Kommt es zu einer Renaissance der EFTA?

Wie weiter nach dem Abbruch der Verhandlungen über den Rahmenvertrag?

von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich

Die Geschichte wiederholt sich nicht. Aber es gibt Parallelen, deren Kenntnis hilfreich ist und die heute Anregungen und Antworten zur Frage «Wie weiter?» geben können.

In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre wurden in Europa zwei ganz unterschiedliche Wirtschaftsorganisationen gegründet. 1957 gründeten die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG. Die Präambel ihrer Statuten enthielt bereits damals das politische Ziel, längerfristig eine «immer engere Union» zu bilden. 1960 schlossen sich Grossbritannien, Dänemark, Österreich, Schweden, Norwegen, Portugal und die Schweiz zur EFTA zusammen (European Free Trade Association). Diese Länder setzten sich das Ziel, die Zölle im Industriebereich abzubauen und auf eine freiheitliche Art miteinander zu kooperieren – im Unterschied zur EWG ohne politischen Überbau. Westeuropa war gespalten. Die Chancen standen jedoch gut, dass die beiden unterschiedlichen Organisationen die Zölle im Gleichschritt abbauen und eine grosse, gemeinsame Freihandelszone bilden. – Es sollte anders kommen.

Die USA geben den Tarif durch

Schon bald nach der Gründung teilte Grossbritannien seinen Vertragspartnern mit, aus der EFTA austreten zu wollen, um der EWG beizutreten. Was hat die Regierung in London bewogen, ihren politischen Kurs derart radikal zu ändern? Es gibt Dokumente, die Aufschluss über die Hintergründe geben. Zum Beispiel: Am 14. Juli 1961 besuchte der US-Staatsekretär George Ball den Bundesrat. Minister Albert Weitnauer war beim Gespräch dabei und fasste es in einer Aktennotiz zusammen, die heute über dodis.ch (historische Dokumentensammlung) abgerufen werden kann. Daraus folgende Passage: «Die Amerikaner erachten Verhandlungen zwischen der EWG und der EFTA als Gruppe im Hinblick auf eine rein wirtschaftliche Vereinbarung als nicht wünschenswert und im übrigen von vornherein aussichtslos. Für sie handelt es sich in erster Linie darum, dass Grossbritannien und die übrigen Nato-Alliierten in der EFTA durch einen Beitritt zur EWG deren politische Zielsetzung unterschreiben» (dodis.ch/30116, S. 2). Die politische Union sollte sich weitgehend mit der Nato decken. Die neutralen Länder in der EFTA, die Schweiz, Österreich und Schweden, würden einen Assoziationsvertrag mit der EWG abschliessen. Im Bundeshaus begannen die Vorbereitungen mit zahlreichen Arbeitsgruppen (dodis.ch/30134, 34186). Das wäre wohl das Ende der EFTA gewesen.

Veto von Charles de Gaulle

Es kam nicht dazu. Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle legte im Januar 1963 sein Veto gegen den Beitritt von Grossbritannien ein, und das von den USA angestossene Projekt wurde auf Eis gelegt. Was hat de Gaulle zu diesem Schritt bewogen? Er strebte eine engere Beziehung zu Deutschland an. Am 22. Januar 1963 schloss Frankreich mit der Bundesrepublik Deutschland den Elyséevertrag ab (Abkommen über die deutsch-französische Zusammenarbeit). Dieser Vertrag sollte die Politik der beiden Länder bis heute bestimmen. De Gaulle befürchtete, dass mit dem Beitritt Grossbritanniens der anglo-amerikanische Einfluss in der EWG/Nato noch dominanter und Europa noch stärker abhängig werde. Wenig später – im Juli 1963 – berichtete Minister Paul Jolles, der Leiter des Integrationsbüros, dem Bundesrat über sein Gespräch mit dem Leiter des Policy Planning Board im amerikanischen Staatsdepartement: «Mein Gesprächspartner vertritt vorbehaltlos die bekannte amerikanische Auffassung, dass das Nationalstaatentum in Europa historisch überholt sei und eine politische Einigung unvermeidlich erscheine, falls Europa in der Weltpolitik weiterhin eine Rolle spielen wolle. Der französische Staatspräsident de Gaulle wird als Einzelerscheinung betrachtet. […] Das Gespräch hinterliess bei mir den Eindruck, dass man im braintrust des Staatsdepartements mit Bezug auf Europa den Boden unter den Füssen verloren hat.» (dodis.ch/30356)
  Bundesrat Schaffner äusserte sich später dazu: De Gaulle befürworte eine gleichberechtigte Partnerschaft zwischen Europa und den Vereinigten Staaten – und nicht «une Europe intégrée, donc diminué» [ein integriertes und daher geschwächtes Europa] (dodis.ch/30358).

