbesondere folgende Befugnisse und Aufgaben:
    1. Er ergänzt das bäuerliche Einkommen durch Direktzahlungen zur Erzielung eines angemessenen Entgelts für die erbrachten Leistungen, unter der Voraussetzung eines ökologischen Leistungsnachweises.
    2. Er fördert mit wirtschaftlich lohnenden Anreizen Produktionsformen, die besondersn naturnah, umwelt- und tierfreundlich sind.
    3. Er erlässt Vorschriften zur Deklaration von Herkunft, Qualität, Produktionsmethode und Verarbeitungsverfahren für Lebensmittel.
    4. Er schützt die Umwelt vor Beeinträchtigungen durch überhöhten Einsatz von Düngstoffen, Chemikalien und anderen Hilfsstoffen.
    5. Er kann die landwirtschaftliche Forschung, Beratung und Ausbildung fördern sowie Investitionshilfen leisten.
    6. Er kann Vorschriften zur Festigung des bäuerlichen Grundbesitzes erlassen.
  4. Er setzt dafür zweckgebundene Mittel aus dem Bereich der Landwirtschaft und allgemeine Bundesmittel ein.

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