Die EFTA besteht weiter

Für die EFTA war de Gaulle ein Glücksfall. Sein Veto brachte ihr eine Atempause und die nötige Ruhe, um sich aufzubauen – und zwar immer mit einem Blick auf die EWG. Die EWG-Länder bauten in mehreren Schritten die Zölle ab – und die EFTA-Länder zogen im Gleichschritt nach, so dass nach einigen Jahren relativ einfach ein gemeinsamer Freihandelsvertrag vorerst im Industriebereich zwischen den Ländern der EWG und der EFTA abgeschlossen werden konnte – ein Projekt, das die Amerikaner zehn Jahre zuvor noch verhindert hatten.

Freihandelsvertrag von 1972

Bundespräsident Brugger hielt anlässlich der Unterzeichnung des Freihandelsvertrages am 22. Juli 1972 eine eindrückliche Rede, in der er die Grundwerte der Schweiz und die Leitlinien für das künftige Verhältnis der Schweiz zur Gemeinschaft festlegte:
  «Das Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Gemeinschaft, das im Namen des Bundesrates ich heute zu unterzeichnen die Ehre habe, stellt einen entscheidenden Schritt in unserem traditionellen Bemühen dar, an der Integration unseres Kontinents mitzuarbeiten, soweit wir hierzu unter Wahrung der direkten Demokratie, der parlamentarischen Befugnisse und der neutralen Aussenpolitik in der Lage sind.» (dodis.ch/36209)
  1974 – nach dem Tod von Charles de Gaulle – trat Grossbritannien der EG bei, und später folgten weitere EFTA-Mitglieder.
  Das Schweizer Parlament legte am 3. Dezember 1972 den Freihandelsvertrag dem Souverän vor, und er wurde mit einer Mehrheit von 72,5 Prozent und von allen Kantonen angenommen. Die Schweiz war geeint. In den Folgejahren hat die EFTA über hundert Zusatzverträge mit der EG und später der EU abgeschlossen. Der Warenaustausch und später auch der Austausch von Dienstleistungen vervielfachten sich. Inzwischen hat die EFTA gegen 40 massgeschneiderte Freihandelsverträge mit vielen Ländern auf der ganzen Welt abgeschlossen. Dazu gehören Länder wie China, Japan und vor kurzem nach einer Volksabstimmung Indonesien. Dazu kommen zahlreiche Handelsabkommen. Es ist eine Erfolgsgeschichte. Mit dem von den USA geforderten Assoziationsvertrag mit der EWG, wie er in den sechziger Jahren zur Debatte stand, wäre dies nicht möglich gewesen.

Was können wir daraus lernen?

Zusammenarbeit und Gespräche mit der EU von gleich zu gleich im Rahmen der bestehenden Verträge sind selbstverständlich. Die Schweiz und die EU gehören zu Europa. Beide sind aus vielerlei Gründen aufeinander angewiesen und können auf bewährte Art zusammenarbeiten. Was kann die Schweiz heute tun, ohne, wie Bundesrat Brugger ausgedrückt hat, die Eigenheiten des Landes in Gefahr zu bringen?
  Ganz ähnlich wie bereits in den sechziger Jahren können die schweizerischen Gesetze und Handelsvorschriften auf die heutige EU abgestimmt werden – soweit es notwendig und sinnvoll ist –, auch autonom ohne Verhandlungen. Dieses Vorgehen hat sich auch in den Jahren nach dem Volks-Nein zum EWR 1992 bewährt. Die Kohäsionsmilliarde als Beitrag für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung von ärmeren Ländern gehört dazu. Sollte der Freihandelsvertrag einmal «modernisiert» werden, müssten die Bedingungen eingehalten werden, wie sie Bundesrat Brugger in seiner Rede von 1972 formuliert hat: Mitarbeit ja, «soweit wir hierzu unter Wahrung der direkten Demokratie, der parlamentarischen Befugnisse und der neutralen Aussenpolitik in der Lage sind.» Möglicherweise wird sich das inzwischen aus der EU ausgetretene EFTA-Gründungsmitglied Grossbritannien wieder dort einfinden, und es kommt zur Renaissance des bald fünfzigjährigen Vertragswerks.  •



Detaillierte Darstellung der Ereignisse in: Wüthrich, Werner. Wirtschaft und direkte Demokratie in der Schweiz; Geschichte der freiheitlich-demokratischen Wirtschaftsverfassung der Schweiz, Zürich 2020, vgl. Kapitel 24, S. 293–318

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